Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Sibirien
Sibiri|en(russ. Sibir), Landschaftsraum in N-Asien, umfasst den größten Teil des asiat. Territoriums von Russland und reicht im SW bis in den N von Kasachstan, etwa 10 Mio. km2 und 24,3 Mio. Ew.; erstreckt sich vom Ural im W bis zu den Gebirgen der pazif. Wasserscheide im O (7 000 km) und von der Küste des Nordpolarmeers im N zur Kasach. Schwelle und den S-Hängen der südsibir. Gebirge an den Grenzen zur Mongolei und zu China im S (3 500 km).S. gliedert sich in mehrere Großlandschaften. Zw. Ural und Jenissei breitet sich das Westsibir. Tiefland aus, dem sich nach O zw. Jenissei und Lena das Mittelsibir. Bergland anschließt. Zw. ihm und dem Byrrangagebirge auf der Halbinsel Taimyr liegt das Nordsibir. Tiefland. Östlich der Lena erstreckt sich das bis 3 147 m ü. M. aufragende Nordsibir. Gebirgsland. Im N schließen vermoorte, von Seen durchsetzte Aufschüttungsebenen (Jana-Indigirka-Tiefebene, Kolymatiefebene) an. Die Gebirge Süd-S.s bilden mit Altai, Sajangebirge, Tannu-Ola, Tuwabergland und den Bergländern Baikaliens und Transbaikaliens eine hohe Barriere, die S. von Zentralasien trennt. S. wird von Ob (mit Irtysch), Jenissei (mit Angara), Lena, Aldan, Kolyma und Indigirka durchflossen, die in das Nordpolarmeer münden. Sie sind im S fünf, im N acht Monate zugefroren. - Das Klima gehört zur gemäßigten und zur subpolaren Klimazone. Charakteristisch ist eine extreme Kontinentalität, die sich von W nach O verstärkt. Die mittlere Jahrestemperatur liegt nahezu in ganz S. unter 0 ºC, im NO sogar bei —18 ºC, wobei sich die Temperaturmittel der wärmsten und kältesten Monate um 35-68 Grade unterscheiden. In Werchojansk und Oimjakon fallen die Temperaturen bis —70 ºC (Kältepole). Dauerfrostböden (etwa 200-500 m mächtig) sind in ganz Ost-S. sowie in West-S. nördlich des 62. Breitengrades verbreitet (etwa 6 Mio. km2). - Die Vegetationszonen verlaufen annähernd breitenparallel. Von N nach S folgen Tundra, Taiga, Waldsteppe und Steppe. Östlich des Altai treten Waldsteppe und Steppe nur noch inselhaft auf; der vorherrschende Baum ist die Dahur. Lärche. Am Amur und am Ussuri kommen infolge des Monsuneinflusses Mischwälder vor. - Die Bevölkerung ist äußerst ungleichmäßig verteilt (90 % konzentrieren sich auf 10 % der Fläche): Am dichtesten ist der Süden von West-S. entlang der Transsibir. Eisenbahn und ihren Zweigstrecken besiedelt. Zwei Drittel der Bev. (Sibirier) wohnen in Städten, deren größte Nowosibirsk, Omsk, Krasnojarsk, Irkutsk, Barnaul und Nowokusnezk sind.Wirtschaft: Nach 1945, bes. aber nach 1971 wurde S. intensiv erschlossen. Die Ausbeutung der Naturschätze in großem Maßstab führte zu beträchtl. Umweltschäden. Hauptwirtschaftszweig ist die Förderung fossiler Brennstoffe (Erdöl und -gas in West-S., Kohle im Kusnezker Steinkohlenbecken, im Kansk-Atschinsker, Irkutsker und Südjakut. Kohlenbecken) und ihre Verarbeitung in der petrochem. Ind. (u. a. in Tomsk) und in Wärmekraftwerken zur Gewinnung elektr. Energie. Diese - ergänzt durch Strom aus den Wasserkraftwerken (v. a. an Angara, Jenissei, Kolyma, Ob) - bilden zus. mit den reichen Erzvorkommen die Grundlage für die Eisen- (Kusnezk), Bunt- (Norilsk) und Leichtmetallurgie (Schelechow, südlich von Irkutsk, Bratsk, Krasnojarsk) sowie für den Maschinenbau. Dazu kommen die Holz- sowie in den Ballungsgebieten der Bev. die Nahrungsmittel- und Konsumgüterindustrie. Die ungünstigen natürl. Verhältnisse lassen nur im S in größerem Umfang Ackerbau und Viehzucht zu. In Nord-S. ist die Rentierhaltung sowie die Pelztierzucht und -jagd entwickelt. - Neben der Transsibir. Eisenbahn sind die Baikal-Amur-Magistrale (BAM) sowie die Süd-, Mittel- und Nordsibir. Eisenbahn die wichtigsten Verkehrswege. Weite Gebiete sind nur auf dem Luftweg erreichbar. Die durch den langen Eisgang behinderte Schifffahrt auf Ob, Jenissei und Lena verbindet einige Wirtschaftsgebiete Süd-S. mit dem Seeverkehr auf der Nordostpassage; Seehäfen haben Dikson, Dudinka und Igarka. Von den Erdöl- und Erdgasfördergebieten führen Pipelines zu den Verarbeitungs- und Verbrauchszentren im Ural, in Kasachstan, im europ. Teil Russlands sowie in mehreren europ. Staaten.Geschichte: Altsteinzeitl. Fundstätten im Hochaltai und am Amur zeigen die frühesten Spuren menschl. Besiedlung in S. Die nördlichste Grabungsstelle liegt am Fluss Berelech bei etwa 71º nördl. Breite. Durch Radiokarbonmessungen wurden die Funde in die Zeit zw. 33000 und 8000 v. Chr. datiert. Die jungsteinzeitl. Funde lassen mehrere regionale Gruppen erkennen; aufschlussreich sind die Funde des Baikalgebietes. In der Bronzezeit wurde S. bis zu den Ufern des Nordpolarmeeres besiedelt. Im 2./1. Jt. v. Chr. erlebte S. durch die Steppenbauern der Andronowo- und der Karassukkultur eine Blüte der Bronzeverarbeitung. Seit dem 7. Jh. v. Chr. übernahmen die Skythen (Altaiskythen) die Herrschaft über die westl. Teile der sibir. Reitervölker. Seit dem 3. Jh. v. Chr. gehörte Süd-S. zum Einflussbereich der Hunnen. Ab dem 6. Jh. n. Chr. siedelten in einigen Gebieten von S. Turkvölker.
Im 13. Jh. wurde S. mit Ausnahme des N von den Mongolen unterworfen; West-S. gehörte zur Goldenen Horde, nach deren Zerfall sich im 15. Jh. das Khanat Sibir bildete. Schon im 11./12. Jh. geriet Nordwest-S. (»Jugra«) in den Einflussbereich Nowgorods. Im Auftrag der Kaufmannsfamilie Stroganow drang 1581 (oder schon 1579) von der Kama aus eine Kosakenabteilung unter Jermak Timofejewitsch bis zum Irtysch vor und eroberte das Khanat Sibir (Einnahme der Hptst. Isker 1582). 1586 wurde Tjumen als erste russ. Stadt in S. gegr.; 1604 entstand Tomsk. Im 17. Jh. folgten Kosaken und »Dienstleute« des Zaren den großen Flusssystemen; 1639 war das Ochotsk. Meer erreicht, um 1644/45 die Amurmündung. In Ost-S. entstanden u. a. die Stützpunkte Jenisseisk (1619), Krasnojarsk (1628), Jakutsk (1632) und Irkutsk (1652/61). Die einheim., kulturell und ethnisch sehr unterschiedl. Bev. (Mitte des 17. Jh. rd. 200 000 Menschen) wurde zur Entrichtung von Steuern (»Jasak«, zumeist in Form von Fellen) gezwungen. Nachdem China im Vertrag von Nertschinsk (1689) den Verzicht Russlands auf das Amurgebiet erreicht hatte, musste es 1858/60 alle Ansprüche auf die Gebiete an Amur und Ussuri aufgeben. S. wurde zunächst direkt von Moskau aus verwaltet; erst 1708 wurde das Gouv. S. (Zentrum Tobolsk) errichtet. 1822 entstanden die Generalgouv. West-S. (Zentrum Tobolsk, seit 1839 Omsk) und Ost-S. (Irkutsk). Seit dem 18. Jh. gewann der Bergbau an Bedeutung (ab dem 19. Jh. bes. die Goldförderung). Im 18. und 19. Jh. wurden Verbrecher und polit. Gefangene, aber auch aufsässige Leibeigene von ihren Gutsherren nach S. deportiert. 1891 begann der Bau der Transsibir. Eisenbahn (1916 fertig gestellt), die einen schnellen Aufschwung ermöglichte. 1896-1914 gab es 4 Mio. Zuwanderer. 1896-1914 wurden etwa 4 Mio. Bauern aus Zentralrussland nach S. umgesiedelt. Im Bürgerkrieg beherrschte 1918/19 Admiral Koltschak West-S. (Reg.sitz Omsk). Als Pufferstaat zu dem 1918-22 von Japan besetzten Ost-S. existierte 1920-22 die »Fernöstl. Rep.«. Bis Dez. 1922 eroberte die Rote Armee ganz S. In den 1930er-Jahren entstand eine schwerindustrielle Basis (Kohle, Metallurgie; bes. Ural-Kusnezker Kombinat). Im Zweiten Weltkrieg verlagerte die sowjet. Reg. viele Ind.betriebe aus dem europ. Teil Russlands nach Sibirien. - Unter der Herrschaft Stalins, bes. während der Tschistka, wurden Zwangsarbeits- und Internierungslager in S. errichtet; 1947 gab es dort nach Angaben ehem. Häftlinge zw. 4 und 6 Mio. Verbannte und Kriegsgefangene. Die nach 1945 verstärkt betriebene wirtsch. Entwicklung ging einher mit einer weiteren verkehrstechn. Erschließung (u. a. Errichtung der BAM ab 1974), führte jedoch auch zur ökolog. Schädigung großer Gebiete.
▣ Literatur:
Thomas, L.: Geschichte S.s. Berlin 1982.
⃟ S., ein russ. u. sowjet. Entwicklungsproblem, hg. v. G. Leptin. Berlin 1986.
⃟ Schiffer, J. R.: Soviet regional economic policy. The East-West debate over Pacific Siberian development. New York 1989.
⃟ The history of Siberia. From Russian conquest to revolution, hg. v. A. Wood. London 1991.
Im 13. Jh. wurde S. mit Ausnahme des N von den Mongolen unterworfen; West-S. gehörte zur Goldenen Horde, nach deren Zerfall sich im 15. Jh. das Khanat Sibir bildete. Schon im 11./12. Jh. geriet Nordwest-S. (»Jugra«) in den Einflussbereich Nowgorods. Im Auftrag der Kaufmannsfamilie Stroganow drang 1581 (oder schon 1579) von der Kama aus eine Kosakenabteilung unter Jermak Timofejewitsch bis zum Irtysch vor und eroberte das Khanat Sibir (Einnahme der Hptst. Isker 1582). 1586 wurde Tjumen als erste russ. Stadt in S. gegr.; 1604 entstand Tomsk. Im 17. Jh. folgten Kosaken und »Dienstleute« des Zaren den großen Flusssystemen; 1639 war das Ochotsk. Meer erreicht, um 1644/45 die Amurmündung. In Ost-S. entstanden u. a. die Stützpunkte Jenisseisk (1619), Krasnojarsk (1628), Jakutsk (1632) und Irkutsk (1652/61). Die einheim., kulturell und ethnisch sehr unterschiedl. Bev. (Mitte des 17. Jh. rd. 200 000 Menschen) wurde zur Entrichtung von Steuern (»Jasak«, zumeist in Form von Fellen) gezwungen. Nachdem China im Vertrag von Nertschinsk (1689) den Verzicht Russlands auf das Amurgebiet erreicht hatte, musste es 1858/60 alle Ansprüche auf die Gebiete an Amur und Ussuri aufgeben. S. wurde zunächst direkt von Moskau aus verwaltet; erst 1708 wurde das Gouv. S. (Zentrum Tobolsk) errichtet. 1822 entstanden die Generalgouv. West-S. (Zentrum Tobolsk, seit 1839 Omsk) und Ost-S. (Irkutsk). Seit dem 18. Jh. gewann der Bergbau an Bedeutung (ab dem 19. Jh. bes. die Goldförderung). Im 18. und 19. Jh. wurden Verbrecher und polit. Gefangene, aber auch aufsässige Leibeigene von ihren Gutsherren nach S. deportiert. 1891 begann der Bau der Transsibir. Eisenbahn (1916 fertig gestellt), die einen schnellen Aufschwung ermöglichte. 1896-1914 gab es 4 Mio. Zuwanderer. 1896-1914 wurden etwa 4 Mio. Bauern aus Zentralrussland nach S. umgesiedelt. Im Bürgerkrieg beherrschte 1918/19 Admiral Koltschak West-S. (Reg.sitz Omsk). Als Pufferstaat zu dem 1918-22 von Japan besetzten Ost-S. existierte 1920-22 die »Fernöstl. Rep.«. Bis Dez. 1922 eroberte die Rote Armee ganz S. In den 1930er-Jahren entstand eine schwerindustrielle Basis (Kohle, Metallurgie; bes. Ural-Kusnezker Kombinat). Im Zweiten Weltkrieg verlagerte die sowjet. Reg. viele Ind.betriebe aus dem europ. Teil Russlands nach Sibirien. - Unter der Herrschaft Stalins, bes. während der Tschistka, wurden Zwangsarbeits- und Internierungslager in S. errichtet; 1947 gab es dort nach Angaben ehem. Häftlinge zw. 4 und 6 Mio. Verbannte und Kriegsgefangene. Die nach 1945 verstärkt betriebene wirtsch. Entwicklung ging einher mit einer weiteren verkehrstechn. Erschließung (u. a. Errichtung der BAM ab 1974), führte jedoch auch zur ökolog. Schädigung großer Gebiete.
▣ Literatur:
Thomas, L.: Geschichte S.s. Berlin 1982.
⃟ S., ein russ. u. sowjet. Entwicklungsproblem, hg. v. G. Leptin. Berlin 1986.
⃟ Schiffer, J. R.: Soviet regional economic policy. The East-West debate over Pacific Siberian development. New York 1989.
⃟ The history of Siberia. From Russian conquest to revolution, hg. v. A. Wood. London 1991.