Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Schwangerschaftsabbruch
Schwangerschaftsabbruch(Abtreibung, Abortus artificialis, Interruption, Interruptio graviditatis), gynäkolog. Eingriff zum Abbruch einer intakten Schwangerschaft. Der S. muss von einem Gynäkologen in einem Krankenhaus durchgeführt werden. Bis zum 3. Schwangerschaftsmonat kann ein Absaugen des Uterusinhalts oder eine Ausschabung durchgeführt werden. Nach diesem Zeitpunkt wird durch Einbringen von Prostaglandinen in den Gebärmutterhals innerhalb von 24 Stunden (höchstens 36 Stunden) eine Spontanausstoßung der Frucht ausgelöst. Ist dies nicht der Fall, so muss die Frucht operativ entfernt werden, wobei während des Ablösens der Plazenta schwerste Blutungen auftreten können. Eine neue, bis zur 9. Schwangerschaftswoche wirksame Methode stellt die Anwendung eines Anti-Progesterons (Abtreibungspille »RU 486« oder »Mifegyne«) dar. Es blockiert das für eine Schwangerschaft unerlässl. Hormon Progesteron und führt in Kombination mit einem Prostaglandin zur Ausstoßung der Frucht.Recht: Nachdem durch den Einigungsvertrag vom 31. 8. 1990 eine Neuregelung des Rechts des S. für das vereinigte Dtl. vereinbart worden war, erging das Schwangeren- und Familienhilfe-Ges. vom 27. 7. 1992. Danach war der S. außer in den Fällen der Gefahr für die Mutter oder der Schädigung des Kindes auch dann »nicht rechtswidrig«, wenn ein Arzt auf Verlangen der Schwangeren den Abbruch innerhalb von 12 Wochen ab Empfängnis vornahm und diese sich vorher in näher geregelter Weise hatte beraten lassen; in diesen Fällen bestand auch ein Anspruch auf Leistungen der Krankenversicherung. Darüber hinaus war der S. für die Schwangere (nicht aber für andere Beteiligte) »nicht strafbar«, wenn er binnen 22 Wochen und nach Beratung durch einen Arzt vorgenommen wurde. Das Gesetz regelte außerdem die Hilfe für Schwangere, Familien und Kinder durch Aufklärung, Beratung und soziale Leistungen wie Kindergartenplätze u. a.
Diese Regelung wurde vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) durch Urteil vom 28. 5. 1993 in Teilen für nichtig erklärt. Das BVerfG geht in dieser Entscheidung von dem grundsätzl. Vorrang des grundrechtlich geschützten Lebensrechts des Nasciturus (Leibesfrucht) vor den Grundrechten der Mutter aus. Das Gericht sieht den Staat als verpflichtet an, das Grundrecht des Nasciturus gegen Eingriffe Dritter und auch der Mutter wirksam zu schützen. Der S. muss deshalb grundsätzlich verboten und der Schwangeren eine Rechtspflicht zum Austragen der Schwangerschaft auferlegt werden; diese Pflicht darf (und muss unter Umständen) nur in bestimmten Ausnahmelagen entfallen, in denen die Austragung der Schwangerschaft unzumutbar ist. Für Wahl und Ausgestaltung des Schutzkonzeptes verfügt der Gesetzgeber über einen gewissen Spielraum. Das mit der Neuregelung verfolgte Beratungskonzept, das auf die Feststellung einer Ausnahmelage und auf die Strafbarkeit grundsätzlich verzichtet, ist danach verfassungsrechtlich zulässig. Die Verf. verbietet dem Gesetzgeber aber, einen nach Beratung, aber ohne Vorliegen einer Notlage vorgenommenen Abbruch für rechtmäßig zu erklären. Gleichzeitig wird festgestellt, dass der Gesetzgeber eine solche Abtreibung nicht mit Strafe belegen muss. Ein weiterer wesentl. Punkt liegt in der Feststellung, dass für nicht gerechtfertigte, aber straffreie S. keine Leistung der gesetzl. Krankenversicherung vorgesehen werden darf.
Unter dem Eindruck dieser Rechtsprechung verabschiedete der Dt. Bundestag am 21. 8. 1995 das Schwangeren- und Familienhilfeänderungs-Ges. Den Kernbereich der Regelung bilden das Ges. zur Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten (kurz: Schwangerschaftskonflikt-Ges., SchKG) sowie Änderungen des StGB. Nach dem SchKG hat jede Frau und jeder Mann das allgemeine Recht, sich in Fragen der Sexualaufklärung, Verhütung und Familienplanung sowie in allen eine Schwangerschaft unmittelbar oder mittelbar berührenden Fragen von einer hierfür vorgesehenen Beratungsstelle informieren und beraten zu lassen. Besondere Bedeutung kommt der Schwangerschaftskonfliktberatung zu, die im Rahmen der strafrechtl. Verantwortung notwendig ist (§§ 5 ff. SchKG in Verbindung mit § 219 StGB). Sie dient dem Schutz des ungeborenen Lebens und hat sich von dem Bemühen leiten zu lassen, die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen und ihr Perspektiven für ein Leben mit dem Kind zu eröffnen. Wenngleich die Beratung ergebnisoffen zu führen ist, muss der Frau bewusst sein, dass das Ungeborene in jedem Stadium der Schwangerschaft auch ihr gegenüber ein eigenes Recht auf Leben hat und dass deshalb ein S. nur in Ausnahmesituationen in Betracht kommen kann, wenn der Frau durch das Austragen des Kindes eine Belastung erwächst, die so schwer und außergewöhnlich ist, dass sie die zumutbare Opfergrenze übersteigt. Nach Abschluss der Beratung ist der Schwangeren eine mit Namen und Datum versehene Bescheinigung über die Tatsache der Beratung auszustellen.In strafrechtl. Hinsicht gilt § 218 StGB, der den S. unter Strafe stellt. Die §§ 218 a ff. bestimmen jedoch, unter welchen Voraussetzungen ein strafbarer S. nicht vorliegt. In § 218 a Abs. 1 hat sich der Gesetzgeber für die Beibehaltung der Fristenlösung entschieden. D. h., eine strafbare Handlung im Sinne von § 218 liegt nicht vor, wenn die Schwangere innerhalb von 12 Wochen seit der Empfängnis den S. verlangt, der Eingriff von einem Arzt durchgeführt wird und die Schwangere dem Arzt durch eine nach § 219 StGB erforderl. Bescheinigung nachgewiesen hat, dass sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff hat beraten lassen.
Nach § 218 a Abs. 2 StGB ist der S. nicht rechtswidrig, wenn er mit Einwilligung der Schwangeren vorgenommen wird und nach ärztl. Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperl. oder seel. Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwehren und die Gefahr nicht auf andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann. Dabei wurde § 218 Abs. 2 StGB als »medizinisch-soziale Indikation« ausgestaltet. Die embryopath. Indikation (bei Erbkrankheiten, Mißbildungen), die bis dahin durch § 218 a Abs. 3 anerkannt war, ist nicht ausdrücklich übernommen worden, hat aber durch die jetzige Erweiterung der medizin. Indikation in § 218 a Abs. 2 Berücksichtigung gefunden.
Neu geregelt wurde die kriminolog. Indikation (§ 218 a Abs. 3), die innerhalb von 12 Wochen seit Empfängnis den von einem Arzt durchgeführten S. zulässt, wenn nach ärztl. Erkenntnis an der Schwangeren ein Sexualdelikt im Sinne der §§ 176 bis 179 StGB begangen wurde und dringende Gründe für die Annahme sprechen, dass die Schwangerschaft auf der Tat beruht. Eine Beratungspflicht ist auch für diese Indikation im Hinblick auf §§ 2 ff. SchKG nicht vorgesehen.Sozialversicherungsrechtlich ist die Schwangere grundsätzlich leistungsberechtigt, wenn sie sozialversichert ist und der S. nicht rechtswidrig war (§ 24 b Abs. 1 Sozialgesetzbuch, SGB, Buch V). Handelt es sich jedoch um einen Eingriff im Sinne des § 218 a Abs. 1 StGB (Fristenlösung), ist der Sozialversicherungsträger für den Eingriff als solchen und die gewöhnl. Nachbehandlung nicht leistungspflichtig (§ 24 b Abs. 3 SGB V), wohl aber für die Beratung und die Maßnahmen der Gesunderhaltung der Frau und des Kindes. Frauen, die die Kosten eines S. nicht tragen können (Einkommensgrenze: 1 700 DM monatlich), sind nach dem Ges. zur Hilfe für Frauen bei S. in besonderen Fällen so gestellt, als seien sie sozialversichert. In Österreich wird der S. mit Freiheitsstrafe bedroht (§ 96 StGB). Der S. durch einen Arzt ist jedoch nicht strafbar, wenn er mit Zustimmung der Schwangeren und nach ärztl. Beratung innerhalb der ersten drei Monate nach Beginn der Schwangerschaft vorgenommen wird (Fristenlösung), wenn eine medizin. oder eugen. Indikation vorliegt oder wenn die Schwangere zur Zeit der Schwängerung das 14. Lebensjahr noch nicht erreicht hatte (§ 97 StGB).
In der Schweiz wird der S. als Abtreibung bzw. Fremdabtreibung grundsätzlich bestraft (Art. 118 ff. StGB). Zulässig ist ein S. mit schriftl. Zustimmung der Schwangeren im Falle einer medizin. Indikation durch einen Arzt nach vorheriger Einholung eines Gutachtens. In der Realität der Gutachterpraxis ist eine wachsende, allerdings kantonal unterschiedl. Tendenz festzustellen, aufgrund eines weiten Gesundheitsbegriffs auch andere Indikationen, insbesondere die soziale Indikation, als ausreichend für den S. anzusehen.
▣ Literatur:
Augstein, R.u. Koch, H.-G.: Was man über den S. wissen sollte. München 1985.
⃟ S. im internationalen Vergleich, hg. v. A. Eser u. a., 2 Bde. Baden-Baden 1988-89.
⃟ Hoerster, N.: Abtreibung im säkularen Staat. Argumente gegen den § 218. Frankfurt am Main 1991.
Diese Regelung wurde vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) durch Urteil vom 28. 5. 1993 in Teilen für nichtig erklärt. Das BVerfG geht in dieser Entscheidung von dem grundsätzl. Vorrang des grundrechtlich geschützten Lebensrechts des Nasciturus (Leibesfrucht) vor den Grundrechten der Mutter aus. Das Gericht sieht den Staat als verpflichtet an, das Grundrecht des Nasciturus gegen Eingriffe Dritter und auch der Mutter wirksam zu schützen. Der S. muss deshalb grundsätzlich verboten und der Schwangeren eine Rechtspflicht zum Austragen der Schwangerschaft auferlegt werden; diese Pflicht darf (und muss unter Umständen) nur in bestimmten Ausnahmelagen entfallen, in denen die Austragung der Schwangerschaft unzumutbar ist. Für Wahl und Ausgestaltung des Schutzkonzeptes verfügt der Gesetzgeber über einen gewissen Spielraum. Das mit der Neuregelung verfolgte Beratungskonzept, das auf die Feststellung einer Ausnahmelage und auf die Strafbarkeit grundsätzlich verzichtet, ist danach verfassungsrechtlich zulässig. Die Verf. verbietet dem Gesetzgeber aber, einen nach Beratung, aber ohne Vorliegen einer Notlage vorgenommenen Abbruch für rechtmäßig zu erklären. Gleichzeitig wird festgestellt, dass der Gesetzgeber eine solche Abtreibung nicht mit Strafe belegen muss. Ein weiterer wesentl. Punkt liegt in der Feststellung, dass für nicht gerechtfertigte, aber straffreie S. keine Leistung der gesetzl. Krankenversicherung vorgesehen werden darf.
Unter dem Eindruck dieser Rechtsprechung verabschiedete der Dt. Bundestag am 21. 8. 1995 das Schwangeren- und Familienhilfeänderungs-Ges. Den Kernbereich der Regelung bilden das Ges. zur Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten (kurz: Schwangerschaftskonflikt-Ges., SchKG) sowie Änderungen des StGB. Nach dem SchKG hat jede Frau und jeder Mann das allgemeine Recht, sich in Fragen der Sexualaufklärung, Verhütung und Familienplanung sowie in allen eine Schwangerschaft unmittelbar oder mittelbar berührenden Fragen von einer hierfür vorgesehenen Beratungsstelle informieren und beraten zu lassen. Besondere Bedeutung kommt der Schwangerschaftskonfliktberatung zu, die im Rahmen der strafrechtl. Verantwortung notwendig ist (§§ 5 ff. SchKG in Verbindung mit § 219 StGB). Sie dient dem Schutz des ungeborenen Lebens und hat sich von dem Bemühen leiten zu lassen, die Frau zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen und ihr Perspektiven für ein Leben mit dem Kind zu eröffnen. Wenngleich die Beratung ergebnisoffen zu führen ist, muss der Frau bewusst sein, dass das Ungeborene in jedem Stadium der Schwangerschaft auch ihr gegenüber ein eigenes Recht auf Leben hat und dass deshalb ein S. nur in Ausnahmesituationen in Betracht kommen kann, wenn der Frau durch das Austragen des Kindes eine Belastung erwächst, die so schwer und außergewöhnlich ist, dass sie die zumutbare Opfergrenze übersteigt. Nach Abschluss der Beratung ist der Schwangeren eine mit Namen und Datum versehene Bescheinigung über die Tatsache der Beratung auszustellen.In strafrechtl. Hinsicht gilt § 218 StGB, der den S. unter Strafe stellt. Die §§ 218 a ff. bestimmen jedoch, unter welchen Voraussetzungen ein strafbarer S. nicht vorliegt. In § 218 a Abs. 1 hat sich der Gesetzgeber für die Beibehaltung der Fristenlösung entschieden. D. h., eine strafbare Handlung im Sinne von § 218 liegt nicht vor, wenn die Schwangere innerhalb von 12 Wochen seit der Empfängnis den S. verlangt, der Eingriff von einem Arzt durchgeführt wird und die Schwangere dem Arzt durch eine nach § 219 StGB erforderl. Bescheinigung nachgewiesen hat, dass sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff hat beraten lassen.
Nach § 218 a Abs. 2 StGB ist der S. nicht rechtswidrig, wenn er mit Einwilligung der Schwangeren vorgenommen wird und nach ärztl. Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperl. oder seel. Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwehren und die Gefahr nicht auf andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann. Dabei wurde § 218 Abs. 2 StGB als »medizinisch-soziale Indikation« ausgestaltet. Die embryopath. Indikation (bei Erbkrankheiten, Mißbildungen), die bis dahin durch § 218 a Abs. 3 anerkannt war, ist nicht ausdrücklich übernommen worden, hat aber durch die jetzige Erweiterung der medizin. Indikation in § 218 a Abs. 2 Berücksichtigung gefunden.
Neu geregelt wurde die kriminolog. Indikation (§ 218 a Abs. 3), die innerhalb von 12 Wochen seit Empfängnis den von einem Arzt durchgeführten S. zulässt, wenn nach ärztl. Erkenntnis an der Schwangeren ein Sexualdelikt im Sinne der §§ 176 bis 179 StGB begangen wurde und dringende Gründe für die Annahme sprechen, dass die Schwangerschaft auf der Tat beruht. Eine Beratungspflicht ist auch für diese Indikation im Hinblick auf §§ 2 ff. SchKG nicht vorgesehen.Sozialversicherungsrechtlich ist die Schwangere grundsätzlich leistungsberechtigt, wenn sie sozialversichert ist und der S. nicht rechtswidrig war (§ 24 b Abs. 1 Sozialgesetzbuch, SGB, Buch V). Handelt es sich jedoch um einen Eingriff im Sinne des § 218 a Abs. 1 StGB (Fristenlösung), ist der Sozialversicherungsträger für den Eingriff als solchen und die gewöhnl. Nachbehandlung nicht leistungspflichtig (§ 24 b Abs. 3 SGB V), wohl aber für die Beratung und die Maßnahmen der Gesunderhaltung der Frau und des Kindes. Frauen, die die Kosten eines S. nicht tragen können (Einkommensgrenze: 1 700 DM monatlich), sind nach dem Ges. zur Hilfe für Frauen bei S. in besonderen Fällen so gestellt, als seien sie sozialversichert. In Österreich wird der S. mit Freiheitsstrafe bedroht (§ 96 StGB). Der S. durch einen Arzt ist jedoch nicht strafbar, wenn er mit Zustimmung der Schwangeren und nach ärztl. Beratung innerhalb der ersten drei Monate nach Beginn der Schwangerschaft vorgenommen wird (Fristenlösung), wenn eine medizin. oder eugen. Indikation vorliegt oder wenn die Schwangere zur Zeit der Schwängerung das 14. Lebensjahr noch nicht erreicht hatte (§ 97 StGB).
In der Schweiz wird der S. als Abtreibung bzw. Fremdabtreibung grundsätzlich bestraft (Art. 118 ff. StGB). Zulässig ist ein S. mit schriftl. Zustimmung der Schwangeren im Falle einer medizin. Indikation durch einen Arzt nach vorheriger Einholung eines Gutachtens. In der Realität der Gutachterpraxis ist eine wachsende, allerdings kantonal unterschiedl. Tendenz festzustellen, aufgrund eines weiten Gesundheitsbegriffs auch andere Indikationen, insbesondere die soziale Indikation, als ausreichend für den S. anzusehen.
▣ Literatur:
Augstein, R.u. Koch, H.-G.: Was man über den S. wissen sollte. München 1985.
⃟ S. im internationalen Vergleich, hg. v. A. Eser u. a., 2 Bde. Baden-Baden 1988-89.
⃟ Hoerster, N.: Abtreibung im säkularen Staat. Argumente gegen den § 218. Frankfurt am Main 1991.