Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Schule
Schule[zu lat. schola, aus grch. schole̅́ »Freisein von Geschäften«], öffentl. oder private (Privatschulen) Einrichtung mit der Aufgabe, Kindern und Jugendlichen (i. w. S. auch Erwachsenen) durch planmäßigen Unterricht Wissen, Erkenntnis, Einsicht und die Fähigkeit zu begründetem Urteil zu vermitteln. Die sozialwiss. Forschung hebt neben dem Erwerb einer Qualifikation durch Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten (Qualifikationsfunktion) v. a. folgende Funktionen von S. hervor: Sozialisation (Anpassung an das soziokulturelle System), Selektion (Auslese über Prüfungen, Zensuren und versch. Schularten) und Legitimation (Rechtfertigung und Stabilisierung der vorliegenden Gesellschaftsordnung). Schulsystem und
Gliederungsprinzipien in den dt. Bundesländern: Im Primarbereich besuchen alle Kinder die Grund-S. i. d. R. bis zur 4. Klasse. Für behinderte Kinder gibt es Sonderschulen. Der Übergang von der allg. Grundschule in den Sekundarbereich I ist länderspezifisch geregelt. Erfasst wird das 5.-9. (bzw. 10.) S.-Jahr an den drei S.-Arten Haupt-S., Real-S., Gymnasium, wobei die Jahrgangsstufen 5 und 6 in allen Bundesländern, wenn auch mit erhebl. Unterschieden, als Orientierungsstufe aufgefasst werden. In Sachsen sind Haupt- und Real-S. zur Mittelschule verschmolzen, andere Länder bieten integrierte Klassen für Haupt- und Realschüler unter versch. Bez. neben Haupt- und Realschule an. Die v. a. in den 1960er- und 1970er-Jahren stärker gewordene Kritik am vertikal gegliederten dreiteiligen S.-System führte zur Einrichtung von Gesamtschulen, die einen Übergang zw. den versch. Bildungsgängen einer Stufe erleichtern sollen. Die Haupt-S. stellt für alle Schüler, die nicht auf weiterführende S. wechseln, die Pflicht-S. dar, die mit dem 9. (bzw. 10.) S.-Jahr endet und die Grundlagen für einen Einstieg in die Berufs- und Arbeitswelt vermitteln soll. Um nicht vermittelten Jugendlichen diesen Einstieg zu erleichtern, wurde ein Berufsgrundbildungsjahr eingerichtet. Die Real-S. endet mit dem 10. S.-Jahr und vermittelt die Voraussetzungen (u. a. Erlernen von zwei Fremdsprachen) für berufs- und studienqualifizierende Bildungsgänge im Sekundarbereich II. Die Klassen 5-10 des Gymnasiums zählen ebenfalls zum Sekundarbereich I. Der Sekundarbereich II umfasst 1) die gymnasiale Oberstufe, die an Gymnasien und Gesamtschulen, an Kollegs (Institute zur Erlangung der Hochschulreife) und Abendschulen eingerichtet ist, an der Kollegschule von NRW sind auch doppelt qualifizierende Abschlüsse möglich (Berufsabschluss nach drei, Abitur nach vier Jahren); 2) die Fachoberschule, die auf die Fachhochschule vorbereitet (Fachhochschulreife); 3) Berufsfachschulen, die einen berufl. Abschluss bieten; 4) Sonderformen schul. Berufsbildung, die den Zugang zur Fachoberschule für Hauptschüler möglich macht (u. a. Berufsoberschulen, Berufsaufbauschulen).
Der 1973 von der Bund-Länder-Kommission vorgelegte Bildungsgesamtplan als Rahmenplan für die längerfristige Ausgestaltung und Finanzierung des Bildungswesens berücksichtigt weitere Bereiche des Bildungswesens, die nicht zum Schulwesen gehören: Zum Elementarbereich zählen Einrichtungen familienergänzender Bildung zw. dem 3. Lebensjahr und der Einschulung (z. B. Kindergärten). Der tertiäre Bereich umfasst Hoch-S. und Fachhochschulen sowie als Sonderform das Berufskolleg, i. w. S. auch die Fachschulen (Meisterschulen). Weiterhin gibt es Einrichtungen der Erwachsenenbildung sowie der außerschul. Jugendbildung. Für behinderte Kinder und Jugendliche steht ein differenziertes System von Sonder-S. zur Verfügung. Von übergreifender Bedeutung sind Bemühungen, behinderte und nichtbehinderte Kinder - so weit wie möglich und sinnvoll - in allgemein bildenden S. gemeinsam zu unterrichten, anstatt sie in Sonder-S. zu isolieren. Für die Kinder ausländ. Mitbürger gibt es Bestrebungen, diese Mädchen und Jungen behutsam in das dt. Schulsystem zu integrieren. Während die Zahl ausländ. Schülerinnen und Schüler an den allgemein bildenden Schulen derzeit steigt, ist der Anteil derer, die ein Gymnasium besuchen, noch sehr gering. - Gesellschaftl. Entwicklungen wirken vielfältig auf Schule und Schulpraxis zurück. So hat die allg. Tendenz zu höheren S.- und Berufsabschlüssen u. a. zum Rückgang der Anzahl der Hauptschüler und zur Einführung des Numerus clausus an den Hoch-S. geführt. Die Strukturen der Leistungsgesellschaft wirken sich u. a. auch über die S. auf die Kinder und Jugendlichen aus; beklagt werden Schulverdrossenheit, Schulstress und Aggressivität. Viele der pädagog. Konzepte müssen daher, auch unter Berücksichtigung der Reizüberflutung sowie der die Gesellschaft beunruhigenden Themen (wie Drogen, Aids, Fremdenfeindlichkeit, Arbeitslosigkeit), neue Ansätze finden, um einer drohenden Reduzierung der Bildung auf bloße Stoffvermittlung entgegenzuwirken. Auch die Koedukation, die nach neuesten Untersuchungen Mädchen eher benachteiligt, wird diskutiert. Auswirkungen auf den Unterricht hat ferner eine zunehmende Verknappung des Lehrpersonals, da die Länder auch im Bildungssektor sparen.
In Österreich schließt sich der vierjährigen Volks-S., die alle Kinder ab dem 7. Lebensjahr besuchen, die Haupt-S. (4 Jahre) an. Daneben ist die Neue Mittelschule eingerichtet, die Unterstufe der allgemein bildenden höheren S. besteht weiter (4 versch. gymnasiale Typen; die Oberstufe umfasst weitere 4 Jahre). Weiterführende S. sind neben den allg. bildenden die mittleren und höheren berufsbildenden S. Schüler, die keine weiterführende S. besuchen, nehmen am Polytechn. Lehrgang teil. - Die Schweiz hat versch. kantonale S.-Systeme. Einer Primarstufe von 4, 5 oder 6 Jahren und einer Sekundarstufe I von 3 bis 5 Jahren schließen sich in der Sekundarstufe II Diplommittelschulen (2-3 Jahre), Lehrerseminare (5 Jahre), Maturitäts-S. (4 Jahre, Matura als Reifezeugnis) sowie versch. berufl. Schulen (2-6 Jahre) an. Geschichte: Im Zuge des kulturellen und sozialen Wandels entstanden im 3. Jt. v. Chr. in Mesopotamien S. (»Haus der Täfelchen«), die einen offenbar stark gewachsenen Bedarf der Gesellschaft an Schreibern befriedigen sollten. Spätestens in der ersten Hälfte des 2. Jt. umfasste der Unterricht neben Schreiben, Lesen, Rechnen (Buchhaltung) auch die Gebiete Musik, Literatur und Grammatik, d. h., die S. vermittelte nicht nur Kulturtechniken, sondern auch Wissen, Fähigkeiten und Bildung ihrer Zeit. Die S. waren in Tempeln oder Palästen untergebracht. Eine ähnl. Entwicklung zeigt sich in Ägypten, wo einzelne Schreiber zu hohen Ämtern aufstiegen und die Schreiber insgesamt einen angesehenen Beamtenstand darstellten. Im antiken Griechenland fiel der Auf- und Ausbau der S. mit dem tief greifenden sozialen Wandel von einer feudal geprägten, regional orientierten Agrargesellschaft zu einer an überregionalen Handelsbeziehungen orientierten demokrat. Gesellschaft zusammen. Die Sophisten schufen ein Konzept verwendungsorientierten Allgemeinwissens, dessen Bildungsinhalte auch ihre philosoph. Kritiker nicht infrage stellten. Ihr Lehrplan findet sich in leicht modifizierter Form in der röm. Tradition als Artes liberales (freie Künste) und wurde im MA. zum inhaltl. und organisator. Kern europ. Bildung, der sich bis in den Aufbau frühneuzeitl. Univ. wiederfinden lässt. Rom übernahm weitgehend das hellenist. Schulwesen, begünstigte es v. a. durch Steuerpolitik und dehnte es auf das ganze Imperium aus. - Im MA. dienten Kloster- und Dom-S. zunächst der Ausbildung des Klerikernachwuchses, öffneten sich jedoch auch höf. Kreisen. Erst im 12./13. Jh. setzte mit der Gründung stadteigener und privater S. tendenziell eine Verweltlichung der S. ein, was mit der aufkommenden Schriftlichkeit im Handelsverkehr, der veränderten sozialen Stellung der Kaufleute und Handwerker und allg. mit dem aufblühenden Städtewesen zusammenhing. Viele dt. Städte richteten im 16. Jh. Lateinschulen ein, daneben entstanden sog. Dt. Schulen (muttersprachl. Schreib- und Rechen-S., die von Schreibmeistern z. T. mit städt. Unterstützung geführt wurden). Die Pfarreien erweiterten ihre religiöse Unterweisung, die unterrichtenden Küster (Mesmer) bezogen Lesen, Schreiben und Rechnen mit ein. Humanismus und Reformation förderten das allg. Schulwesen, Fürstenschulen wurden anstelle einiger klösterl. Lateinschulen eingerichtet. Andererseits gründeten Orden, bes. die Jesuiten, höhere Schulen (nur für Knaben). Auf der Grundlage der Küsterschulen entstand im 17. Jh. die Volks-S. unter kirchl. Schulaufsicht, erst im Verlauf des 18. Jh. setzte sich die allg. S.-Pflicht durch (ab 1717 in Preußen). In den 70er-Jahren des 18. Jh. reformierte K. A. Freiherr von Zedlitz und Leipe das preuß. höhere Schulwesen und führte 1779 das humanist. Gymnasium sowie das Abitur ein. Im frühen 19. Jh. prägte W. von Humboldt das neuhumanist. Gymnasium (grundlegende Allgemeinbildung erhält Vorrang vor berufsorientiertem Nützlichkeitsdenken), im Zuge des beginnenden industriellen Zeitalters bildeten sich die Bürger-, Real- und Mittel-S. heraus, bis ins 20. Jh. bestand die (seit 1872 in Preußen sechsjährige) Mittelschule. Neusprachl. Realgymnasien und mathematisch-naturwiss. Oberrealschulen wurden als vollgültige höhere Bildungseinrichtungen anerkannt, zugleich die Volks-S. ausgebaut und Fach- und Berufs-S. gegründet.
Die Errungenschaften der breiten S.-Reformbewegung nach 1918 waren: Begründung der Grund-S. für alle (1919), Akademisierung der Volksschullehrerausbildung (1926 in Preußen), didakt. Reformen der allgemein bildenden S. (die richertsche Reform führte in Preußen 1924/25 an allen Gymnasialtypen deutschkundl. Fächer und eine Dt. Oberschule ein, staatsbürgerl. Erziehung wurde Unterrichtsprinzip) und Ausbau des berufsbildenden Schulwesens. Der Nationalsozialismus strebte die Gleichschaltung des Schulwesens an (achtjährige Hauptschule und nur ein Oberschultyp - abgesehen vom altsprachl. Gymnasium). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in der Bundesrep. Dtl. eine Vereinheitlichung des auf Ländergrundlage unterschiedlich aufgebauten Schulwesens im Düsseldorfer (1955) und im Hamburger Abkommen (1964) erreicht, und eine Neugestaltung der Oberstufe schloss sich an (Einrichtung der gymnasialen Oberstufe). Daneben wurden zahlr. andere Möglichkeiten des Hochschulzuganges im Anschluss an andere S.-Abschlüsse neu eröffnet. - Die neuen Bundesländer übernahmen, mit geringfügigen Ergänzungen, diese Struktur.Recht: Das S.-Recht umfasst Bestimmungen, die Grundfragen des Schulwesens regeln; einige sind bundeseinheitlich im GG enthalten. Hierzu gehören die staatl. Schulaufsicht (Art. 7 GG), das Recht auf Errichtung von Privat-S. und die Garantie des Religionsunterrichtes. Im Art. 6 Abs. 2 GG wird den Eltern das Recht auf freie Wahl der S.-Art garantiert. Die S.-Gesetzgebung liegt aufgrund der Kulturhoheit der Länder bei den einzelnen Bundesländern. Die Gesetzgebungskompetenz der Länder führte zu z. T. sehr unterschiedl. Schul-Ges. und damit zu unterschiedl. Ausgestaltung des Schulwesens. Durch die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) wird eine gewisse Einheitlichkeit und gegenseitige Anerkennung divergierender Schularten über Länderabkommen angestrebt. In den Schul-Ges. ist die Pflicht zu einem Mindestschulbesuch geregelt. Die allg. S.-Pflicht ist grundsätzlich vom vollendeten 6. bis zum vollendeten 18. Lebensjahr zu erfüllen, wobei der Besuch einer Berufs-S. eingerechnet wird. Wird keine Ausbildung aufgenommen, ist das Berufsgrundbildungsjahr Pflicht. Für körperlich und geistig Behinderte bestehen oft Sonderbestimmungen. - In Österreich ist das S.-Recht durch das Bundesverfassungs-Ges. vom 18. 7. 1962 bundeseinheitlich geregelt; S.-Pflicht 9 Jahre nach Vollendung des 6. Lebensjahres. In der Schweiz sind nur wenige wesentl. S.-Rechte in der Bundesverf. niedergelegt (Art. 27). Die S.-Gesetzgebung ist Sache der Kantone; S.-Pflicht 9 Jahre, Einschulung im 6. oder 7. Lebensjahr.
Literatur:
Blankertz, H.: Die Geschichte der Pädagogik. Wetzlar 1982, Nachdr. ebd. 1992.
Kemper, H.: S. u. bürgerl. Gesellschaft. Zur Theorie u. Geschichte der Schulreform von der Aufklärung bis zur Gegenwart, 2 Bde. Weinheim 1990.
Gute S. - worauf beruht ihre Wirksamkeit?, hg. v. K. Aurin. Bad Heilbrunn 21991.
Lenz, J.: Die Effective School Forschung der USA. Ihre Bedeutung für die Führung u. Lenkung von S. Frankfurt am Main u. a. 1991.
Fischer, A.: Das Bildungssystem der DDR. Entwicklung, Umbruch u. Neugestaltung seit 1989. Darmstadt 1992.
Das Bildungswesen in der Bundesrep. Dtl., Redaktion: J. Baumert. Neuausg. Reinbek 1994.
Transformationen der dt. Bildungslandschaft. Lernprozeß mit ungewissem Ausgang, hg. v. P. Dudek u. H.-E. Tenorth. Weinheim u. a. 1994.
Hentig, H. von: Die S. neu denken. München u. a. 71995.
Illich, I.: Entschulung der Gesellschaft. Eine Streitschrift. A. d. Engl. München 41995.
Bildung in Dtl. Eine Entscheidungshilfe für Eltern, LehrerInnen u. SchülerInnen, hg. v. J. Petersen u. G.-B. Reinert, auf mehrere Bde. ber. Donauwörth 1996 ff.
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