Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
russische Philosophie.
rụssische Philosophie.Bis zum 18. Jh. stand die r. P. fast ausschl. im Dienst der russisch-orth. Theologie. Zu den wichtigsten Eigenleistungen gehörten im 11. Jh. die Traktate des Kiewer Metropoliten Ilarion, im 12. Jh. die Schriften des Metropoliten Kliment Smoljatitsch (✝ nach 1154) und des Bischofs Kyrill von Turow (* um 1130, ✝ 1180). In der Auseinandersetzung des 15. Jh. um das Verhältnis der Kirche zum Staat konnte sich die Richtung des Joseph von Wolokolamsk durchsetzen, der die russ. Staatsidee bis ins 20. Jh. im Sinne eines Staatskirchentums bestimmte.
Die im 18. Jh. beginnende Lösung der Philosophie von der Religion (Lomonossow) unter dem Einfluss der Naturwiss. führte zur Aufklärung (A. N. Radischtschew), die im Wesentlichen an dt., frz. und engl. Vorbildern orientiert blieb, während G. W. Leibniz und C. Wolff die Schulmetaphysik beherrschten. Um die Mitte des 19. Jh. war die Auseinandersetzung zw. Slawophilen und Westlern bestimmend. Während A. S. Chomjakow einen S. Kierkegaard ähnl. religiösen Existenzialismus entwickelte, bezogen sich die Westler vorwiegend auf den dt. Idealismus (G. W. F. Hegel) und die frühen Sozialisten. M. A. Bakunin wurde zu einem Hauptbegründer des Anarchismus. In der 2. Hälfte des 19. Jh. gewannen Materialismus (N. G. Tschernyschewski, D. I. Pissarew, G. W. Plechanow) und Positivismus (P. L. Lawrow, N. K. Michailowski) sowie der Kantianismus (A. Wwedenski, I. I. Lapschin) an Bedeutung. Hauptpersönlichkeit dieser Epoche ist W. S. Solowjow, der das erste geschlossene System der r. P. entwickelte (Theosophie, Phänomenologie und philosoph. Anthropologie). An ihn schlossen die Vertreter versch. idealist. Richtungen (Trubezkoi, P. B. Struwe u. a.), einer neuen Religionsphilosophie (S. N. Bulgakow, L. P. Karasawin, P. A. Florenski) sowie die Emigranten L. I. Schestow, N. A. Berdjajew und S. L. Frank (russ. Existenzialismus) an. Mit der kommunist. Herrschaft wurde der dialekt. Materialismus (Marxismus) zur Staatsphilosophie erhoben. Relativ unabhängig davon wurden in der Folge Beiträge zur Logik und Informationstheorie hervorgebracht. Im Gefolge der Perestroika begann seit den 1980er-Jahren eine Rückbesinnung auf die Blütezeit der r. P. 1860-1922 und eine Hinwendung zu ehemals tabuisierten westl. Philosophen wie M. Heidegger oder M. Weber.
Literatur:
J. M. Edie Russian philosophy, hg. v. u. a., 3 Bde. Neuausg. Knoxville, Tenn., 1976.
Dahm, H.: Grundzüge russ. Denkens. Persönlichkeiten u. Zeugnisse des 19. u. 20. Jh. München 1979.
Goerdt, W.: R. P. Zugänge u. Durchblicke. Freiburg im Breisgau 1984.
R. P. Texte, hg. v. W. Goerdt. Freiburg im Breisgau 1989.
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