Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
russische Kunst.
rụssische Kunst.Die Annahme des Christentums in byzantin. Form (988) hat die Entwicklung der altruss. Kunst entscheidend bestimmt. Früh entfalteten sich nat. Besonderheiten, verbunden mit Einflüssen aus dem übrigen Europa. Die neuruss. Kunst setzt mit der entschiedenen Hinwendung Russlands zu Europa unter Peter d. Gr. ein. Die sowjet. Kunst beginnt nach der Oktoberrevolution von 1917 und reicht bis zur Perestroika.
⃟ Altrussische Kunst Architektur: Vorbild für die ersten großen Werke der Baukunst, die Sophienkirchen in Kiew (1037 begonnen) und Nowgorod (1045-50), war die byzantin. Kreuzkuppelkirche. Die Außengliederung der großen Nowgoroder Kirchenbauten Nikolo-Dworischtschenski im Jaroslawhof (1113), der Kirchen des Jurjewklosters (1119) und des Antoniusklosters (1117) zeigt Ähnlichkeit mit der roman. Baukunst. Von der Mitte des 12. Jh. bis zur Mitte des 13. Jh. entstand im Fürstentum Wladimir-Susdal eine auf Schmuckwirkung bedachte abendländ., bes. lombard. Einflüssen offenere Baukunst. In der 2. Hälfte des 14. Jh. entwickelte Nowgorod einen eigenständigen Kirchenbau: Abdeckung des kub. Baukörpers durch zwei sich kreuzende Satteldächer, Kleeblattbögen als Abschluss der Außenwände (Kirche Fjodor Stratilat, 1360/61; Erlöserkirche auf der Iljastraße, 1374). Der Wehrbau des Kreml in Moskau beeinflusste die übrigen Kremlanlagen Russlands (Nowgorod, 1484-90; Nischni Nowgorod, 1500/11; Tula, 1514-21) und die Wehrarchitektur der Klöster. Die von Italienern gebauten Kathedralen des Kreml verkörpern den Typ der Kreuzkuppelkirche mit fünf Kuppeln: Uspenskikathedrale (1475-79) und Erzengel-Michael-Kathedrale (1505-08).
Im Innern der Kirchen wurde durch die immer höher werdende Ikonostase der Priesterchor vom Gemeinderaum getrennt. Unter dem Einfluss des Holzbaues entstanden turmartige, sich nach oben verjüngende »Zeltdachkirchen«, z. B. die Himmelfahrtskirche in Kolomenskoje (1532) und die neuntürmige Basiliuskathedrale in Moskau (1555-60). Der Holzbau erreichte im 17. Jh. mit dem Zarenpalast in Kolomenskoje (1667-81) einen letzten Höhepunkt.
Auch in der Spätzeit (17. Jh.) der altruss. Kunst blieben Kreuzkuppelkirche und Zeltdach für den Kirchenbau bestimmend; kennzeichnend ist der Drang zur Höhenentwicklung, zu reicher Gliederung und zur Dekoration. Große Bautätigkeit entwickelte sich in den Handelsstädten an der mittleren Wolga, bes. in Jaroslawl. In Moskau entstanden turmartige Zentralbauten, deren unterer Teil vierpassartig ausgebuchtet und von weitläufigen Galerien und Freitreppen umgeben ist (Pokrowkirche in Fili, 1690-93).Plastik: Bis zum 17. Jh. dominierte das Relief, das sowohl byzantin. (Kiew, Reliefplatten, 11. Jh.) als auch abendländ., bes. lombard. Einflüsse (Bauplastik in Wladimir-Susdal, 12./13. Jh.) verarbeitete.Malerei: Die ersten Werke der Malerei orientierten sich an byzantin. Vorbildern (Mosaiken und Wandmalereien der Sophienkirche in Kiew, 1046-um 1067). Auch die Fresken und Ikonen der folgenden Jh. zeigen einen von Byzanz geprägten Stil. Neue Impulse erhielt die Malerei Nowgorods durch Theophanes den Griechen (Fresken der Erlöserkirche auf der Iljastraße, 1378), dessen expressiver Stil neben der verinnerlichten Andachtskunst von A. Rubljow auch in Moskau bestimmend war. Beide waren beteiligt an der Ikonostase der Verkündigungskathedrale im Moskauer Kreml (1405). Führender Meister um 1500 war Dionissi (Fresken im Theraponteskloster bei Wologda, 1500-02). Im 16. Jh. wurde die Thematik der Ikonen reicher und komplizierter. Seit der Mitte des 17. Jh. veränderte sich in der Wandmalerei das Bildprogramm, dessen Hauptthema jetzt Geschehnisse des N. T. wurden, und die Darstellung, die eine neue Wirklichkeitsauffassung zeigte. Die Ikonenmalerei erlebte um 1600 eine Nachblüte mit den Werken der »Stroganowschule«. Im 17. Jh. traten neben Architektur- und Ereignisbildern die ersten Bildnisse auf. Hauptmeister der 2. Jh.hälfte war der Hofmaler S. F. Uschakow.
⃟ Neurussische Kunst Architektur: Mit der Gründung Sankt Petersburgs (1703) drangen neue Prinzipien des Städtebaus und der Architektur nach Russland. Die neue Hptst. wurde in großen Dimensionen geplant und in der ersten Generation hauptsächlich von westeurop. Architekten gebaut. Der nüchtern-strenge Stil der Gründungsperiode wurde v. a. von D. Trezzini geprägt (Peter-und-Pauls-Kathedrale, 1712-32). Um die Mitte des 18. Jh. wurde B. F. Rastrelli zum führenden Baumeister. In seinen ausgedehnten Palastbauten (Winterpalais in Sankt Petersburg, 1754-63; Großes Katharinenpalais in Zarskoje Selo, heute Puschkin, 1752-57) entwickelte er auf italien. Grundlage eine russ. Sonderform des Spätbarock. Unter Katharina II. wurde die Formensprache der Architektur in Sankt Petersburg gemäßigter und leitete zum frühen Klassizismus über (Akademie der Künste, 1764-88, und Kleine Eremitage, 1764-67 von J.-B. Vallin de la Mothe; Schloss Pawlowsk, 1782-86 von Charles Cameron; Akademie der Wiss., 1783-89 von G. Quarenghi). An der klassizist. Architektur (»Petersburger Empire«) waren v. a. russ. Baumeister beteiligt (A. D. Sacharow: Admiralität, 1806-23; W. P. Stassow u. a.). Spätklassizismus und Eklektizismus der Jh.mitte wurden in Sankt Petersburg großenteils von Ausländern vertreten (A. R. de Montferrand, L. von Klenze, A. Stackenschneider). Gegen Ende des Jh. kam es bes. in Moskau zu einer Neubelebung altruss. Bauformen (Histor. Museum von Sherwood, 1875-83). In der Folgezeit traten zunehmend historisierende Tendenzen hervor (Tretjakow-Galerie, um 1900). Sie prägten auch die Architektur des russ. Jugendstils (Jaroslawler Bahnhof in Moskau von F. O. Schechtel, 1902).Plastik: Die ersten Bildhauer in Sankt Petersburg waren Ausländer: A. Schlüter (Reliefs am Sommerpalais), B. C. Rastrelli (Büste Peters d. Gr.), É.-M. Falconet (Reiterdenkmal Peters d. Gr.). Im Klassizismus erreichte die russ. Plastik Höhepunkte in der Denkmals- und Grabmalskunst (I. G. Martos, B. I. Orlowski) und in den Skulpturen der Petersburger Admiralität (F. F. Schtschedrin, I. I. Terebenew). Spätklassizist. Skulpturen an Monumentalbauten nach den Napoleon. Kriegen stammen u. a. von S. S. Pimenow und W. I. Demut-Malinowski. F. P. Tolstoi schuf kleinformatige Reliefs, M. Antokolski bemühte sich um psychologisierende Darstellung histor. Persönlichkeiten, das Schaffen von P. P. Trubezkoi zeigt impressionist. Züge, Anna S. Golubkina griff sozialkrit. Themen auf. A. Archipenko und J. Lipchitz leisteten in Paris ihren Beitrag zum Kubismus, in Moskau prägten W. J. Tatlin, A. M. Rodtschenko, A. Pevsner und N. Gabo den russ. Konstruktivismus.Malerei: Die neue russ. Malerei begann im 18. Jh. mit Porträts und der Ausmalung von Palästen im Stil des Rokoko (F. S. Rokotow, D. G. Lewizki). Das empfindsame Bildnis wurde um 1800 bes. von W. L. Borowikowski gepflegt. Der Klassizismus ist am reinsten in den streng linearen Zeichnungen des Bildhauers F. Tolstoi ausgeprägt. Die Bildnisse von O. A. Kiprenski, v. a. aber die Porträts und Historienbilder von K. P. Brüllow sind von romant. Geist erfüllt. A. A. Iwanows Studien und Entwürfe zu seinem Hauptwerk »Christus erscheint dem Volke« bilden Höhepunkte der r. K. des 19. Jh. Hauptvertreter der romant. Landschaftsmalerei war Schtschedrin. I. K. Aiwasowski schuf dramat. Seestücke.
Zu Beginn des 19. Jh. entwickelte sich eine realist. Genremalerei. Trug diese Malerei bei A. G. Wenezianow noch vorwiegend idyll. Charakter, so nahm sie bei P. A. Fedotow kritisch-iron. Züge an. Der Protest gegen die Akademie führte die Maler des Realismus 1870 zur Gründung der Genossenschaft der Peredwischniki, die einige Jahrzehnte lang das künstler. Leben Russlands beherrschten. Ihre Mitgl., wie W. J. Makowski, G. G. Mjassojedow, W. G. Perow, A. J. Archipow und K. A. Sawizki, bemühten sich um milieugenaue Wiedergabe des ärml. Landlebens. Als Porträtmaler traten bes. I. N. Kramskoi, Perow, I. J. Repin und N. A. Jaroschenko hervor. N. N. Ge, v. a. aber Repin und W. I. Surikow stellten der klassizistisch-akadem. Tradition eine lebendige, realist. Historienmalerei entgegen. I. I. Schischkin schilderte die russ. Landschaft in ep. Breite, das Werk I. I. Lewitans hat impressionist. Züge. Hauptvertreter des Impressionismus sind K. A. Korowin und W. A. Serow. Ein bed. Einzelgänger war der kritisch protokollierende Schlachtenmaler W. W. Wereschtschagin. Der den Symbolismus vertretende M. A. Wrubel führte mytholog. Themen in die r. K. ein. In provokativer Abkehr von der sozialen Thematik der Peredwischniki entstand 1899 die Vereinigung »Welt der Kunst« (»Mir iskusstwa«), zu der A. N. Benois, K. A. Somow, L. S. Bakst, E. E. Lansere u. a. gehörten. Der selbstgenügsame Ästhetizismus dieser Gruppe wurde durch den Symbolismus und Neoprimitivismus der 1907 zum ersten Mal ausstellenden Künstlergruppe »Blaue Rose« (Golubaja rosa, u. a. P. W. Kusnezow, M. S. Sarjan, N. P. Krymow) abgelöst. Zu ihrem Umkreis gehörte auch K. S. Petrow-Wodkin. Die Ausstellungen der Gruppe »Karo-Bube« (Bubnowy walet) zw. 1910 und 1917, an denen fast alle bed. Künstler der Periode einmal teilnahmen, dokumentierten den starken Einfluss des Kubismus, Futurismus, des Expressionismus und der Fauves. Der Kern der Gruppe (P. P. Kontschalowski, I. I. Maschkow, R. R. Falk u. a.) wurde als Moskauer Cézannisten bekannt. Die Gründungsmitgl. M. F. Larionow und Natalia S. Gontscharowa organisierten bald eigene, künstlerisch radikalere Ausstellungen. Ihr Stil entwickelte sich zum Rayonismus. Einen melancholisch-myst. Expressionismus entwickelten M. Chagall und P. N. Filonow. W. Kandinsky vereinigte in seinem Werk Einflüsse des dt. Expressionismus (»Blauer Reiter«, München) und der russ. Volkskunst. K. S. Malewitsch entwickelte den Suprematismus. W. E. Tatlin bereitete mit seinen Reliefs den Weg zum Konstruktivismus.
⃟ Sowjetische Kunst Die avantgardist. Architekturideen der ersten Revolutionsjahre von Tatlin, El Lissitzky, Malewitsch, Gabo u. a. sind kaum zur Verwirklichung gelangt. Konstruktivist. Bestrebungen wirkten jedoch bis in die 1930er-Jahre fort. Um 1930 begann sich die Baukunst stärker an die nat. Tradition anzuschließen (Schtschussew). Den Architekten der Stalinära fielen umfassende städtebaul. Aufgaben zu (1935 Generalplan der Umgestaltung Moskaus). 1955 wandte man sich einer sachlicheren und wirtschaftlicheren Bauweise zu. Nach der Oktoberrevolution sahen es v. a. die Vertreter der Avantgarde als ihre Aufgabe an, am Aufbau der neuen Gesellschaft mitzuwirken. In der Phase des Bürgerkriegs bis 1920 beteiligten sich Künstler wie Chagall, S. W. Gerassimow, Malewitsch, Kandinsky und Petrow-Wodkin an der revolutionären Gestaltung von ganzen Straßen und Plätzen. W. W. Majakowski u. a. prägten die Agitationskunst (ROSTA-Fenster). Parallel zu einer experimentellen konstruktivist. »Laboratoriumskunst« wollte man die Vorstellungen des Konstruktivismus in der angewandten Kunst und der industriellen Produktion nutzbar machen (Lissitzky, Tatlin, Ljubow, S. Popowa). Daneben pflegten Künstler wie Petrow-Wodkin, Sarjan und W. A. Faworski einen »maler.«, die in der Gruppe OST (Gesellschaft der Staffeleimaler, 1924 gegr.) organisierten Künstler (u. a. A. A. Deineka, Filonow) einen vom Konstruktivismus abgeleiteten Realismus. Mit dem 1. Fünfjahrplan (1928) wurde von der KPdSU die Mobilisierung aller Künstler für Agitationszwecke angeordnet (»Kulturfeldzug«, »Kommandierung« der Künstler in die Kolchosen und Fabriken). Die in der 1928 gegründeten Gruppe »Oktjabr« organisierten Avantgardisten (u. a. A. A. Dejneka, D. Moor, G. Kluzis, A. Rodtschenko, El Lissitzky, S. Telingater, S. Eisenstein, Brüder Wesnin) versuchten noch einmal, mit ihrer Kunst die reale Neukonstruktion der Gesellschaft aufklärend-agitatorisch vorwegzunehmen. Die künstler. Reaktion, unterstützt durch die Partei, setzte sich jedoch mit der 1932 verfügten Auflösung aller Künstlergruppen durch. Auf dem 1. Schriftstellerkongress 1934 wurde auch für die bildende Kunst der »sozialist. Realismus« als künstler. Prinzip verbindlich festgelegt. Die akadem. Gattungsmalerei erfuhr wieder einen Aufschwung, in der Architektur lebte der Historismus auf (palastartige Metrostationen), in der Plastik entstanden Monumentalskulpturen (z. B. Wera I. Muchina). Die vorsichtige »Entstalinisierung« nach 1956 ermöglichte eine differenziertere Kunstszene (B. Birger, W. Sidur, W. Iwanow, E. I. Neiswestnyj, A. Brussilowski, E. Bulatow, I. I. Kabakow, F. Infante). Neben der »offiziellen« Kunst gab es zahlr. »inoffizielle« Künstler und Privatausstellungen sowie erneut (wie schon in den 20er-Jahren) eine bed. russ. Künstleremigration, u. a. L. W. Nussberg, E. I. Neiswestnyj. Neuen Auftrieb erhielt die r. K. im Zuge der Perestroika. Politisch geprägt ist der Ansatz von D. Wrubel. Künstler wie S. Gundlach, einer der Initiatoren des Aufbruchs Anfang der 80er-Jahre (Gruppe »Fliegenpilz«) und N. I. Schlinskaja greifen u. a. auf religiöse Inhalte zurück. Andere Künstler versuchen in ihren komplexen Rauminstallationen, die die künstler. Strategien der europäisch-amerikan. Fluxus-Bewegung aufgreifen, die eigene erlebte Wirklichkeit in die ästhetisch verfremdende Inszenierung einzubringen.
▣ Literatur:
I. E. Grabár Geschichte der r. K., hg. v. u. a., 6 Bde. Aus dem Russ. Dresden 1957-76.
⃟ Bunin, A. W.: Geschichte des russ. Städtebaues bis zum neunzehnten Jh. Berlin 1961.
⃟ Fänsen, H. u. a.: Altruss. Baukunst. Berlin 21974.
⃟ Gray, C.: Das große Experiment. Die r. K. 1863-1922. Aus dem Engl. Köln 1974.
⃟ Golomštok, I. u. Glezer, A.: Unofficial art from the Soviet Union. London 1977.
⃟ Kunstdenkmäler in der Sowjetunion, hg. v. R. Hootz, Bd. 1: Moskau u. Umgebung. München 1978.
⃟ Zwischen Revolutionskunst u. sozialist. Realismus, hg. v. H. Gaßner u. E. Gillen. Köln 1979.
⃟ Fänsen, H. u. Beyer, K. G.: Kirchen u. Klöster im alten Rußland. Neuausg. Wien 1983.
⃟ Geschichte der r. K. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, bearb. v. M. W. Alpatow u. a. Aus dem Russ. Gütersloh 1986.
⃟ 1000 Jahre r. K., bearb. v. E. Weiher, Ausst.-Kat. Schleswig-Holstein. Landesmuseum Schleswig. München 1988.
⃟ Bown, M. C.: Zeitgenöss. r. K. Aus dem Engl. Oxford 1989.
⃟ Russ. Avantgarde im 20. Jh., hg. v. E. Weiss, Ausst.-Kat. Museum Ludwig, Köln. München 1993.
⃟ Krieger, V.: Von der Ikone zur Utopie. Kunstkonzepte der russischen Avantgarde. Köln 1998.
⃟ Altrussische Kunst Architektur: Vorbild für die ersten großen Werke der Baukunst, die Sophienkirchen in Kiew (1037 begonnen) und Nowgorod (1045-50), war die byzantin. Kreuzkuppelkirche. Die Außengliederung der großen Nowgoroder Kirchenbauten Nikolo-Dworischtschenski im Jaroslawhof (1113), der Kirchen des Jurjewklosters (1119) und des Antoniusklosters (1117) zeigt Ähnlichkeit mit der roman. Baukunst. Von der Mitte des 12. Jh. bis zur Mitte des 13. Jh. entstand im Fürstentum Wladimir-Susdal eine auf Schmuckwirkung bedachte abendländ., bes. lombard. Einflüssen offenere Baukunst. In der 2. Hälfte des 14. Jh. entwickelte Nowgorod einen eigenständigen Kirchenbau: Abdeckung des kub. Baukörpers durch zwei sich kreuzende Satteldächer, Kleeblattbögen als Abschluss der Außenwände (Kirche Fjodor Stratilat, 1360/61; Erlöserkirche auf der Iljastraße, 1374). Der Wehrbau des Kreml in Moskau beeinflusste die übrigen Kremlanlagen Russlands (Nowgorod, 1484-90; Nischni Nowgorod, 1500/11; Tula, 1514-21) und die Wehrarchitektur der Klöster. Die von Italienern gebauten Kathedralen des Kreml verkörpern den Typ der Kreuzkuppelkirche mit fünf Kuppeln: Uspenskikathedrale (1475-79) und Erzengel-Michael-Kathedrale (1505-08).
Im Innern der Kirchen wurde durch die immer höher werdende Ikonostase der Priesterchor vom Gemeinderaum getrennt. Unter dem Einfluss des Holzbaues entstanden turmartige, sich nach oben verjüngende »Zeltdachkirchen«, z. B. die Himmelfahrtskirche in Kolomenskoje (1532) und die neuntürmige Basiliuskathedrale in Moskau (1555-60). Der Holzbau erreichte im 17. Jh. mit dem Zarenpalast in Kolomenskoje (1667-81) einen letzten Höhepunkt.
Auch in der Spätzeit (17. Jh.) der altruss. Kunst blieben Kreuzkuppelkirche und Zeltdach für den Kirchenbau bestimmend; kennzeichnend ist der Drang zur Höhenentwicklung, zu reicher Gliederung und zur Dekoration. Große Bautätigkeit entwickelte sich in den Handelsstädten an der mittleren Wolga, bes. in Jaroslawl. In Moskau entstanden turmartige Zentralbauten, deren unterer Teil vierpassartig ausgebuchtet und von weitläufigen Galerien und Freitreppen umgeben ist (Pokrowkirche in Fili, 1690-93).Plastik: Bis zum 17. Jh. dominierte das Relief, das sowohl byzantin. (Kiew, Reliefplatten, 11. Jh.) als auch abendländ., bes. lombard. Einflüsse (Bauplastik in Wladimir-Susdal, 12./13. Jh.) verarbeitete.Malerei: Die ersten Werke der Malerei orientierten sich an byzantin. Vorbildern (Mosaiken und Wandmalereien der Sophienkirche in Kiew, 1046-um 1067). Auch die Fresken und Ikonen der folgenden Jh. zeigen einen von Byzanz geprägten Stil. Neue Impulse erhielt die Malerei Nowgorods durch Theophanes den Griechen (Fresken der Erlöserkirche auf der Iljastraße, 1378), dessen expressiver Stil neben der verinnerlichten Andachtskunst von A. Rubljow auch in Moskau bestimmend war. Beide waren beteiligt an der Ikonostase der Verkündigungskathedrale im Moskauer Kreml (1405). Führender Meister um 1500 war Dionissi (Fresken im Theraponteskloster bei Wologda, 1500-02). Im 16. Jh. wurde die Thematik der Ikonen reicher und komplizierter. Seit der Mitte des 17. Jh. veränderte sich in der Wandmalerei das Bildprogramm, dessen Hauptthema jetzt Geschehnisse des N. T. wurden, und die Darstellung, die eine neue Wirklichkeitsauffassung zeigte. Die Ikonenmalerei erlebte um 1600 eine Nachblüte mit den Werken der »Stroganowschule«. Im 17. Jh. traten neben Architektur- und Ereignisbildern die ersten Bildnisse auf. Hauptmeister der 2. Jh.hälfte war der Hofmaler S. F. Uschakow.
⃟ Neurussische Kunst Architektur: Mit der Gründung Sankt Petersburgs (1703) drangen neue Prinzipien des Städtebaus und der Architektur nach Russland. Die neue Hptst. wurde in großen Dimensionen geplant und in der ersten Generation hauptsächlich von westeurop. Architekten gebaut. Der nüchtern-strenge Stil der Gründungsperiode wurde v. a. von D. Trezzini geprägt (Peter-und-Pauls-Kathedrale, 1712-32). Um die Mitte des 18. Jh. wurde B. F. Rastrelli zum führenden Baumeister. In seinen ausgedehnten Palastbauten (Winterpalais in Sankt Petersburg, 1754-63; Großes Katharinenpalais in Zarskoje Selo, heute Puschkin, 1752-57) entwickelte er auf italien. Grundlage eine russ. Sonderform des Spätbarock. Unter Katharina II. wurde die Formensprache der Architektur in Sankt Petersburg gemäßigter und leitete zum frühen Klassizismus über (Akademie der Künste, 1764-88, und Kleine Eremitage, 1764-67 von J.-B. Vallin de la Mothe; Schloss Pawlowsk, 1782-86 von Charles Cameron; Akademie der Wiss., 1783-89 von G. Quarenghi). An der klassizist. Architektur (»Petersburger Empire«) waren v. a. russ. Baumeister beteiligt (A. D. Sacharow: Admiralität, 1806-23; W. P. Stassow u. a.). Spätklassizismus und Eklektizismus der Jh.mitte wurden in Sankt Petersburg großenteils von Ausländern vertreten (A. R. de Montferrand, L. von Klenze, A. Stackenschneider). Gegen Ende des Jh. kam es bes. in Moskau zu einer Neubelebung altruss. Bauformen (Histor. Museum von Sherwood, 1875-83). In der Folgezeit traten zunehmend historisierende Tendenzen hervor (Tretjakow-Galerie, um 1900). Sie prägten auch die Architektur des russ. Jugendstils (Jaroslawler Bahnhof in Moskau von F. O. Schechtel, 1902).Plastik: Die ersten Bildhauer in Sankt Petersburg waren Ausländer: A. Schlüter (Reliefs am Sommerpalais), B. C. Rastrelli (Büste Peters d. Gr.), É.-M. Falconet (Reiterdenkmal Peters d. Gr.). Im Klassizismus erreichte die russ. Plastik Höhepunkte in der Denkmals- und Grabmalskunst (I. G. Martos, B. I. Orlowski) und in den Skulpturen der Petersburger Admiralität (F. F. Schtschedrin, I. I. Terebenew). Spätklassizist. Skulpturen an Monumentalbauten nach den Napoleon. Kriegen stammen u. a. von S. S. Pimenow und W. I. Demut-Malinowski. F. P. Tolstoi schuf kleinformatige Reliefs, M. Antokolski bemühte sich um psychologisierende Darstellung histor. Persönlichkeiten, das Schaffen von P. P. Trubezkoi zeigt impressionist. Züge, Anna S. Golubkina griff sozialkrit. Themen auf. A. Archipenko und J. Lipchitz leisteten in Paris ihren Beitrag zum Kubismus, in Moskau prägten W. J. Tatlin, A. M. Rodtschenko, A. Pevsner und N. Gabo den russ. Konstruktivismus.Malerei: Die neue russ. Malerei begann im 18. Jh. mit Porträts und der Ausmalung von Palästen im Stil des Rokoko (F. S. Rokotow, D. G. Lewizki). Das empfindsame Bildnis wurde um 1800 bes. von W. L. Borowikowski gepflegt. Der Klassizismus ist am reinsten in den streng linearen Zeichnungen des Bildhauers F. Tolstoi ausgeprägt. Die Bildnisse von O. A. Kiprenski, v. a. aber die Porträts und Historienbilder von K. P. Brüllow sind von romant. Geist erfüllt. A. A. Iwanows Studien und Entwürfe zu seinem Hauptwerk »Christus erscheint dem Volke« bilden Höhepunkte der r. K. des 19. Jh. Hauptvertreter der romant. Landschaftsmalerei war Schtschedrin. I. K. Aiwasowski schuf dramat. Seestücke.
Zu Beginn des 19. Jh. entwickelte sich eine realist. Genremalerei. Trug diese Malerei bei A. G. Wenezianow noch vorwiegend idyll. Charakter, so nahm sie bei P. A. Fedotow kritisch-iron. Züge an. Der Protest gegen die Akademie führte die Maler des Realismus 1870 zur Gründung der Genossenschaft der Peredwischniki, die einige Jahrzehnte lang das künstler. Leben Russlands beherrschten. Ihre Mitgl., wie W. J. Makowski, G. G. Mjassojedow, W. G. Perow, A. J. Archipow und K. A. Sawizki, bemühten sich um milieugenaue Wiedergabe des ärml. Landlebens. Als Porträtmaler traten bes. I. N. Kramskoi, Perow, I. J. Repin und N. A. Jaroschenko hervor. N. N. Ge, v. a. aber Repin und W. I. Surikow stellten der klassizistisch-akadem. Tradition eine lebendige, realist. Historienmalerei entgegen. I. I. Schischkin schilderte die russ. Landschaft in ep. Breite, das Werk I. I. Lewitans hat impressionist. Züge. Hauptvertreter des Impressionismus sind K. A. Korowin und W. A. Serow. Ein bed. Einzelgänger war der kritisch protokollierende Schlachtenmaler W. W. Wereschtschagin. Der den Symbolismus vertretende M. A. Wrubel führte mytholog. Themen in die r. K. ein. In provokativer Abkehr von der sozialen Thematik der Peredwischniki entstand 1899 die Vereinigung »Welt der Kunst« (»Mir iskusstwa«), zu der A. N. Benois, K. A. Somow, L. S. Bakst, E. E. Lansere u. a. gehörten. Der selbstgenügsame Ästhetizismus dieser Gruppe wurde durch den Symbolismus und Neoprimitivismus der 1907 zum ersten Mal ausstellenden Künstlergruppe »Blaue Rose« (Golubaja rosa, u. a. P. W. Kusnezow, M. S. Sarjan, N. P. Krymow) abgelöst. Zu ihrem Umkreis gehörte auch K. S. Petrow-Wodkin. Die Ausstellungen der Gruppe »Karo-Bube« (Bubnowy walet) zw. 1910 und 1917, an denen fast alle bed. Künstler der Periode einmal teilnahmen, dokumentierten den starken Einfluss des Kubismus, Futurismus, des Expressionismus und der Fauves. Der Kern der Gruppe (P. P. Kontschalowski, I. I. Maschkow, R. R. Falk u. a.) wurde als Moskauer Cézannisten bekannt. Die Gründungsmitgl. M. F. Larionow und Natalia S. Gontscharowa organisierten bald eigene, künstlerisch radikalere Ausstellungen. Ihr Stil entwickelte sich zum Rayonismus. Einen melancholisch-myst. Expressionismus entwickelten M. Chagall und P. N. Filonow. W. Kandinsky vereinigte in seinem Werk Einflüsse des dt. Expressionismus (»Blauer Reiter«, München) und der russ. Volkskunst. K. S. Malewitsch entwickelte den Suprematismus. W. E. Tatlin bereitete mit seinen Reliefs den Weg zum Konstruktivismus.
⃟ Sowjetische Kunst Die avantgardist. Architekturideen der ersten Revolutionsjahre von Tatlin, El Lissitzky, Malewitsch, Gabo u. a. sind kaum zur Verwirklichung gelangt. Konstruktivist. Bestrebungen wirkten jedoch bis in die 1930er-Jahre fort. Um 1930 begann sich die Baukunst stärker an die nat. Tradition anzuschließen (Schtschussew). Den Architekten der Stalinära fielen umfassende städtebaul. Aufgaben zu (1935 Generalplan der Umgestaltung Moskaus). 1955 wandte man sich einer sachlicheren und wirtschaftlicheren Bauweise zu. Nach der Oktoberrevolution sahen es v. a. die Vertreter der Avantgarde als ihre Aufgabe an, am Aufbau der neuen Gesellschaft mitzuwirken. In der Phase des Bürgerkriegs bis 1920 beteiligten sich Künstler wie Chagall, S. W. Gerassimow, Malewitsch, Kandinsky und Petrow-Wodkin an der revolutionären Gestaltung von ganzen Straßen und Plätzen. W. W. Majakowski u. a. prägten die Agitationskunst (ROSTA-Fenster). Parallel zu einer experimentellen konstruktivist. »Laboratoriumskunst« wollte man die Vorstellungen des Konstruktivismus in der angewandten Kunst und der industriellen Produktion nutzbar machen (Lissitzky, Tatlin, Ljubow, S. Popowa). Daneben pflegten Künstler wie Petrow-Wodkin, Sarjan und W. A. Faworski einen »maler.«, die in der Gruppe OST (Gesellschaft der Staffeleimaler, 1924 gegr.) organisierten Künstler (u. a. A. A. Deineka, Filonow) einen vom Konstruktivismus abgeleiteten Realismus. Mit dem 1. Fünfjahrplan (1928) wurde von der KPdSU die Mobilisierung aller Künstler für Agitationszwecke angeordnet (»Kulturfeldzug«, »Kommandierung« der Künstler in die Kolchosen und Fabriken). Die in der 1928 gegründeten Gruppe »Oktjabr« organisierten Avantgardisten (u. a. A. A. Dejneka, D. Moor, G. Kluzis, A. Rodtschenko, El Lissitzky, S. Telingater, S. Eisenstein, Brüder Wesnin) versuchten noch einmal, mit ihrer Kunst die reale Neukonstruktion der Gesellschaft aufklärend-agitatorisch vorwegzunehmen. Die künstler. Reaktion, unterstützt durch die Partei, setzte sich jedoch mit der 1932 verfügten Auflösung aller Künstlergruppen durch. Auf dem 1. Schriftstellerkongress 1934 wurde auch für die bildende Kunst der »sozialist. Realismus« als künstler. Prinzip verbindlich festgelegt. Die akadem. Gattungsmalerei erfuhr wieder einen Aufschwung, in der Architektur lebte der Historismus auf (palastartige Metrostationen), in der Plastik entstanden Monumentalskulpturen (z. B. Wera I. Muchina). Die vorsichtige »Entstalinisierung« nach 1956 ermöglichte eine differenziertere Kunstszene (B. Birger, W. Sidur, W. Iwanow, E. I. Neiswestnyj, A. Brussilowski, E. Bulatow, I. I. Kabakow, F. Infante). Neben der »offiziellen« Kunst gab es zahlr. »inoffizielle« Künstler und Privatausstellungen sowie erneut (wie schon in den 20er-Jahren) eine bed. russ. Künstleremigration, u. a. L. W. Nussberg, E. I. Neiswestnyj. Neuen Auftrieb erhielt die r. K. im Zuge der Perestroika. Politisch geprägt ist der Ansatz von D. Wrubel. Künstler wie S. Gundlach, einer der Initiatoren des Aufbruchs Anfang der 80er-Jahre (Gruppe »Fliegenpilz«) und N. I. Schlinskaja greifen u. a. auf religiöse Inhalte zurück. Andere Künstler versuchen in ihren komplexen Rauminstallationen, die die künstler. Strategien der europäisch-amerikan. Fluxus-Bewegung aufgreifen, die eigene erlebte Wirklichkeit in die ästhetisch verfremdende Inszenierung einzubringen.
▣ Literatur:
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⃟ Gray, C.: Das große Experiment. Die r. K. 1863-1922. Aus dem Engl. Köln 1974.
⃟ Golomštok, I. u. Glezer, A.: Unofficial art from the Soviet Union. London 1977.
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⃟ Fänsen, H. u. Beyer, K. G.: Kirchen u. Klöster im alten Rußland. Neuausg. Wien 1983.
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