Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Renaissance
Renaissance [rənɛ'sã:s, frz. »Wiedergeburt«] die, die Zeit von etwa 1350 bis in die Mitte des 16. Jh. als die Zeit der Wiedererweckung des klass. Altertums und des Wiederaufblühens der Künste, dann der kulturelle Zustand der Übergangszeit vom MA. zur Neuzeit, bes. in Italien (italien. rinascita). Der Begriff steht in Beziehung zu dem des Humanismus, richtet sich aber auf die Gesamtkultur des Zeitraums. Seit dem 19. Jh. ist er auch gebräuchlich für andere geistige und kulturelle Bewegungen, die bewusst an ältere Traditionen anknüpfen (z. B. die karoling. R.).Allgemeines: R. als Epochenbegriff ist im 19. Jh. u. a. von J. Michelet und J. Burckhardt geprägt worden. Die damit verbundene Vorstellung der »Wiedergeburt« ist bereits im 14./15. Jh. in Italien belegt. Seit dem 18. Jh. (Voltaire, E. Gibbon) galt die gesamte italien. Kultur des 14.-16. Jh. als richtungweisend für die europ. Entwicklung. Für J. Burckhardt schließlich wurde die (weltl.) Ausprägung der Persönlichkeit zum wichtigsten Merkmal der Renaissance. Die Forschung des 20. Jh. (K. Burdach, J. Huizinga, E. R. Curtius) weist wieder auf die Kontinuität der Bewahrung antiker Kultur schon im MA. in den Klöstern hin, dennoch bleibt R. als Epochenbegriff für die Zeit des Übergangs vom MA. zur Neuzeit erhalten.
Seit der 2. Hälfte des 14. Jh. begann bei den selbstbewussten, reichen Fürstenhöfen und Stadtrepubliken N- und Mittelitaliens die Lösung von der mittelalterlichen kirchl. und feudalen Ordnung und damit eine gesellschaftl. Umstrukturierung, in deren Folge eine von Adel und Bürgertum getragene weltl. Kultur entstand. In den Stadtstaaten kam eine neue Staatskunst auf, die mit der Lehre von der Staatsräson (N. Macchiavelli) in Europa dem polit. Realismus zum Durchbruch verhalf. Der durch den Handel hervorgebrachte Reichtum hatte verfeinerten Lebensgenuss, Bejahung der Sinnlichkeit, v. a. aber Mäzenatentum zur Folge; die Künstler erhielten Aufträge, um den Ruhm der Herrschenden zu verewigen.
Die R. blieb nicht auf die Stadtstaaten Italiens beschränkt (um 1450 hatte sich auch im päpstl. Rom eine ganz der neuen Kultur verpflichtete Atmosphäre entwickelt), sondern erstreckte sich mit zeitl. Verzögerungen über große Teile Europas. Das R.-Zeitalter war nicht nur das der großen geograph. Entdeckungen (Entdeckungsgeschichte), sondern auch ein Zeitalter der Bildungsreisen.
Durch die Italienfeldzüge Karls VIII. und Ludwigs XII. kam die R.-Kultur nach Frankreich. Nördlich der Alpen bestimmten die religiösen, polit. und wirtsch. Kämpfe von Reformation und Bauernkrieg die Zeit. Zugleich trugen Gelehrte und Erfinder dort wesentlich zu einem neuen Weltbild bei (Kopernikus, R. Agricola, J. Gutenberg). Maximilian I. förderte im Hl. Röm. Reich umfassend Kunst und Kultur; in Ungarn verkörperte Matthias I. Corvinus den Typ des R.-Fürsten, ähnlich in Polen-Litauen Sigismund I. mit seinem Krakauer Hof. In SO-Europa war die Adelsrepublik Ragusa (Dubrovnik) in Anlehung an Italien ein Zentrum der Renaissance.Kunst: Die charakterist. Züge der R. sind am deutlichsten in der bildenden Kunst und Architektur verwirklicht, bes. in der Italiens. Hier löste der neue Stil seit etwa 1400 die Gotik ab (Früh-R.), erreichte um 1490-1510 seinen Höhepunkt (Hoch-R.) und erlebte 1510/20-1600 noch eine lange, stilistisch durch neue Merkmale geprägte Phase (Spät-R., meist dem Manierismus gleichgesetzt). Die Erforschung des Überlieferungsbestandes wird erleichtert durch die reiche Kunstliteratur aus der Zeit. Im Unterschied zum MA. sind nun volle Signaturen und biograph. Fakten bekannt (u. a. durch Vasari). Schon Vasari spricht von der »Rinascita« (»Wiedergeburt«) der Kunst seit dem 14. Jh. und meinte damit die durch die Überwindung des MA. wieder erstehende Kunst, die sich erstmals seit der Antike wieder am Naturvorbild orientierte. Unter Naturvorbild wird aber nicht getreue Abbildung der Wirklichkeit verstanden, sondern die Veranschaulichung der vollkommenen Natur, der Natur in ihrer Idealität. Für dieses Ziel der R. konnte die Antike Vorbild sein. Der Übergang von der Gotik zur R. war fließend (Vorstufen bilden z. B. die Fresken Giottos oder die Triforiumsbüsten P. Parlers im Veitsdom von Prag). Ausgangspunkt und Zentrum der Früh-R. war das republikan. Florenz. Am Beginn der Kunst der Früh-R. steht die Skulptur. Donatello und Nanni di Banco schufen die Statue der Neuzeit, in der nicht mehr das Gewand Ausdrucksträger ist, sondern der in seiner organ. Funktion begriffene menschl. Körper. Dabei wird das antike Prinzip des Ausgleichs zw. Spielbein und Standbein (Kontrapost) wieder aufgenommen. Den Reliefstil der R. prägte Ghiberti (Paradiestür des Baptisteriums, Florenz, 1425-52), nachdem F. Brunelleschi mit seinem als Wettbewerbsentwurf für das Baptisterium entstandenen Relief (1401-03) eine Vorreiterrolle zuzuweisen ist. Während Donatello den Schritt zur frei stehenden Figur tat (»David«, nach 1427, Florenz, Bargello; Reiterstandbild des Gattamelata in Padua, 1447-53), entwickelte Brunelleschi in der Architektur aus den antiken Elementen eigene Proportions- und Gestaltungsvorstellungen, deren Maß der Mensch ist - im Unterschied zur got. Kathedralbaukunst, die den Menschen übersteigen will. Die Säule wird als das dem menschl. Körper am engsten verwandte Architekturglied verwendet; jedes einzelne Element wird sowohl zu dem benachbarten Element als auch zu dem Gesamten des Baues in ein wohl berechnetes Verhältnis gesetzt. Die bed. Bautätigkeit Brunelleschis in Florenz, wo er seit 1418 wichtige Aufträge erhielt, beeinflussten die gesamte weitere Entwicklung der R.-Architektur. Masaccio übertrug die von Brunelleschi entwickelten Regeln der zentralperspektiv. Projektion auf die Gemäldefläche (Dreifaltigkeitsfresko in Santa Maria Novella in Florenz, um 1425). Außerhalb von Florenz setzten u. a. A. Mantegna, Piero della Francesca, Perugino, L. Signorelli und in Venedig Giovanni Bellini die neue Kunstauffassung um.In der Hoch-R. wurden diese Ideen im Wesentlichen von Bramante in der Architektur, von Leonardo da Vinci und Raffael in der Malerei und von Michelangelo in der Bildhauerei und Malerei weiterentwickelt und in Rom zu höchster Blüte gebracht. Die frühesten Zeugnisse der Hoch-R. waren neben Leonardos Abendmahl (1495-97; Mailand, Santa Maria delle Grazie) die Skulptur der »Pietà« von Michelangelo (1498-1500; Rom, Peterskirche) und der Zentralbauentwurf Bramantes für den Neubau der Peterskirche in Rom. In der Architektur lebt die Hoch-R. fort im Gartensaal der von Raffael 1516 entworfenen Villa Madama und den beiden ersten Geschossen des Palazzo Farnese (begonnen 1541 von G. da Sangallo) in Rom. Höhepunkte der R.-Malerei sind die Fresken Raffaels in den Stanzen des Vatikans (1508-17) und die monumentale Deckengestaltung in der Sixtin. Kapelle durch Michelangelo (1508-12). Die Einfachheit und Klarheit dieser Werke werden im Spätstil Raffaels wie Michelangelos (das »Jüngste Gericht« auf der Altarwand der Sixtin. Kapelle, 1536-41) durch einen zunehmend schwierigeren Bildaufbau, eine kompliziertere Formensprache und Themendeutung abgelöst, die auf einen neuen Stil verweisen, den Manierismus. In Venedig fanden die ästhet. Vorstellungen der Hoch-R. in den Gemälden Giorgiones eine poet. Ausformung und blieben im Werk Tizians und Tintorettos länger wirksam. Als 1527 die Truppen Karls V. Rom plünderten (Sacco di Roma), war dort jedoch die Zeit der Hoch-R. bereits vorbei.
Im 15. Jh. sind nördlich der Alpen gewisse Parallelentwicklungen zu den Neuerungen der Kunst in Italien festzustellen. Zentren sind hier bes. die reichen Handelsstädte in Flandern und Süd-Dtl. Einige niederländ. und süddt. Bildhauer (H. Multscher, N. Gerhaert von Leyden) und Maler (R. Campin, Jan van Eyck, Rogier van der Weyden, L. Moser, K. Witz) zeigen die gleiche Leidenschaft für die Darstellung von Körper und Raum sowie deren wechselseitige Beziehung wie die R.-Künstler in Florenz. Allerdings befassen sie sich nicht mit den theoret. Gesetzmäßigkeiten, vielmehr steht die Beobachtung im Vordergrund. Im ersten Drittel des 15. Jh. entsteht hier wie dort, unabhängig voneinander, das individuelle Porträt. Für die Zeit von 1460-70 spricht man von einer »Regotisierung«, was ebenso in Italien zu beobachten ist.
Im 16. Jh. erreichte das Vorbild der italien. R. fast alle europ. Länder. Die souveräne Verarbeitung der italien. R. ist A. Dürer, der sich 1494/95 und 1505-07 in Italien aufhielt, gelungen. Auch die Maler H. Holbein d. J., L. Cranach, M. Grünewald und A. Altdorfer nahmen Elemente der italien. Hoch-R. auf, sehr stark z. B. H. Burgkmair, in der Plastik H. Leinberger, C. Meit, P. Vischer d. J., H. Daucher, L. Hering und P. Flötner. In der Baukunst der dt. R. wird der italien. Einfluss u. a. in der Grabkapelle der Fugger in Augsburg (1509-18) oder im Bau der Landshuter Residenz (1536-43) fassbar. In der Weser-R. und im Ottheinrichsbau des Heidelberger Schlosses (1556 ff.) zeigen sich auch niederländ. Einflüsse. Die durch niederländ. Kupferstecher verbreiteten Stiche italien. Architektur und Gemälde führten im 16. Jh. zum Romanismus . Bestimmend für die weit ausstrahlende manierist. Bauornamentik der 2. Hälfte des 16. Jh. wurde C. Floris.
Der künstler. Einfluss der italien. R. in Frankreich kam seit dem Aufenthalt Leonardo da Vincis am frz. Königshof (1517) und über den unter Einfluss Bramantes stehenden frz. Architekten und Architekturtheoretiker P. Delorme zur Geltung. Eine Reihe der Loire-Schlösser zeigen den frz. Formenkanon. Die Malerei zeigt bei J. Fouquet, J. Perréal und J. Clouet den Einfluss der klassischen italien. Renaissance, den italien. Manierismus trug die erste Schule von Fontainebleau nach Frankreich. Für die manierist. Architektur wurde der von B. Peruzzi beeinflusste S. Serlio wichtig. In England verschmolzen italien. Einflüsse mit Elementen der Gotik zum Tudorstil und zum elisabethan. Stil. In der Malerei setzte sich die R. seit dem ersten Aufenthalt (1526) von H. Holbein d. J. in England durch. In Spanien gehören der Palast Karls V. in der Alhambra (1526 ff.) und die Kathedrale in Granada, 1523 im got. Stil begonnen und 1528 von D. de Siloé im R.-Stil weitergebaut, zu den Zeugnissen reiner R.-Baukunst, sowie aus der zweiten Jh.hälfte der Escorial. In der Malerei führte P. Berruguete den Stil der italien. R. ein, sein Sohn A. Berruguete ist ein Hauptvertreter des span. Platereskenstils in Dekoration und Baukunst der ersten Hälfte des 16. Jh. - Die Wirkung der R. blieb nicht auf das 16. und auslaufend z. T. noch 17. Jh. beschränkt; sie erlangte erneut Bedeutung im Klassizismus (18./19. Jh.) und Historismus (19. Jh.).Literatur: Der Geist des Humanismus bestimmte auch die Literatur der Renaissance. In Florenz wurde Latein schon im letzten Viertel des 14. Jh. und seit 1397 auch Griechisch gelehrt, es bildeten sich humanist. Zirkel und 1459 wurde die Platon. Akademie gegründet. Mit F. Petrarca hatte die Rückbesinnung auf das klass. Latein und die Erneuerung der antiken Gattungen begonnen (u. a. Epistel, Ekloge, Biographie, Epos), gleichzeitig die Hinwendung zur Volkssprache, zur Nationalliteratur. L. Ariosto, T. Tasso und L. V. de Camões schufen das Nationalepos. In der Dramatik begann mit dem Rückgriff auf die antiken Tragödien und Komödien das moderne europ. Theater. Eine Neuschöpfung der R. war das höf. Festspiel, die Schäferspiele (Pastoralen) sind aufgrund ihrer oft auch musikal. Aufbereitung Vorläufer der Oper. Einen Höhepunkt erreichte die Literatur der R. mit dem elisabethan. Drama (C. Marlowe, W. Shakespeare). Auch der europ. Roman erlangte durch M. de Cervantes Saavedra und F. Rabelais eine neue Qualität. Seit dem großen Erfolg von G. Boccaccios »Decamerone« verbreitete sich die neue Gattung der volkssprachl. Novelle noch im 14. Jh. in England (G. Chaucer) und dann in Frankreich (Margarete von Navarra) und Spanien (Cervantes). Im 16. Jh. blühte die Satire. In Dtl. ist die Literatur der R. fast ausschließlich von humanist. Gelehrsamkeit bestimmt (K. Celtis, U. von Hutten, N. Frischlin, Erasmus von Rotterdam). Erst die Bibelübertragung Luthers legte den Grund für eine Literatur in der Nationalsprache. Auch in den Ländern O- und SO-Europas war die R. - oft ohne deren weltl. Grundhaltung - entscheidend für die Ausprägung einer eigenen Literatursprache.Musik: Der Begriff R.-Musik ist schon insofern problematisch, als die antike Musik in prakt. Beispielen unbekannt war und somit keine »Wiedergeburt« erfahren konnte. Die führenden Komponisten der R.-Musik, d. h. der Musik des 15./16. Jh., standen in der Tradition der niederländ. Musik, die sie nach Italien verpflanzten (mit Ausstrahlungen auch nach Dtl.) und deren Erbe die Meister der venezian. und röm. Schule fortsetzten. Hauptmeister sind Josquin Desprez und A. Willaert, wichtig sind auch dessen Schüler (C. de Rore, A. Gabrieli, N. Vicentino, G. Zarlino). Die bestimmenden Gattungen waren geistl. Natur (Messe, Motette), erst in der Frottola und im italien. Madrigal des 16. Jh. kündigte sich der Beginn der musikal. Neuzeit an. Gleichwohl findet sich am Vorbild der Antike ausgerichtetes Denken bereits in der Musiktheorie seit der 1. Hälfte des 15. Jh., dann bei J. Tinctoris, F. Gaffori, H. L. Glareanus, Vicentino, Zarlino, das schließlich den Boden für die Florentiner Camerata bereitete (V. Galilei, G. Caccini, J. Peri, P. Strozzi), deren Ziel die Wiederbelebung der (antiken) Gesangsmusik als Voraussetzung für einen instrumental begleiteten Sologesang war. Dies führte dann zur Herausbildung der Monodie und der Oper.
Ausgehend von Liedbearbeitungen (Tabulaturen) für Laute oder Orgel (C. Paumann) entsteht mit der R. erstmals eine sich von den vokalen Formen ablösende Instrumentalmusik (Ricercar, Kanzone und Tokkata, bes. für Tasteninstrumente). Aus der Familie der Violen entwickelten sich im 16. Jh. die Violinen. Eine besondere Ausprägung erfuhr die Orgelmusik (J. P. Sweelinck). Im reformator. Dtl. entstand die evang. Kirchenmusik.
Literatur:
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Gerl, H.-B.: Einführung in die Philosophie der R. Darmstadt 1989.
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Burke, P.: Die R. Aus dem Engl. Frankfurt am Main 1996.
Bildende Kunst: Panofsky, E.: Die R. der europ. Kunst. A. d. Engl. Frankfurt am Main 1979.
Murray, P.: Die Architektur der R. in Italien. A. d. Engl. Stuttgart 1980.
Kadatz, H.-J.: Dt. Renaissancebaukunst von der frühbürgerl. Revolution bis zum Ausgang des Dreißigjährigen Krieges. Berlin 1983.
Chastel, A.: Chronik der italien. Renaissancemalerei 1280-1580. A. d. Frz. Würzburg 1984.
Gombrich, E. H.: Zur Kunst der R., 4 Bde. A. d. Engl. Stuttgart 1985-87.
R., bearb. v. A. Cole. A. d. Engl. Stuttgart u. a. 1995.
Literatur: R. u. Barock, bearb. v. A. Buck, 2 Bde. Frankfurt am Main 1972.
Musik: Neues Handbuch der Musikwiss., hg. v. C. Dahlhaus, Bd. 3: Die Musik des 15. u. 16. Jh., hg. v. L. Finscher. Neuausg. Darmstadt 1997.
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