Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Realismus
Realịsmusder,
1) bildende Kunst: allg. Bez. für die Abbildlichkeit dargestellter Wirklichkeit (oft synonym mit Naturalismus gebraucht). R. wird präzisiert als prinzipieller Gegenentwurf sowohl zur normativen Ästhetik wie zur idealist. Kunstauffassung. Realist. Kunst bekennt sich zur (kritischen) Darstellung der vorgefundenen alltägl. anstelle einer »höheren« Realität. R. in diesem Sinne gab es schon vor G. Courbets programmat. Ausstellung »Le réalisme« (1855), bes. in der spätmittelalterl. Kunst bei N. Gerhaert von Leiden, H. Bosch, M. Grünewald, J. Ratgeb, dann z. T. im Porträt (A. Dürer, H. Holbein d. J., L. Cranach d. Ä.), später bei P. Bruegel d. Ä., Caravaggio, J. de Ribera, D. Velázquez, J. Callot, W. Hogarth, F. de Goya y Lucientes, T. Géricault. Doch erst im 19. Jh. tritt R. mit demokrat. Selbstbewusstsein als materialist. Antithese zum »aristokrat.« Idealismus auf. Auch jetzt prägt er stärker die theoret. Auseinandersetzung als das allg. Kunstschaffen. Bezeichnend für den R. ist sein Interesse an der Freilichtmalerei und die Wahl bislang ungewöhnl. Themen (arbeitende Menschen, Industrieanlagen). Er diente u. a. unmittelbar sozialen Intentionen (H. Daumier, Courbet, A. Menzel, W. Leibl sowie den Peredwischniki), im 20. Jh. fortgesetzt als soziale Anklage (H. Zille, K. Kollwitz, M. Beckmann, O. Dix, G. Grosz) oder direkt polit. und gesellschaftskrit. Aussage (P. Picasso, R. Guttuso; J. Heartfield, K. Staeck u. a. Vertreter des Nouveau Réalisme). Im Dienst einer Kunst, die sich häufig mit sozialkrit. oder revolutionären Zügen verbindet, steht der R. beim mexikan. Muralismo und im sozialistischen Realismus. Daneben entstanden im 20. Jh. neue, übersteigerte Formen des R., meist als Reaktion auf expressionist. oder abstrakte Tendenzen. Dazu gehören Surrealismus, der magische Realismus der Neuen Sachlichkeit und vergleichbarer Strömungen, fantastischer Realismus. Die sekundäre Wirklichkeit vorgegebener Bildwelten rückt beim Fotorealismus an die Stelle der primären Wirklichkeit.
Literatur:
Baumgart, F.: Idealismus u. R. 1830 bis 1880. Köln 1975.
R. zwischen Revolution u. Reaktion 1919-1939, hg. v. I. Walther. A. d. Frz. München 1981.
Weisberg, Y. M. u. Weisberg, G. P.: The realist debate, a bibliography of French realist painting, 1830-1885. New York 1984.
2) Literatur: Stil- und Epochenbegriff. a) Als Stilbegriff umschreibt R. ein R.-Verständnis, das sich durch Mitteilung gegebener Tatsachen und Verhältnisse bestimmt und als überzeitl. Konstante bes. in Spät- und Übergangszeiten beobachtet werden kann. In diesem Sinn spricht man von einem R. der spätatt. Tragödie (Euripides) und Komödie (Aristophanes), von einem spätröm. R. (Petronius), bes. aber von einem weithin gattungsgebundenen R. des Spät-MA. (Schwank, Fabliaux, Novelle, Fazetie, Satire); realist. Züge tragen Oster-, Passions- und Fastnachtsspiele, Meistersingerdichtungen und Werke didakt. Literatur. Als realistisch gilt v. a. die Erzähllit. des 17. Jh., die detailtreue Beschreibungen des Lebens der mittleren und niederen Stände enthält (J. J. C. von Grimmelshausen, J. Beer, C. Reuter, P. Scarron). Im 18. Jh. beschreiben H. Fielding und S. Richardson »Innerlichkeitsrealität«. Trotz Schillers grundsätzl. Erörterung der Weltanschauungen »R.« und »Idealismus« blieb der Lit. der Weimarer Klassik und der Romantik die Zuordnung zur realist. Kunst weithin vorenthalten. Die Verwendung des allg. stiltypolog. Begriffs - sieht man von der Epochenbezeichnung im 19. Jh. ab - tritt dann erst wieder in den Kontroversen des 20. Jh. um Neuromantik, Expressionismus, Surrealismus, Neue Sachlichkeit auf, in denen R. eine polem. Bedeutung erhält. Aus diesen Auseinandersetzungen wurde auch der Terminus sozialistischer Realismus entwickelt; damit sollte zugleich eine Abgrenzung vom bürgerl. R. des 19. Jh. und vom krit. R. des 20. Jh. (A. Döblin, L. Feuchtwanger, E. Hemingway, R. Rolland, A. Zweig, H. Mann) gewonnen werden. Für den magischen Realismus ist die Wirklichkeit Chiffre und Symbol für eine andere (mag.) Wirklichkeit. - b) Als Epochenbegriff bezeichnet R. für nahezu alle europ. Literaturen die Zeit zw. 1830 und 1880. Der desillusionist. und sozialkrit. frz. R. (Stendhal, H. de Balzac, G. Flaubert) beeinflusste erheblich die engl. und die russ. Lit. - Bestimmend für die Festlegung des Stil- und Epochenbegriffs R. wurden die Aufsätze von J. Champfleury (»Le réalisme«, 1857). In Dtl. wurde der literar. R. erst nach der Revolution von 1848 zur wichtigen Stilrichtung. Der von O. Ludwig eingeführte Begriff des poet. R. beschreibt eine Wirklichkeitsdarstellung, die sich durch die Subjektivität der Erzählperspektive auszeichnet (J. Gotthelf, G. Keller, A. Stifter, T. Storm, W. Raabe). Zur stilist. und histor. Unterscheidung der Romane T. Fontanes und T. Manns wurde der Terminus bürgerl. R. geprägt. R. als übernat. Erscheinung im 19. Jh. ist belegt mit Werken des vielfach humorist., durch emotional-sozialkrit. Mitleidspathos ausgezeichneten engl. R. (W. M. Thackeray, C. Dickens, G. Eliot) und die sozialutopisch engagierten und zu detaillierter Beschreibung psycholog. Individualwirklichkeit neigenden Romane der russ. Realisten (F. M. Dostojewski, L. N. Tolstoi, I. S. Turgenjew, I. A. Gontscharow); zum sog. symbol. R. gehören bes. die Werke der amerikan. Lit. des 19. Jh. (H. Melville, N. Hawthorne).
Literatur:
Preisendanz, W.: Wege des R. Zur Poetik u. Erzählkunst im 19. Jh. München 1977.
Heitmann, K.: Der frz. R. Wiesbaden 1979.
Europ. R., bearb. v. R. Lauer u. a. Wiesbaden 1980.
Aust, H.: Lit. des R. Stuttgart 21981.
Begriffsbestimmung des literar. R., hg. v. R. Brinkmann. Darmstadt 31987.
Auerbach, E.: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländ. Lit. Tübingen u. a. 1994.
3) Philosophie: a) diejenigen philosoph. Richtungen, die die Wirklichkeit als außerhalb und unabhängig vom Bewusstsein bestehend auffassen. Der naive R. z. B. der Stoa geht von der Identität zw. der Wirklichkeit und dem unmittelbar Erfahrenen aus. Auch der krit. R. (so K. R. Popper) nimmt eine bewusstseinsunabhängige Realität an, jedoch sind reales Objekt und Erkenntnisobjekt nicht identisch, da der Erkenntnisprozess die Leistung des erkennenden Bewusstseins (im Sinn von »Zutat«) einschließt. - Heute wird der R. u. a. durch den Materialismus vertreten; über den Neo- bzw. Neurealismus der engl. und amerikan. Philosophie englische Philosophie, Vereinigte Staaten von Amerika (Philosophie). b) In der Scholastik (Anselm von Canterbury, Wilhelm von Champeaux) bezeichnet R. die dem Platonismus ähnl. Position, dass den Allgemeinbegriffen eine Wirklichkeit (»Realität«) zukommt (Begriffsrealismus) und sie nicht nur bloße Worte sind (Universalienstreit, Nominalismus). In der Tradition der Scholastik steht der Neuthomismus. Moderne Formen des R. (Begriffs-R.) beziehen sich meist auf die unabhängige Existenz mathemat. und log. Gegenstände.
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