Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Physik
Physik[zu grch. physike̅́ (theōrɪa) »Naturforschung«] die, die Wiss. von den Naturvorgängen im Bereich der unbelebten Materie sowie von deren Eigenschaften, die der experimentellen Erforschung, der messenden Erfassung und mathemat. Darstellung zugänglich sind und allgemein gültigen Gesetzen unterliegen. Insbesondere untersucht die P. die Zustandsformen der Materie, ihre Struktur und Bewegung (Veränderung) sowie die diese hervorrufenden Kräfte und Wechselwirkungen. Die P. ist eine für andere Naturwiss. grundlegende, empir. Wissenschaft. Die Anwendung ihrer Methoden und Theorien auf angrenzende Wiss. führte zu Spezialgebieten wie Astro-P. und Kosmologie, Bio-P., Geo-P. und physikal. Chemie. Die wesentl. Aufgabe der P. besteht darin, die Fülle der von ihr untersuchten Naturerscheinungen und -vorgänge (physikal. Phänomene) zu erfassen, zu beschreiben und zu erklären, wobei das method. Vorgehen stets eine Einheit von Theorie und Experiment, Hypothese und Verifikation bildet. Hierin liegt die enge Berührung zw. theoret. und experimenteller P.; aus den durch exakte Beobachtung und Messung (physikal. Experimente) gewonnenen Daten werden die funktionalen Beziehungen zw. den untersuchten physikal. Größen abstrahiert und (in mathemat. Form) als physikal. Gesetze formuliert bzw. zu grundlegenden physikal. Theorien verallgemeinert. Große Bedeutung im physikal. Erkenntnisprozess haben Modellvorstellungen (physikal. Modelle). In der immer wichtiger werdenden Computer-P. werden solche Modelle systematisch in Simulationen mit dem Computer modifiziert. Die Gesamtheit der in den versch. Bereichen der P. entwickelten Modelle und Theorien sowie der daraus resultierenden Erkenntnisse bezeichnet man als physikal. Weltbild.Das Gesamtgebiet der P. wird nach versch. histor. bzw. sachl. Gesichtspunkten in klass. und moderne P., Kontinuums- und Quanten-P. bzw. Makro- und Mikro-P. unterteilt, wobei sich diese Begriffe z. T. überschneiden. Unter dem Begriff klass. Physik fasst man die bis zum Ende des 19. Jh. untersuchten Erscheinungen und Vorgänge zusammen, die anschaulich in Raum und Zeit beschreibbar sind und für die zu Beginn des 20. Jh. abgeschlossene Theorien vorlagen. Kennzeichnend für die klass. P. ist, dass der Einfluss der Messvorgänge auf die Messobjekte und damit auf die Messresultate vernachlässigt werden kann. Ihre Teilbereiche sind: die klass. Mechanik, die Akustik, die Thermodynamik, die Elektrodynamik sowie die Optik. Eine Sonderstellung nimmt die zu Beginn des 20. Jh. entwickelte und daher meist zur modernen P. gezählte Relativitätstheorie ein, die - als Vollendung der klass. Mechanik sowie der newtonschen Gravitationstheorie - auch der klass. P. zugerechnet wird.Die sich seit Beginn des 20. Jh. entwickelnde moderne P. umfasst v. a. die nicht mehr anschaulich in Raum und Zeit beschreibbaren und unstetig ablaufenden Naturerscheinungen und -vorgänge der Mikro-P. Die von ihr untersuchten mikrophysikal. Systeme sind nur im Rahmen der Quantentheorie und auf ihr fußender Theorien beschreibbar, in denen die Bereiche der klass. P. als Grenzfälle enthalten sind. Grundlegende Gebiete der modernen P. sind Atomphysik, Kernphysik, die Elementarteilchen-P. (Hochenergiephysik) in enger Verbindung mit der Kosmologie und Relativitätstheorie (Schaffung einer einheitl. Feldtheorie der Materie). Weitere Schwerpunkte physikal. Forschung betreffen im Zusammenwirken mit Technik, Mathematik und Informatik die P. der kondensierten Materie (z. B. Festkörper-P., Halbleiter-P., Tieftemperatur-P., P. der Supraleiter), die Laser-P. und Plasmaphysik.Geschichte: Der physikal. Gedanke eines Urstoffes wurde von den grch. Philosophen in versch. Weise entwickelt, u. a. Thales (Urstoff ist das Wasser), Anaximander (das »Unbegrenzte«), Anaximenes (Luft), Empedokles (Vier-Elementen-Lehre), Leukipp und Demokrit (Atome) sowie Aristoteles (geozentr. Kosmologie). Fachwiss. Entwicklungen, die sich z. T. schon auf erste planmäßige Versuche stützten, stammten u. a. von Philon von Byzanz (techn. Mechanik, Pneumatik), Euklid (geometr. Optik), Archimedes (Statik, Hydrostatik). Zu wichtigen Erkenntnissen gelangten ferner Heron von Alexandria (Begriff des virtuellen Hebelarms, erstes Minimalprinzip der P.), Ptolemäus (Strahlenbrechung) und Pappus von Alexandria (Aräometer, guldinsche Regeln) sowie Eratosthenes von Kyrene (Bestimmung des Erddurchmessers). Das grch. Wissen wurde seit dem 9. Jh. von islam. Gelehrten gesammelt, fortgebildet und an das Abendland weitergegeben. In der Renaissance wirkte u. a. Kopernikus (heliozentr. Weltbild). - Das 17. Jh. bedeutete die Anerkennung des kopernikanisch-keplerschen Weltsystems, die Ausbildung der Lehre vom Erdmagnetismus (W. Gilbert) und der Kinematik von Fall und Wurf (Galilei). J. Jungius, P. Gassendi und R. Boyle erneuerten die Atomistik; E. Torricelli, B. Pascal und O. von Guericke schufen die Lehre vom Luftdruck und die Vakuumtechnik; Statik und Dynamik machten durch S. Stevin und C. Huygens, die Optik durch J. Kepler, R. Descartes und Snell entscheidende Fortschritte. Newton und Huygens skizzierten erstmals die gegensätzl. Auffassungen vom Licht als Teilchen- und Wellenerscheinung. Eine Krönung dieser Epoche bildeten Newtons Erkenntnisse zur Statik und Dynamik und seine Aufstellung des Gravitationsgesetzes (1682). Die Bernoullis, d'Alembert, L. Euler, J. de Lagrange u. a. entwickelten im 18. Jh. die theoret. Mechanik weiter. Die Wärmelehre wurde durch D. G. Fahrenheit, R.-A. Réaumur, A. Celsius, die Photometrie durch J. H. Lambert, die Elektrizitätslehre durch F. Hawksbee, C. A. Coulomb u. a. gefördert; ausgebaut und vertieft wurde sie im 19. Jh. durch A. Volta (galvan. Stromerzeugung), H. C. Ørsted (Elektromagnetismus), L. Ampère (Elektrodynamik) und M. Faraday (Induktionserscheinungen, elektrochem. Grundgesetze). Neue Entdeckungen führten zur Bestätigung der Wellentheorie des Lichts (T. Young, A. Fresnel), die 1865 durch J. Maxwell (Theorie des elektromagnet. Feldes) mit der Elektrodynamik vereinigt wurde. 1842 entdeckte Julius Mayer das Prinzip von der Erhaltung der Energie; R. Clausius, J. Maxwell und L. Boltzmann gelang es, die Gasgesetze mithilfe der kinet. Gastheorie statistisch zu begründen; sie gab in Verbindung mit den sich häufenden Hinweisen auf die atomist. Struktur der Materie und der Elektrizität an der Wende des 20. Jh. den Anlass zur Aufstellung der Quantenhypothese durch Planck (1900), die den Ursprung der Quantentheorie bildet, und Einstein zur Annahme einer Teilchenstruktur des Lichts (Welle-Teilchen-Dualismus).Der Einstieg in die Mikrophysik wurde ferner durch die Entdeckung der Röntgenstrahlen (W. Röntgen) und der Radioaktivität (A. Becquerel, P. und M. Curie, G. C. Schmidt, E. Rutherford) vorbereitet. Die Entwicklung führte zur Theorie des Atombaus (N. Bohr, 1913) und zur Quanten- und Wellenmechanik der Atome (de Broglie, W. Heisenberg, E. Schrödinger, M. Born, E. P. Jordan, P. Dirac). Die Relativitätstheorie (Einstein) lieferte unerwartete Einblicke in die Zusammenhänge von Raum und Zeit und in die Natur der Gravitation. Durch die Entdeckung der Äquivalenz von Masse und Energie (Einstein) wurde die Unterscheidung der klass. P. zw. Materie und Feldern weitgehend aufgehoben. Das Komplementaritätsprinzip und die heisenbergsche Unschärferelation führten zu einem Umsturz im Weltbild der P., da das im Rahmen der klass. P. uneingeschränkt geltende Prinzip der Determiniertheit im Bereich der Mikro-P. außer Kraft gesetzt wurde. Die aus der quantenmechan. Interpretation der mikrophysikal. Vorgänge folgende Ungültigkeit des Kausalgesetzes hatte über den Bereich der P. hinaus tief greifende Konsequenzen für die allg. Erkenntnistheorie. Die Experimental-P. erlebte ab 1930 eine neue Blüte in der Atom-, Molekül- und Kern-P. Die Arbeiten von Otto Hahn, Lise Meitner u. a. führten zur Entdeckung der Uranspaltung und schließlich zur Gewinnung von Kernenergie (E. Fermi u. a.), aber auch zur Atombombe. Die Fortschritte der Physik der letzten 50 Jahre, insbesondere der Elementarteilchen-P. mit ihren teuren Großgeräten, sind v. a. auf eine zunehmende Spezialisierung und internationale Zusammenarbeit zurückzuführen.
▣ Literatur:
Lacqueneux, R.: Kurze Geschichte der P. Aus dem Frz. Göttingen 1989.
⃟ Feynman, R. P.: Vom Wesen physikal. Gesetze. A. d. Amerikan. München u. a. 1990.
⃟ Heisenberg, W.: P. u. Philosophie, mit einem Beitrag v. G. Rasche u. B. van der Waerden. A. d. Engl. Stuttgart 51990.
⃟ Encyclopedia of applied physics, hg. v. G. L. Trigg u. a., auf zahlr. Bde. ber. New York u. a. 1991 ff.
⃟ Einstein, A.: Mein Weltbild. Neuausg. Frankfurt am Main 1993.
⃟ P., bearb. v. P. A. Tipler. A. d. Amerikan. Heidelberg u. a. 1994.
⃟ Weizsäcker, C. F. von: Aufbau der P. Neuausg. München 31994.
⃟ Hund, F.: Geschichte der physikal. Begriffe. Heidelberg u. a. 1995.
⃟ Knerr, R.: Bertelsmann-Lexikon P. Gütersloh 1995.
⃟ Die großen Physiker, hg. v. K. von Meÿenn, 2 Bde. München 1997.
⃟ Stuart, H. A. u. Klages, G.: Kurzes Lehrbuch der P. Berlin u. a. 151997.
▣ Literatur:
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