Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Perspektive
Perspektive[lat.] die,
1) allg.: sich von einem bestimmten Standpunkt aus (individuelle oder gruppenspezif. Lebenssituation; wiss. Voraussetzungen) ergebende Betrachtungsweise, Blickwinkel; Zukunftsaussicht, -erwartung.
2) darstellende Geometrie: die zweidimensionale (ebene) bildl. Darstellung dreidimensionaler (räuml.) Objekte mithilfe einer Zentralprojektion (Zentral-P.) - im erweiterten Sinn auch die Darstellung mithilfe einer Parallelprojektion (Parallel-P. in der Axonometrie) -, die dem Betrachter ein anschaul. (»naturgetreues«) Bild des Objekts vermitteln soll (Projektion). Die Zentral-P. ist dem natürl. Sehprozess nachgebildet. Denkt man sich alle Punkte des darzustellenden, auf einer waagerechten Grundebene ruhenden Gegenstandes durch Sehstrahlen (Projektionsstrahlen) mit dem Auge des Betrachters bzw. einem sog. Augenpunkt (Perspektivitätszentrum) verbunden und schneidet die Projektionsstrahlen mit einer Ebene (Bild-, Projektionsebene), so ergibt die Schnittfigur ein ebenes Bild des Gegenstandes (Zentral-P.). Besondere Bedeutung kommt dem »unendlich fernen« Punkt (Fernpunkt) einer nicht durch den Augenpunkt verlaufenden Geraden zu. Sein Bildpunkt ist der Fluchtpunkt dieser Geraden. Er ergibt sich als Schnittpunkt des zur Geraden parallelen Sehstrahls mit der Bildebene. Parallele Geraden haben folglich denselben Fluchtpunkt. Das Zusammenlaufen der Bildgeraden paralleler Objektgeraden (z. B. aller zu einer Fahrbahn parallelen Geraden wie Gehwege, Dachfirste, Häusersimse) sowie das Kleinerwerden der Bilder mit zunehmendem Abstand der Gegenstände von der Bildebene (perspektiv. Verkürzung) sind das wesentl. Kennzeichen der Perspektive. In der Darstellung von Bauten spielen die waagerechten, zur Grundebene parallelen Ebenen (Höhenebenen) eine besondere Rolle; insbesondere schneidet die durch den Augenpunkt verlaufende Höhenebene die Bildebene im Horizont. Liegt der Horizont der Bildebene sehr tief, so spricht man von einer Frosch-P., liegt er sehr hoch, von einer Vogelperspektive.
Literatur:
Geisler, H.: Das Konstruieren von P.n. Berlin 61994.
3) bildende Kunst: Die Malerei der Spätantike gab Raumtiefe und Verkürzungen wieder, doch ohne bis ins Detail ausgeführte Perspektivkonstruktion. Im MA. wurde die Tiefenraumdarstellung in got. Zeit wiedergewonnen (Giotto u. a.). Als Entdecker der Zentral-P. in der Frührenaissance gilt F. Brunelleschi (um 1420), sie wurde von Masaccio zuerst angewandt, von L. B. Alberti theoretisch begründet (um 1435). Im Norden stellten J. van Eyck u. a. Innenräume perspektivisch dar, ohne jedoch zur Zentral-P. zu gelangen. Das Interesse der Renaissance an der P. ist ein Zeugnis für die erstrebte Rationalisierung des künstler. Schaffens, das dem wiss. ebenbürtig sein sollte. Leonardo da Vinci und A. Dürer haben sich in ihren Schriften am stärksten darum bemüht. Leonardo untersuchte auch als Erster die Ursachen der Nah- und Fernwirkung der Farbwerte und die Auflösung der Konturen, die zur Luft-P. und Farb-P. führten. In diesem Bereich traten die venezian. Malerei des 16.-18. Jh. und die niederländ. Landschaftsmalerei des 17. Jh. bes. hervor. Mit illusionist. Stilmitteln wurde in der barocken Deckenmalerei die zentralperspektiv. Sicht verändert. Im 19. Jh. wurde die perspektiv. Konstruktion zunehmend vom Gestaltungs- zum Hilfsmittel illusionist. Abbildung, bis die fotograf. Abbildung alle perspektiv. Anstrengungen erübrigte. Die moderne Malerei ersetzte i. Allg. perspektiv. Konstruktionen durch aperspektiv. Methoden und setzte alles Visuelle in Fläche um (Expressionismus, Fauvismus, Kubismus). Die Surrealisten stellten surreale oder Traumräume dar. Für die realist. Strömungen des 20. Jh. blieb die Zentral-P. weiterhin bedeutend.
Literatur:
M. Kaiser P. als Mittel der Kunst, Beiträge v. u. a. Berlin 1986.
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