Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
niederländische Literatur
niederländische Literatur,die Literatur in niederländ. Sprache, d. h. die volkssprachl. Literatur in den Niederlanden und in Flandern (flämische Literatur). Die geschriebene Überlieferung beginnt erst am Ausgang des 12. Jh. mit Heinrich von Veldeke: Seine »Servatiuslegende« und seine Minnelieder sind in altlimburg. Mundart abgefasst. Die Brabanterin Hadewych verfasste in der Mitte des 13. Jh. stroph. Gedichte lyrisch-myst. Inhalts, die einen frühen Höhepunkt niederländ. Lyrik darstellen. Vertreter der lehrhaften bürgerl. Dichtung waren der »Vater der n. L.« Jacob van Maerlant und sein Schüler Jan Boendale. An geistl. Lit. sind zu nennen: ein »Leven van Sinte Lutgard« von Willem van Afflighem, die Legende »Beatrijs«; an Prosawerken: Schwester Hadewychs »Visioenen«, aus dem 14. Jh. die myst. Prosa des Brabanters J. van Ruusbroec und G. Grootes. Ein Hauptwerk des frühen MA. ist die satir. Tierdichtung »Van den vos Reinaerde«. Die Zeit zwischen 1450 und 1585 wird oft als eigenständige Periode aufgefasst. Sie war geprägt von den »Rederijkers«, nach dem Modell der Handwerkerzünfte hierarchisch organisierten Kunstgilden, die ähnlich den dt. Meistersingern wichtige Träger der städt. Festkultur waren. Das Theater gipfelte in dem realist. Mirakelspiel »Mariken van Nieumeghen« (um 1500) und in dem Spiel von Jedermann.
In der Renaissancezeit entwickelte sich ein von der Reformation geprägter Humanismus. Den starken Einfluss der klass. Dichter, bes. des Tacitus, zeigen die »Nederlandsche histooriën« (2 Bde., 1642-54) von P. C. Hooft, der auch Hirtenspiele und Dramen schrieb. Schilderer des Volkslebens in Lustspielen und Possen war der auch als Lyriker bed. G. A. Bredero. Als Dichter von klass. Rang gilt J. van den Vondel (bibl. Dramen; vaterländ. Drama »Gijsbrecht van Aemstel«, 1637; Lyrik). Zeitgenossen waren der Moralist J. Cats, der Diplomat C. Huygens, der religiöse Lyriker J. Revius.Aufklärer. Positionen wurden seit etwa 1720 in moral. Wochenschriften nach engl. Modell verbreitet. Hauptvertreter dieses Genres war Justus van Effen mit »De Hollandsche Spectator« (1731-35). Humor fehlte in der nüchternen bürgerl. Welt nicht, das bezeugen Betje Bekker-Wolff und Aagje Deken in ihrem Roman »Sara Burgerhart« (1782), später N. Beets in der klass. Erzählsammlung »Camera obscura« (1839, erweitert 1851), A. C. W. Staring in epigrammat. Gedichten.
Schriftsteller der romant. Periode waren W. Bilderdijk mit seinen formtechnisch vollkommenen Werken, der geistig-aristokrat. E. J. Potgieter (Gründer der Ztschr. »De Gids«), der scharfe Kritiker der Kolonisation auf Java, Multatuli, der Satiriker P. Paaltjens. Histor. Romane verfassten J. van Lennep, Anna Louisa Bosboom-Toussaint und J. F. Oltmans. I. da Costa, P. A. de Genestet und J. A. Alberdingk Thijm schufen religiös geprägte Dichtungen.
In den 1880er-Jahren suchte die Bewegung der »Tachtigers« den Anschluss an die literar. Strömungen der engl. Romantik und des frz. Naturalismus; sie wirkte bis weit ins 20. Jahrhundert. Hauptvertreter waren: J. F. H. Perk, der Kritiker und Lyriker W. J. T. Kloos, der Ästhetiker L. van Deyssel, der sozialist. Ethiker F. W. van Eeden, der führende Kritiker und Lyriker A. Verwey, der Maler und Prosaiker J. van Looy, der Dichter H. Gorter. Eine Sonderstellung nimmt L. Couperus mit meisterhaften Schilderungen der konventionellen holländ. Gesellschaft ein. Der naturalist. Roman wurde gepflegt von C. Scharten, Marga Antink, Top Naeff, Ina Boudier-Bakker. Realistisch war das Fischerdrama »Die Hoffnung auf Segen« (1901) von H. Heijermans.Die 1. Hälfte des 20. Jh. bot eine Fülle von Strömungen. Vertreter einer neuen Romantik in der Poesie, mit stilist. Raffinement, waren P. N. van Eyck, A. Roland-Holst, J. C. Bloem, M. Nijhoff. Neuromant. Romane schrieb A. van Schendel. Der Heimatroman war v. a. in Flandern stark vertreten. Iron. Realismus findet sich in W. Elsschots Erzählungen. In der Zeit des Ersten Weltkriegs setzte sich der Expressionismus durch. Hauptvertreter in der Lyrik waren P. A. van Ostaijen und H. Marsman; als wichtigster expressionist. Romanautor gilt F. Bordewijk. In den 30er- und 40er-Jahren wurde der Roman auf unterschiedl. Weise erneuert: Vertiefung der Dorfgeschichte (G. Walschap), autobiograph., intellektualist., psychologisch-analysierende Erzählungen (S. Vestdijk, M. Gijsen, Marianne Philips), mag. Realismus (J. Daisne, später H. Lampo), Neonaturalismus (L.-P. Boon). Die literar. Kritik erreichte ein hohes Niveau bei J. Greshoff, C. E. Du Perron und M. ter Braak. Die Erneuerungsbewegung der 50er-Jahre war um eine Darstellung der Totalität des Lebens bemüht und wandte sich gegen die Erstarrung im Konventionellen. Hauptvertreter waren L. J. Swaanswijk, H. Claus, W. F. Hermans, H. Mulisch. In den 70er-Jahren folgte der Hinwendung zu neorealist. oder dokumentar. Schreiben der 60er-Jahre eine neoromant. und neodekadente Gegenbewegung (Judith Herzberg, R. Kopland, L. Nolens u. a.). Vertreter einer experimentellen n. L. sind I. Michiels, S. Polet. Bedeutende Gegenwartsautoren sind v. a. Hella S. Haasse, A. K. Kossmann, C. J. J. Nooteboom, D. A. Kooiman, F. Kellendonk, Margriet de Moor und Monika van Paemel.
Literatur:
Lissens, R. F.: Fläm. Lit. des 19. u. 20. Jh. A. d. Niederländ. Köln u. a. 1970.
Meijer, R. P.: Literature of the low countries. A short history of dutch literature in the Netherlands and Belgium. Neuausg. Den Haag u. a. 1978.
Kritisch lexicon van de Nederlandstalige literatuur na 1945, hg. v. A. Zuiderent u. a., Loseblatt-Ausg. Alphen 1980 ff.
Lit. in den Niederlanden u. Flandern, hg. v. H. Vekemann u. a. Köln 1986.
Die niederländ. u. die fläm. Lit. der Gegenwart, hg. v. F. Ligtvoet u. M. van Nieuwenborgh. München u. a. 1993.
Die spätmittelalterliche Rezeption niederländischer Literatur im deutschen Sprachgebiet, hg. v. R. Schlusemann u. P. Wackers. Amsterdam 1997.
Sie können einen Link zu dem Wort setzen

Ansicht: niederländische Literatur