Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
niederländische Kunst
niederländische Kunst,umfasst die Kunst im Gebiet der heutigen Niederlande (holländische Kunst) und der ehemals spanisch-österr. Niederlande (flämische Kunst) bis zu deren Unabhängigkeitserklärung von 1830 (danach belgische Kunst). Ihre höchsten Leistungen sind v. a. Werke der Malerei, deren Blütezeiten das 15. Jh. und das 17. Jh. waren.
Baukunst Von der Baukunst der karoling. Zeit sind nur spärl. Reste erhalten. In otton. und frühsal. Zeit trat die Maaslandschaft erstmals hervor. Notker aus St. Gallen, seit 972 Bischof von Lüttich, leitete eine rege Bautätigkeit ein; es entstanden u. a.: die Johanniskirche in Lüttich (geweiht 980; nach dem Vorbild der Aachener Pfalzkapelle) und die Damenstiftskirche St. Gertrud in Nivelles (11. Jh.). Zu den bedeutendsten Bauten der reifen Romanik gehört die Kathedrale in Tournai (12.-14. Jh.) mit einer der großartigsten Querhausturmgruppen des MA. Hauptwerke der Gotik sind St. Gudula (jetzt St. Michel) in Brüssel (13.-15. Jh.), die siebenschiffige Kathedrale in Antwerpen (1352 bis Anfang 16. Jh.), die Johanneskirche (Sint Jan) in Herzogenbusch (14.-16. Jh.). Die niederländ. Gotik neigte zur Beschränkung der Formenvielfalt, bes. in Holland (St. Peter in Leiden, Ende 13. Jh. begonnen), und entwickelte sich zu reicheren Gestaltungen erst in spätgot. Zeit (Saint-Jacques in Lüttich, urspr. romanisch, 1513-38 umgebaut). Einzigartig sind die profanen Bauten, die Stadttore, Tuchhallen (Ypern), Belfriede, Bürger- und Rathäuser (Brügge, Löwen, Brüssel, Oudenaarde). - In der Renaissance übernahm die Baukunst italien. Formen; u. a. Antwerpener Rathaus (1561-65) von C. Floris, der, auch als Bildhauer tätig, einen weit über die Niederlande hinaus wirkenden neuen Stil begründete (»Florisstil«). L. de Key baute die Fleischhalle in Haarlem (1602/03), H. de Keyser Kirchen in Amsterdam (Zuiderkerk). - Zur Zeit des Barock baute man im fläm. Süden in reichen und üppigen Formen (Jesuitenkirche in Antwerpen, Anfang 17. Jh.), im holländ. Norden in einem an Palladio geschulten klassizist. Stil (das königl. Lustschloss »Huis ten Bosch« und das Mauritshuis in Den Haag von P. Post; Amsterdamer Rathaus, jetzt königl. Palast, von J. van Kampen, seit 1648). Dieser Stil lebte bis in das 18. Jh. fort, unterbrochen von dem Eindringen des Barockstils Ludwigs XIV. mit palastähnl. Bürgerbauten in Amsterdam und Den Haag. Führender Meister der bürgerl. Architektur war P. Vingboons. Die Architektur des 19. Jh. ist vom historist. Eklektizismus gekennzeichnet. Der Übergang zur modernen Architektur vollzog sich mit den Bauten von H. Berlage (Börse in Amsterdam, 1897-1903; Gemeindemuseum in Den Haag, 1927-35). Die expressionist. »Amsterdamer Schule« bemühte sich um eine skulpturale Baukörpergestaltung (Schifffahrtshaus in Amsterdam von M. de Klerk, 1911-16). Die 1917 gegr. Stijl-Gruppe erneuerte die Ästhetik der Außen- und Innengestaltung in konstruktivist. Formen (T. van Doesburg, G. T. Rietveld, J. J. P. Oud, J. Duiker, C. van Eesteren). Vorbildl. Charakter hatte auch das von W. M. Dudok errichtete Rathaus in Hilversum (1928-31). Nach 1945 traten J. H. van den Broek und J. B. Bakema (Ladenzentrum »Lijnbaan« in Rotterdam, 1946-53), Aldo van Eyck (Waisenhaus in Amsterdam, 1955-61), H. Hertzberger (Centraal Beheer in Apeldoorn, 1968-72) und R. Koolhaas (Niederländ. Tanztheater in Den Haag, 1986-87) hervor. Das Bonnefantenmuseum in Maastricht ist ein eleganter Bau des Italieners A. Rossi (1993-95).
Plastik Die romanische Plastik umfasst v. a. eine bedeutende Bauskulptur (u. a. Kapitelle in der Onze-Lieve-Vrouwekerk in Maastricht; Ende des 12. Jh.). Zu Beginn des 12. Jh. entstand ein landschaftlich gebundener Stil der Goldschmiedekunst von hohem Rang: die Maasschule (Reiner von Huy, Godefroid de Huy und Nikolaus von Verdun). Ihr stilistisch verwandt sind die steinerne »Madonna des Dom Rupert« (um 1180; Lüttich, Musée Curtius). Der bedeutendste Bildhauer um 1400 war C. Sluter, der am burgund. Hof in Dijon arbeitete. Antwerpener Schnitzaltäre der Spätgotik wurden auch nach Dtl. exportiert. Italien. Formen der Renaissance verarbeitete im 16. Jh. bes. C. Floris (Grabmäler). Als niederländ. Meister der manierist. Plastik wirkten Giambologna in Italien, H. Gerhard und A. de Vries in Dtl. Führende Bildhauer des Barock waren die fläm. Künstler, die unter dem Einfluss von P. P. Rubens und G. L. Bernini standen: F. Duquesnoy, A. Quellinus d. Ä. und d. J., L. Faydherbe (Mechelner Schule), R. Verhulst. Internat. Niveau erreichte die Plastik wieder im 20. Jh. Der belg. Bildhauer G. Vantongerloo, Mitgl. von De Stijl, wurde mit seinen stereometr. Skulpturen richtungweisend für die konstruktivist. Arbeiten der jüngeren Generation: u. a. Carel Visser, André Volten und Ad Dekkers.
Malerei Aus dem MA. sind v. a. Buchmalereien erhalten, die sich, beeinflusst von südniederländisch-burgund. sowie italien. (bes. sienes.) Kunst, in der Liniensprache des schönen Stils artikulierten. Die bedeutendsten Künstler der niederländisch-burgund. Schule waren A. Beauneveu, M. Broederlam, J. de Hesdin, deren Werke den neuen »realist.« Erzählstil aufweisen, der die Brüder von Limburg beeinflusste und Ausgang für die spätere niederländ. Landschafts- und Genremalerei wurde. Der in den Miniaturen der Brüder von Limburg (»Très riches heures«, Chantilly, 1411-16) lebendig gewordene Wirklichkeitssinn war Voraussetzung für die Kunst der Brüder van Eyck, mit der die Epoche der altniederländischen Malerei einsetzte (Genter Altar, vollendet 1432; Gent, St. Bavo). In den südl. Niederlanden begann mit den Brüdern H. und J. van Eyck und R. Campin (Mérode-Altar, um 1425; New York, Metropolitan Museum) die Geschichte des Tafelbildes sowie des Porträts mit einem neuen Realitätssinn. R. van der Weyden, stärker gebunden an die expressive Ausdrucksbewegung got. Linearität, gelangte als Erster zur farbigen Bildeinheit. Bed. Meister der 2. Hälfte des 15. Jh. war H. van der Goes (Portinari-Altar, um 1475; Florenz, Uffizien). H. Memling und G. David führten das Überlieferte fort. Die eigentl. niederländ. Schule setzte mit A. van Ouwater und D. Bouts ein. Ihr Versuch, das Unsichtbare im Sichtbaren darzustellen, wurde von Geertgen tot Sint Jans visionär gesteigert. H. Bosch signalisiert den Umbruch der Zeiten; mit seinen gespenst. Bildern endete die große Zeit der spätgot. Malerei. - Im 16. Jh. herrschte der von Italien abhängige Romanismus vor, dessen erster Meister in den südl. Niederlanden J. Gossaert war. Mehr Selbstständigkeit wahrten z. T. die holländ. Romanisten, so Lucas van Leyden, bes. als Grafiker. Gegner des Romanismus war P. Bruegel d. Ä.; seine Landschaften sind tragisch und lyrisch zugleich, seine Gesellschaftsstücke Schicksalsparabeln. - Die Malerei des Barock kam in Flandern mit P. P. Rubens zum Durchbruch, der eine große Werkstatt unterhielt. Sein bekanntester Schüler war A. van Dyck, bedeutend bes. als Bildnismaler. J. Jordaens, beeinflusst von Rubens, fand zu einer derben, »volkstümlicheren« Manier. A. Brouwer malte Landschaften und derbe Bauernszenen, während D. Teniers d. J. in seinen Genre- und Gesellschaftsstücken Brouwers Kunst in eine gefällige, beschaulich erzählende Art umdeutete. Die holländ. Maler gaben unterdessen die sakralen, allegor., histor. Inhalte auf, die jedoch bei aller »Verweltlichung« als Bildinhalte emblematisch verschlüsselt blieben. Bildnisse und Gruppenbilder malte v. a. F. Hals, Bilder, die mit erlesenen Farben Menschen in Innenräumen darstellen (Interieur), J. Vermeer und P. de Hooch. Die dritte Hauptgattung der holländ. Malerei war die Landschaft, zu deren bedeutendsten Meistern E. van de Velde, J. van Goyen, S. und J. van Ruisdael sowie H. Seghers gehören. Andere bildeten ihre Meisterschaft im Tierbild (P. Potter, J. Fyt), Stillleben (W. Kalf, J. D. de Heem, P. Claesz), Genrebild (G. Terborch, A. van Ostade, J. Steen), Seestück (J. Porcellis, A. van Everdingen) oder Architekturbild (P. Saenredam, E. de Witte) aus. Alle überragte Rembrandt, der, gleich bedeutend als Maler, Zeichner und Radierer, alle Bildgattungen zu einem Bilderkosmos myst. Erlebnistiefe verband. Zu seinen Schülern gehörten J. Lievens, G. Flinck, F. Bol, C. Fabritius, A. de Gelder und G. Dou. Im 18. Jh. wurde ein akadem. Klassizismus bestimmend, in der Malerei durch den zu seiner Zeit sehr geschätzten Feinmaler A. van der Werff, der bedeutendste Nachfolger Dous neben F. van Mieris. Die Maler zur Zeit der Romantik suchten an das »goldene Zeitalter« anzuknüpfen (A. Schelfhout, B. C. Koekkoek). Neue Impulse gingen von den Vertretern der vom Vorbild der Schule von Barbizon inspirierten Haager Schule aus, die zum Impressionismus überleitete (J. B. Jongkind, G. H. Breitner). V. van Gogh verband die niederländ. Tradition mit den neuen künstler. Strömungen in Frankreich und wurde zu einem Bahnbrecher des Expressionismus. Hauptmeister des Jugendstils sind J. Thorn-Prikker und Jan Toorop. Die Gruppe De Stijl entwickelte eine auf reiner Farbe und radikal vereinfachten geometr. Formen beruhende Malerei, deren wichtigster Vertreter und Theoretiker neben T. van Doesburg und Anthony van der Leck P. Mondrian war. Als Gegenreaktion auf den Konstruktivismus kamen ab Ende der 20er-Jahre surrealist. und realist. Tendenzen auf. Der in Paris lebende Niederländer Bram van Velde übte großen Einfluss auf die amerikan. Maler des abstrakten Expressionismus aus. Den bedeutendsten Beitrag der Niederlande zur Kunst nach 1945 leisteten die Mitglieder der Gruppe Cobra. Konstruktivismus und opt. Kalkül (Maurits Cornelis Escher; Jan J. Schoonhoven als Vertreter der Op-Art mit der 1961 von ihm gegründeten »Nulgroep«), geometr. Abstraktion (Ad Dekkers), Land-Art (Ger Dekkers) und Konzeptkunst (Jan Dibbets) sind in der jüngeren n. K. produktiv vertreten. Internat. Bedeutung haben v. a. Bob Bonies, Willem Kloppers und André van Lier erlangt, die vornehmlich in den Gattungen Malerei und Plastik ihre Bildideen realisieren. Parallel zu diesen Künstlern arbeiten Marinus van Boezem und Jan van Munster mit den techn. Medien Fotografie und Kunstlicht. Siert Dallinga, Ab van Hanegem, Edwin Janssen, Rob Scholte, Jan Starken, C. A. Wertheim und Hugo Kaagman sind einem postmodernen Stilpluralismus zuzuordnen
Literatur:
Olbrich, H. u. Möbius, H.: Holländ. Malerei des 17. Jh. Leipzig 1990.
Graf. Formgebung in den Niederlanden, 20. Jh., bearb. v. K. Broos u. P. Hefting, Ausst.-Kat. De Beyerd, Breda. Basel 1993.
Belting, H. u. Kruse, C.: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jh. der niederländ. Malerei. München 1994.
Pächt, O.: Altniederländ. Malerei. München 1994.
Niederländ. Architektur des 20. Jh., hg. v. H. Ibelings. A. d. Niederländ. München 1995.
Haak, B.: Das goldene Zeitalter der holländ. Malerei. Köln 1996.
Westermann, M.: Von Rembrandt zu Vermeer. N. K. des 17. Jahrhunderts. A. d. Engl. Köln 1996.
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