Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Nordirland
Nọrdịrland (engl. Northern Ireland), Landesteil von Großbritannien und Nordirland, umfasst den NO-Teil der Insel Irland, 14 161 km2, (1995) 1,649 Mio. Ew. Die hügelige Landschaft flacht sich zum großen Seebecken des Lough Neagh im Innern ab. Hauptflüsse sind Bann, Blackwater und Foyle. Die Landwirtschaft tritt stark hinter der Ind. zurück. Anbau von Hafer und Kartoffeln; Rinderzucht. Die Ind. umfasst die Herstellung von Textilien, Konserven, Tabakwaren, Kunstfasern, Schiffbau, Elektrotechnik; Hptst. und wirtsch. Mittelpunkt ist Belfast.
Geschichte: Durch den »Government of Ireland Act« (23. 12. 1920) wurden die mehrheitlich prot. Grafschaften der Provinz Ulster (Londonderry, Antrim, Tyrone, Fermanagh, Armagh und Down) vom übrigen, mehrheitlich kath. Irland getrennt. Im Rahmen einer Union mit Großbritannien erhielt N. Autonomie mit eigenem Parlament (Stormont) und eigener Regierung. Führende Partei der prot. Mehrheit wurde die »Unionist Party«, die seit 1921 die MinPräs. stellte; daneben erlangte der »Oranierorden« (engl. »Orange Order«, Organisation der Anhänger der engl.-prot. Herrschaft über N.) starke gesellschaftl. Bedeutung. Die innere Entwicklung N.s wurde v. a. vom Konflikt zw. der prot. Mehrheit und der kath. Minderheit geprägt. Die kath. Nationalisten, die ein Zusammenwirken mit den prot. Unionisten (Loyalisten) ablehnten und auf einer Vereinigung N.s mit dem Freistaat (später der Rep.) Irland zu einem gesamtirischen Staat beharrten, wurden politisch weitgehend ausgegrenzt (u. a. durch Wahlrechtsregelungen im Interesse der Sicherung prot. Mehrheiten). Der unionist. Kontrolle des Reg.- und Verw.apparates, dem seit 1922 auch eine prot. dominierte Polizeitruppe (»Royal Ulster Constabulary«, Abk. RUC) zur Seite stand, entsprach eine wirtsch.-soziale Benachteiligung der kath. Bev. Nach der Gründung versch. Bürgerrechtsorganisationen und Aktionskomitees (u. a. 1963 »Campaign for Social Justice«) entstand 1967 als deren Dachverband die »Northern Ireland Civil Rights Association« (NICRA), die sich mit Massendemonstrationen und zivilem Ungehorsam für grundlegende Reformen und die Durchsetzung gesellschaftl. Gleichberechtigung einsetzte, worauf die Reg. aber zumeist mit repressiven Maßnahmen (v. a. mit gewaltsamen Polizeieinsätzen, so am 5. 10. 1968 in Londonderry) reagierte. Angesichts dieser Entwicklung drängten radikale Gruppen auf nationalist. wie auch unionist. Seite die verständigungsbereiten Kräfte in den Hintergrund. Die kath.-nationalist. Partei Sinn Féin und die ihr nahe stehende IRA hielten kompromisslos am Ziel der Vereinigung N.s mit der Rep. Irland fest; über die für alle prot. Gruppen selbstverständl. Zugehörigkeit N.s zum Vereinigten Königreich hinaus bekämpften extremist. prot. Kräfte (z. B. um I. Paisley, den Vors. der Democratic Unionist Party) die gesellschaftl. und polit. Integration der kath. Minderheit in N. Der Angriff militanter unionist. Gruppen auf kath. Wohnviertel in Londonderry (heute Derry) und Belfast im Aug. 1969 führte zu blutigen Zusammenstößen; daraufhin verlegte die brit. Reg. Truppen nach N., um die Eskalation der Gewalt zu stoppen. Das brit. Militär wurde jedoch selbst immer mehr in die Auseinandersetzungen verwickelt (Höhepunkt am 30. 1. 1972 [»Bloody Sunday«], als brit. Soldaten in Londonderry 13 Teilnehmer einer verbotenen Demonstration erschossen). Die radikalen Kräfte auf beiden Seiten gingen immer stärker zu terrorist. Mitteln über. Auf kath. Seite trat dabei bes. die illegale IRA, die als »Schutzformation» für die kath. Bev. und als Symbol des antibrit. Widerstands seit Ende der 60er-/Anfang der 70er-Jahre rasch wieder Zulauf erhielt, mit zahlr. Bombenanschlägen und Gewaltakten hervor; der Gegenterror ging v. a. von der prot. UDA (Ulster Defence Association), den mit ihr verbundenen »Ulster Freedom Fighters« (UFF) u. a. loyalistisch-extremist. Gruppen aus. 1972/73 und erneut ab 1974 übernahm die brit. Reg. die direkte Verw. in N. (Ernennung eines N.-Min.). 1973 vereinbarten Großbritannien und die Rep. Irland die Errichtung eines Gesamtirischen Rats, der ohne Wirkung blieb. Mithilfe einer Antiterrorgesetzgebung bekämpfte die brit. Reg. den Terrorismus. In den 70er-Jahren erreichten die blutigen bürgerkriegsähnl. Unruhen - von den Iren »Troubles« gen. - ihren Höhepunkt; zw. den Konfessionen vertieften sich angesichts der v. a. in den Städten alltägl. Gewalt Entfremdung und Ausgrenzung. 1976 organisierten Mairead Corrigan und Betty Williams Friedensdemonstrationen von Frauen beider Konfessionen. Aber weder diese Aktionen der »Peace People« noch die auf Unterbindung der extremist. Gewalt gerichtete brit. Antiterrorgesetzgebung (Inhaftierung von Angehörigen terrorist. Organisationen und hartes Vorgehen v. a. gegen Mitgl. der IRA) konnten die inneren Verhältnisse N.s entspannen bzw. die Unruhen eindämmen, die bis zur Gegenwart etwa 3 600 Tote forderten. Während sich in den 1980er-Jahren die Attentats- und Sabotageakte der IRA ausweiteten, unternahm die brit. Reg. mehrere Versuche, den N.-Konflikt politisch zu lösen (u. a. 1985 Unterzeichnung eines britisch-irischen Abkommens, das der Reg. der Rep. Irland eine begrenzte Mitsprache bei der Verw. von N. zugesteht). Die von dem brit. N.-Min. Peter Brooke initiierten Gespräche zw. den nordir. Konfliktparteien zur Beendigung der Bürgerkriegssituation scheiterten 1991.
Mit der Londoner N.-Erklärung (15. 12. 1993), in der die Sinn Féin, der polit. Arm der IRA, als Verhandlungspartner zum ersten Male akzeptiert wurde, unternahmen die brit. und die irische Reg. einen erneuten Versuch, eine Lösung des Konfliktes herbeizuführen. Nachdem die IRA Ende Aug., die bewaffneten prot. Verbände Mitte Okt. 1994 ihren Verzicht auf terrorist. Aktivitäten erklärt hatten, verabschiedeten die brit. und die irische Reg. im Febr. 1995 ein Rahmendokument für »Allparteienverhandlungen« (u. a. Errichtung einer gesamtir. Behörde mit Vollmachten z. B. im Schulwesen) und setzten im Nov. 1995 eine internat. Kommission zur Frage der Entwaffnung der Untergrundorganisationen ein. Mit der Wiederaufnahme terrorist. Aktivitäten seitens der IRA seit Febr. 1996 erfuhr der Friedensprozess einen kurzzeitigen Rückschlag. Nach einer erneuten Waffenstillstandserklärung im Juli 1997 konnte die Sinn Féin wieder an den Friedensgesprächen teilnehmen. Am 10. 4. 1998 unterzeichneten die Verhandlungspartner (Vertreter der irischen und brit. Reg. sowie der nordir. Katholiken und Protestanten aus acht Parteien) ein von starken Kompromissen geprägtes, durch ein Referendum der gesamtir. Bev. am 22. 5. 1998 bestätigtes Friedensabkommen. In N. sprachen sich 71,12 % der Bev. für das Friedensabkommen und in der Rep. Irland 94 % für eine Verf.änderung aus, mit der der Anspruch auf eine Wiedereingliederung Ulsters aufgegeben wird. In den Wahlen zum nordir. Parlament (»Northern Ireland Assembly« mit Sitz in Stormont, 108 Abg.) am 25. 6. 1998 konnten sich die gemäßigten Parteien durchsetzen; am 1. 7. 1998 wurde David Trimble, der Führer der prot. Ulster Unionist Party (UUP), zum »Ersten Minister« der Regionalreg. und Seamus Mallon, der Vize-Vors. der kath. Social Democratic und Labour Party (SDLP), zu seinem Stellvertreter gewählt. Angesichts neuer terrorist. Anschläge extremist. Splittergruppen (bes. in Omagh am 15. 8. 1998, daraufhin Verschärfung der Gesetze zur Bekämpfung des Terrorismus in Großbritannien und Irland) und wegen des anhaltenden Streits um die Entwaffnung der paramilitär. Gruppen geriet die Umsetzung des Friedensabkommens danach zeitweise ins Stocken (im April 1999 Beginn einer neuen Verhandlungsrunde der nordirischen Parteien zur Weiterführung des Friedensprozesses).
Literatur:
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Bardon, J.: A shorter illustrated history of Ulster. Belfast 1996.
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Kirkland, R.: Literature and culture in Northern Ireland since 1965. London 1996.
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Hennessey, T.: A history of Northern Ireland. Basingstoke 1997.
Morrison, D.: Troubles. Eine politische Einführung in die Geschichte N.s. Münster 1997.
Divided society. Ethnic minorities and racism in Northern Ireland, hg. v. P. Hainsworth. London 1998.
Loughlin, J.: The Ulster question since 1945. Basingstoke 1998.
Rethinking Northern Ireland. Culture, ideology and colonialism, hg. v. David Miller. London 1998.
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McEwen, A.: Public policy in a divided society. Schooling, culture and identity in Northern Ireland. Aldershot 1999.
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