Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Naturheilkunde
Naturheilkunde, Lehre von der Behandlung und Vorbeugung von Erkrankungen mit naturbelassenen Heilmitteln und natürl. Reizen (z. B. kaltes und warmes Wasser). Der Begriff N. stammt aus der Mitte des 19. Jh.; mit der Bez. von Naturheilmitteln und Naturheilverfahren, Naturarzt und naturgemäßer Behandlung sollte das Besondere einer neuen medizin. Bewegung verdeutlicht werden. Der wesentl. Unterschied zur übl. Schulmedizin lag in dem Versuch, den Organismus eines Menschen anzuregen, aus eigener Kraft und mit den eigenen Möglichkeiten wieder gesund zu werden. Die N. versucht also die angeborene Heilfähigkeit des Körpers zu aktivieren und zu stärken, um das erkrankte Organ oder den betroffenen Körperteil mit dem übrigen Körper wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Hierzu werden günstige äußere Bedingungen hergestellt (Prinzipien der allgemeinen Entlastung und der Schonung), oder es werden heilsame Reize gesetzt, die den Organismus zu günstigen Reaktionen anregen sollen (therapeut. Prinzip der Reiz- und Reaktionstherapie).
Am häufigsten wird die Behandlung mit Warm- und Kaltreizen (Hydrotherapie), mit natürl. Heilquellen, Heilgasen und Peloiden (Balneotherapie), mit Aufenthalten unter verschiedenen klimat. Bedingungen und bzw. oder mit ultraviolettem Licht (Klima- und Heliotherapie), mit Wärme und Kälte (Thermo- und Kryotherapie), mit unspezifischer körperl. Aktivität, Krankengymnastik, Massage und manueller Medizin (aktive und passive Bewegungstherapie) und mit verschiedenen diätet. Programmen und therapeut. Fasten (Ernährungstherapie) durchgeführt. Unter Berücksichtigung ihrer Jahrtausende alten Tradition, ihrer umfangreichen Erfahrung und ihrer prinzipiellen Anerkennung auch in der naturwiss. Hochschulmedizin werden diese Anwendungen häufig als »klass.« Naturheilverfahren bezeichnet. Allgemeine Empfehlungen zur Hygiene und zum Lebensstil, die aus der Erfahrung und dem Umgang mit diesen Naturheilverfahren gewonnen wurden, beinhaltet die so genannte Ordnungstherapie. Bei dieser werden aber auch Elemente einer verbalen und bzw. oder Elemente versch. körperorientierter Psychotherapien sowie unterschiedlicher künstler. Therapien mit dem Ziel einer seel. »Ordnung« und gesunder psycho-somat. Beziehungen berücksichtigt. Sie soll zum Erlangen von Harmonie und Regelmäßigkeit in den Lebensrhythmen (u. a. Schlaf, Wachen, Mahlzeiten) beitragen.
Ein weiteres Element der N. sind Bemühungen um eine erweiterte, die Schulmedizin ergänzende Lehre vom Menschen und seinen Erkrankungen. Die N. entwirft also eine eigene Anthropologie und Nosologie. Mit der Anthropologie versucht sie, besondere (konstitutionelle) Bedingungen und Empfindlichkeiten eines Individuums zu erkennen, diese werden in der Behandlung berücksichtigt, häufig aber auch schon in Form gezielter Empfehlungen in die Vorbeugung mit einbezogen.
Versuche zu einer Nosologie (Krankheitslehre) beschäftigen sich mit übergeordneten Prinzipien und Erkrankungsmustern, die auch nach übergeordneten Gesichtspunkten behandelt werden. Häufig sucht die N. nach reflektor. Beziehungen innerhalb des Organismus, aus denen sich Ansätze zu rationalen Behandlungsversuchen ergeben. Bei Infektionskrankheiten sieht sie neben dem aktuellen Erreger das lokale Milieu, in dem diese Erreger güngstige Lebensbedingungen finden.
Dementsprechend richten sich therapeut. Strategien in der N. häufig mehr an die gesamte Person eines Patienten als an das nosolog. Detail. Mit regelmäßigen Belastungen fördert sie die allgemeine Regulation und Regelgüte einzelner Funktionssysteme und die Struktur einzelner Gewebe (so genannte funktionelle und troph. Adaptationen). Auf der körperl. und gleichzeitig seel. Ebene verbessert sie die allgemeine Widerstandskraft und Fitness eines Patienten. Günstig zu beurteilende psych. Wirkungen ergeben sich aus dem unmittelbaren sinnl. und emotionalen Erleben einzelner Naturheilverfahren und in geeigneten Fällen aus dem prinzipiellen Angebot einer Selbsthilfe und eines selbstständigen Umgangs mit einer Erkrankung.
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