Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Naturalismus
Naturalịsmus[lat.] der,
1) bildende Kunst: die naturgetreue Darstellung des Sichtbaren. Als Ausdruck einer weltanschaul. Haltung bezeichnet die Kunstwiss. - nicht immer konsequent - damit versch. Kunstströmungen oder Stile, wobei sie den N. oft mit dem Realismus gleichsetzt.
Unter N. als Stilrichtung versteht man positivist., von der Milieutheorie beeinflusste Tendenzen v. a. in der Malerei zw. 1870 und 1900, die mit dem literar. N. korrespondieren. Die Zufälligkeit des Alltäglichen wird ohne jegl. Stilisierung gegen idealisierende und heroisierende Richtungen der gründerzeitl. Kunst eingesetzt. Die Themen aus dem sozialen Alltag, der kleinbürgerl. Idylle und dem proletar. Milieu wurden z. T. in sozialkrit. Absicht unter Einbeziehung des Hässlichen und des Elends dargestellt.
2) Literatur: Bez. für eine Strömung (etwa 1870 bis 1900), in der die genaue Beschreibung der Natur als sinnlich erfahrbare Erscheinung zum ästhet. Prinzip erhoben ist. Mit wiss. Präzision, die Ausdruck des zeittyp. technisch-wiss. Leitbildes war, wurden auch bis dahin vernachlässigte und tabuisierte Themen (z. B. die Lebensumstände der sozial Schwächsten, Alkoholismus, Prostitution) geschildert. Grundlagen des N. sind die Erkenntnisse der Naturwiss. und die darauf fußende Philosophie des Positivismus sowie die Physiologie C. Bernards, die Evolutionstheorie C. Darwins, v. a. aber die Milieutheorie H. Taines. Konsequenzen aus diesen Lehren für eine literar. Theorie zogen erstmals die Brüder E. und J. de Goncourt in dem als Manifest des N. geltenden Vorwort zu ihrem Roman »Germinie Lacerteux« (1864). Zum Programmatiker des europ. N. wurde É. Zola (»Der Experimentalroman«, 1880). In Skandinavien entwickelte sich nach 1870 v. a. das naturalist. Drama (H. Ibsen, A. Strindberg). Starke Impulse gingen auch von russ. Schriftstellern aus (v. a. F. M. Dostojewski, L. N. Tolstoi). Der dt. N. war zunächst geprägt von programmat. Diskussionen; Zentren waren Berlin (Friedrichshagener Dichterkreis) und München. Seine Hauptphase prägte das dramat. Werk G. Hauptmanns (u. a. »Die Weber«, 1892). Weitere Dramatiker waren C. Hauptmann sowie A. Holz und J. Schlaf, die zus. das Programmstück des dt. N. schrieben (»Die Familie Selicke«, 1890), sowie M. Halbe und H. Sudermann. Die naturalist. Prosa war weniger bed., ebenso wenig die Lyrik. Nach 1895 verlor der N. an Nachdruck, wirkte jedoch auf die gesamte nachfolgende literar. Entwicklung, bes. durch die Erschließung neuer Stoffbereiche, neuer dramat. Strukturen, Präzisierung der beschreibenden Darstellungsmittel sowie durch Verwendung von Umgangssprache und Dialekt im literar. Text.
Über den N. in der Musik (Oper) Verismus.
Literatur:
Daus, R.: Zola u. der frz. N. Stuttgart 1976.
Möbius, H.: Der N. Heidelberg 1982.
Hoefert, S.: Das Drama des N. Stuttgart u. a. 41993.
Keil, G.: Kritik des N. Berlin u. a. 1993.
Mahal, G.: N. München 31996.
3) Philosophie: Bez. für eine monist. Denkhaltung, die in der Natur den Seinsgrund aller Realität - auch der geist. Phänomene - erblickte (ontolog. N.), aus ihr alles erklären zu können behauptete (erkenntnistheoret. N.) und die Geltung sittl. Normen in ihr begründet sah (eth. N.); bedeutendster Vertreter: T. Hobbes. - Als Deismus und natürl. Religion bestimmte der N. die Religionsphilosophie der Aufklärung.
Sie können einen Link zu dem Wort setzen

Ansicht: Naturalismus