Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Nationalsozialismus
Nationalsozialismus völkisch-antisemitisch-national-revolutionäre Bewegung in Dtl. (1919-45), die sich 1920 als Nationalsozialist. Dt. Arbeiterpartei (NSDAP) organisierte und die unter Führung A. Hitlers in Dtl. 1933 eine Diktatur errichtete. Der N. wird in Wiss. und Publizistik (nicht unumstritten) auch als bes. radikale Form des Faschismus gesehen.In der Ideologie des N. flossen geistige und soziale Strömungen zusammen, deren Gedankengut weite Kreise über die eigentl. dt.-völk. Bewegung hinaus erfasste: auf Expansion gerichteter Nationalismus, der eine Weltmachtstellung für ein Mitteleuropa beherrschendes Dtl. forderte; Bestrebungen, die Nation durch innere soziale Versöhnung des dt. Volkes über die Klassengegensätze hinweg unter Ablehnung des internat. »marxist.« Sozialismus zur Machtpolitik nach außen zu befähigen; auf Volkstums- und Rassentheorien gründende antisemit. Feindbilder, die bei sozial verunsicherten kleinbürgerl. und bäuerl. Bev.gruppen polit. Rückhalt fanden. - Die tief greifenden Erschütterungen, die der Erste Weltkrieg bewirkte, verliehen dem zunächst noch wenig zielgerichteten Ideenkonglomerat des N. in der labilen, durch Umsturz, wirtsch. Not, Versailler »Friedensdiktat« und mangelnde demokrat. Substanz vorbelasteten Weimarer Rep. erhebl. Sprengwirkung: In den »Sündenböcken« KPD und SPD machte man konkrete Feinde aus, und bes. der Antisemitismus bot ein Deutungsmuster für Niederlage und Umsturz (angebl. Weltmachtstreben des Judentums, verkörpert in den marxist. Parteien und im »internat. Kapitalismus«), das von Gruppen, die den alten Machteliten nahe standen (Alldeutsche, DNVP) oder sozialen Abstieg befürchteten, propagandistisch gezielt verbreitet wurde. Aus einer der irrationalen und extremist. Protestgruppen, die auf diesem Boden emporwucherten, ging die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) hervor.Als eigentl. Programm des N. muss die einfache polit. Gesamtkonzeption gelten, die A. Hitler (seit 29. 7. 1921 Vors. der NSDAP) seit 1920/21 propagierte. In der hingebungsvoll vertretenen Grundposition, dass sich das dt. Volk gegen den konzentrierten Angriff des Judentums wehren und zu neuer, seinem Elitecharakter angemessener Großmachtstärke aufsteigen müsse, besaßen Hitler und die Propaganda des N. ein auf ein eingängiges Freund-Feind-Schema reduziertes polit. Erklärungsmodell. Von seiner Überzeugung von der fast unbegrenzten Manipulierbarkeit des Menschen bestärkt, sah Hitler seine zentrale Aufgabe und die der NSDAP darin, die Willenskraft und Tatbereitschaft der Massen auf das Ziel zu lenken, eines Tages gewaltsam die Träger der 1918 angeblich über Dtl. hereingebrochenen »Judenherrschaft« zu beseitigen. Die nat.-soz. Weltanschauung, die Hitler v. a. in »Mein Kampf« (1924/25) und in seinem »Zweiten Buch« (1928) darlegte, ist keine im Einzelnen ausgearbeitete, von Widersprüchen freie Lehre. Im Zentrum stehen ein radikaler, universaler, rassisch begründeter Antisemitismus (der den Kampf gegen Marxismus, Bolschewismus, Pazifismus, Liberalismus, Demokratie als angeblich jüd. Existenzweisen einschließt) und die Lebensraumdoktrin. Ausgangspunkt ist die Auffassung von Geschichte als einem stetigen Kampf der Völker um Selbsterhaltung und um Sicherung und Vermehrung des dazu notwendigen Lebensraums. Siegreich bleibt jeweils das Stärkere, d. h. »rassisch Wertvollere«; als Endziel der Geschichte propagierte Hitler die Herrschaft eines »Herrenvolkes«. Im Rahmen dieses rassist., die Ebenbürtigkeit aller Menschen verneinenden Denkschemas bildet sich - gleichsam als Unterfaktor - die »rassisch wertvolle« Persönlichkeit aus, die einen Führungsanspruch gegenüber der sich unterordnenden Volksgemeinschaft erheben darf (Führerprinzip). Im jüd. Volk sah Hitler den Gegner dieser »Naturgesetze«; für das »rassisch hoch stehende«, zahlenmäßig zunehmende dt. Volk leitete er daher die zentrale Aufgabe ab, die Juden zu bekämpfen und neuen Lebensraum zu erobern. Der Krieg galt dabei als ein legitimes Mittel; programmat. Einzelforderungen wurden in erster Linie unter dem Gesichtspunkt ihrer agitator. Verwendbarkeit und Integrationskraft betrachtet.
Der Führerstaat: Grundlegend für den Erfolg des N. in Dtl. vor und nach 1933 war, dass er einer breiten ideolog., politisch wirksamen Strömung in der tief greifenden sozialen Krise einer (sich im Vergleich zu anderen Großmächten) verspätet ausgebildeten bürgerlich-industriellen Gesellschaft mit seiner Propaganda und mit seinem gewalttätigen Aktivismus vielfältige Möglichkeiten zur Identifikation und zur Aggressionsentladung eröffnete.Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. 1. 1933 leitete den 18-monatigen Prozess der nat.-soz. »Machtergreifung« ein; der »Tag von Potsdam« (21. 3. 1933, Staatsakt zur ersten Sitzung des neuen Reichstages) sollte das Bündnis des kaiserl. Dtl. mit dem neuen »tausendjährigen« Reich zur Schau stellen. Gestützt auf die weitgehende (z. T. durch Terror bedingte) Loyalität von Bürokratie und Militär geschah der Machtwechsel durch die Eroberung machtpolitisch entscheidender Positionen (Länderreg., Eindringen der Gauleiter in die regionalen staatl. Führungsämter, Geheime Staatspolizei, Errichtung des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda), durch die zwangsweise, z. T. offen terrorist. Ausschaltung polit. Gegner und ihrer Organisationen (Reichstagsbrand, Ermächtigungsgesetz, Parteien- und Gewerkschaftsverbot, Konzentrationslager); daneben erfolgte die Beseitigung rechtsstaatl. Sicherungen und die »Gleichschaltung« und Lähmung polit. und gesellschaftl. Institutionen (Parlamente, Länder, Presse, Berufsverbände) sowie die Einschüchterung potenziellen Widerstands. Nach Hindenburgs Tod am 2. 8. 1934 vereinigte Hitler die Ämter des Reg.chefs und Reichspräs. als »Führer und Reichskanzler« auf sich; auf den Ebenen unterhalb des »Führers« entstand keine eindeutige Aufgabenverteilung zw. staatl. und Parteiinstanzen. Der N. beanspruchte, die »monolith. Einheit« des polit. Willens geschaffen und organisiert zu haben, die er zuvor gegen Demokratie, Parlamentarismus und den Pluralismus polit. und gesellschaftl. Gruppen gefordert hatte. Rascher gewaltsamer Übergriff auf polit. Gegner (Kommunisten, Sozialdemokraten), Repressalien gegen Juden (ab 1935/38 forciert; Holocaust, Judenverfolgungen, Kristallnacht) sowie Kirchen (Kirchenkampf) u. a. »unerwünschte« Minderheiten (Euthanasie) sowie Vertreibungsmaßnahmen erhöhten die gewünschte psycholog. Wirkung propagandist. Agitation (Geheime Staatspolizei).Auch nach dem Abschluss der Machtergreifungsphase blieb das Spannungsfeld von Parteidienststellen und Staatsapparat erhalten; Fraktionen innerhalb derselben Organisation (auch in dem zunehmend mächtiger werdenden Abwehr- und »Überwachungsorden« SS) befehdeten einander, was in der Konkurrenz um die Gunst der obersten Entscheidungsinstanz die Radikalisierung von Maßnahmen häufig erst herbeiführte. Den Anspruch auf Überwindung des tradierten Wirtschafts- und Sozialsystems hat der N. nie aufgegeben. In den Jahren der nat.-soz. Herrschaft zeichneten sich neue Wege des Aufstiegs und der Elitebildung weitgehend unabhängig von sozialer Herkunft und materieller Lage ab und ließen Dtl. trotz geistiger und polit. Unfreiheit für viele als eine sozial offenere Gesellschaft als zuvor erscheinen. Die relative Stabilität des Systems und die Gefolgschaft, die es bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein fand, beruhten darauf, dass es dem N. gelang, sich Zustimmung aus allen sozialen Schichten zu sichern. Darin bestand auch eine der Hauptschwierigkeiten, vor denen die Widerstandsbewegung gegen das Regime stand. Für den sozialen Wandel der dt. Gesellschaft waren die mit der Aufrüstungspolitik eingeschlagenen Modernisierungstendenzen erheblich wirksamer als die in die vorindustrielle Welt zurückweisenden sozial- und agrarromant., großstadtfeindl. Vorstellungen (»Blut und Boden«), die in der Propaganda, in der Kulturpolitik und in der Tätigkeit versch. nat.-soz. Organisationen überwogen.Zum Nachkriegsprogramm der Mächte der Anti-Hitler-Koalition wie auch der dt. Widerstandsbewegung gehörte die Forderung nach Beseitigung aller nat.-soz. Organisationen und des nat.-soz. Geistes als Voraussetzung für die Entstehung eines demokrat. Staatswesens in Dtl. (Entnazifizierung). Die Zerschlagung der Organisationen nahmen die Besatzungsmächte vor. Eine offene und vorurteilslose Auseinandersetzung mit Ursachen, Ergebnissen und Schuld des N. stieß (und stößt z. T. noch heute) bei großen Teilen der dt. Bev. auf vielfältige Widerstände. - Der Versuch, den N. organisatorisch oder ideologisch wieder zu beleben (Neofaschismus), gilt in Dtl. als verfassungsfeindlich (Art. 18 GG) und wird mit Verbot (Art. 21 GG) der Organisation geahndet, ebenso die Leugnung seiner Verbrechen (Auschwitzlüge).
Forschung: Kaum eine Epoche der dt. Geschichte ist so gründlich erforscht worden wie die NS-Zeit. Neben zahlreichen wiss. Instituten und Einzelforschern im In- und Ausland wird die NS-Forschung in Dtl. v. a. vom Institut für Zeitgeschichte (IfZ; Sitz: München) betrieben. Schwerpunkte der Forschungen waren zunächst die Weltanschauung und die Kriegspolitik des N., die Formen und Bedingungen der Entstehung und des Aufstiegs der NSDAP zur Macht sowie die Rolle Hitlers im N. (»Hitlerzentrik« versus »Strukturgeschichte«, Phänomen der Polykratie), dazu Studien zum Verhältnis zu den alten Machteliten in Dtl. und zu Fragen der Kontinuität oder des Bruches des N. mit den Traditionen dt. Außen- und Gesellschaftspolitik, ferner Untersuchungen zum Widerstand gegen den N. sowie Arbeiten zu nat.-soz. Judenpolitik und Holocaust, speziell zur Genese der »Endlösung«, neuerdings zu den versch. Tätergruppen. Auch der stufenweise Prozess der Verstrickung von Funktionseliten (Justiz, Medizin, Wehrmacht) in das sich radikalisierende Herrschafts- und Vernichtungssystem wurde verdeutlicht, das Bild der Vielfalt der nat.-soz. Herrschaftswirklichkeit vertieft (biograph. Untersuchungen, Studien zur Alltags-, Kultur-, Sozial- und Wirtschafts- sowie Regionalgeschichte der NS-Zeit). Eine neuerl. Debatte um die Rolle des N. im Prozess der Modernisierung machte das Neben- und Ineinander von modernisierenden sowie regressiven inhumanen Zielen und Methoden sichtbar. Im Sinne einer Historisierung wird auch die Frage nach sozialen, mentalen und personellen Kontinuitäten, wie nach den Folgen der Kriegsverbrecherprozesse (Nürnberger Prozesse) und der Entnazifizierung für die gesellschaftl. und polit. Entwicklung im Nachkriegs-Dtl. untersucht (Vergangenheitsbewältigung; für die Forschung kaum ergiebig: der Historikerstreit). Zuletzt erlangte der Diktaturvergleich, im Rahmen des Totalitarismus-Konzepts, neue Beachtung.
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