Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
NATO
NATO,Abk. für engl. North Atlantic Treaty Organization (dt. Nordatlantikpakt, auch Nordatlant. Gemeinschaft, frz. Organisation du Traité de l'Atlantique-Nord, Abk. OTAN), ein Verteidigungsbündnis auf der Grundlage des am 4. 4. 1949 geschlossenen Nordatlantikvertrages. Gründungsmitgl. sind Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Island, Italien, Kanada, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Portugal und die USA. 1952 wurde die NATO um Griechenland und die Türkei erweitert, 1955 trat die Bundesrep. Dtl. und 1982 Spanien bei, 1999 wurden Polen, Ungarn und die Tschech. Rep. aufgenommen. 1966 zog sich Frankreich aus den militär. NATO-Strukturen zurück, blieb Mitgl. der polit. Allianz, stellte jedoch 1996 die volle Beteiligung in den militär. Strukturen in Aussicht und arbeitet seitdem u. a. wieder im Militärausschuss mit. 1974 verließ Griechenland die NATO, trat ihr jedoch 1981 wieder bei. Nachdem Spanien 1986 die Militärstruktur verlassen hatte, beschloss das span. Parlament 1996 die Eingliederung der span. Streitkräfte in die NATO-Militärstruktur. Island unterhält als einziger Bündnispartner keine Streitkräfte. Der Sitz der NATO befindet sich in Brüssel.Ziele und Aufgaben: Der Nordatlantikvertrag (»NATO-Vertrag«; insgesamt 14 Artikel) bekräftigt in der Präambel die Ziele und Grundsätze der UN-Satzung sowie den Wunsch, mit allen Völkern und Regierungen in Frieden zu leben. In Art. 1 verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten, bei Konflikten untereinander den friedl. Ausgleich zu suchen. Art. 2 legt die polit. und wirtschaftl. Zusammenarbeit fest, Art. 4 die Konsultationspflicht. Nach Art. 5 bedeutet ein bewaffneter Angriff auf ein oder mehrere Mitgl.länder einen Angriff gegen alle Mitgl.; eine automat. Beistandspflicht besteht jedoch im Ggs. zum WEU-Vertrag nicht; die Mitgl.staaten entscheiden vielmehr autonom und unabhängig, ob und mit welchen Mitteln sie Beistand leisten wollen. Das Vertragsgebiet nach Art. 6 umfasst die Hoheitsgebiete der Vertragspartner sowie die der Gebietshoheit eines Mitgl.staates unterstehenden Inseln im nordatlant. Gebiet nördlich des Wendekreises des Krebses. Die Festlegung in Art. 6 besagt nicht, dass nicht auch Ereignisse, die außerhalb des Vertragsgebiets auftreten, Thema der Konsultationen im Bündnis sein können, wenn die polit. Gesamtlage Auswirkungen auf die Sicherheitslage des Bündnisses hat. Die NATO ist eine zwischenstaatl. Organisation ohne Hoheitsrechte, in der die Mitgl.staaten ihre volle Souveränität behalten. Auf der Grundlage des Art. 9 wurde eine ständige polit. und militär. Organisation errichtet. Nach Art. 10 kann die NATO jeden anderen europ. Staat zum Beitritt einladen.Organisation: Oberstes Gremium ist der aus den Vertretern der Mitgl.staaten bestehende Nordatlantikrat (NATO-Rat). Als Rat der Ständigen Vertreter tagt dieser wöchentlich auf Botschafterebene. Auf der Ebene der Außen-Min. tritt der Rat zweimal jährlich zusammen, zu grundsätzl. Entscheidungen treffen sich die Staats- und Regierungschefs (»NATO-Gipfel«). Unabhängig von der Ebene, auf der er zusammentrifft, hat der NATO-Rat die gleiche Machtbefugnis und Entscheidungsgewalt; bei der Entscheidungsfindung und Beschlussfassung wird nach dem Einstimmigkeitsprinzip vorgegangen. Die Verteidigungs-Min. bilden den gleichrangigen Ausschuss für Verteidigungsplanung (engl. Abk. DPC), der in entsprechenden Intervallen wie der Rat tagt. Höchstes Beratungsgremium in nuklearen Fragen ist die Nukleare Planungsgruppe (NPG), die in ihrer Zusammensetzung dem DPC entspricht. Der 1997 gegründete Euro-Atlantische Partnerschaftsrat (EAPC) vertieft die Zusammenarbeit zw. NATO und den Ländern, die bisher im Nordatlant. Kooperationsrat (NACC), einem 1991-97 bestehenden Konsultativgremium von NATO- und ehem. Warschauer-Pakt-Staaten sowie bündnisfreien Ländern, und der 1994 initiierten »Partnerschaft für den Frieden« zusammengefasst waren. Der EAPC tritt einmal im Monat auf Botschafterebene sowie auf der Ebene der Außen- und Verteidigungs-Min. je zweimal jährlich zusammen. Mit dem Ständigen Gemeinsamen NATO-Russland-Rat (NRPJC) wurde 1997 ein Forum für regelmäßige Konsultationen zw. NATO und Russland geschaffen. An der Spitze des Generalsekretariats steht der NATO-Generalsekretär, der zugleich Vors. des NATO-Rates, des DPC, der NPG, des EAPC und des NRPJC ist und in seiner Arbeit durch den Internat. Stab (IS) unterstützt wird. Zur Bearbeitung versch. militär., polit. u. a. Spezialbereiche hat der NATO-Rat Fachausschüssen eingesetzt.
Höchstes militär. Gremium ist der dem NATO-Rat untergeordnete Militärausschuss (MC), dem die Generalstabschefs der Mitgl.staaten (für Dtl. der Generalinspekteur der Bundeswehr) angehören; Island kann einen zivilen Beamten entsenden. Der MC berät den NATO-Rat und den DPC und führt deren Weisungen aus; als ausführendes Organ steht ihm der Internat. Militärstab (IMS) zur Seite. Für die versch. Regionen des Vertragsgebiets gibt es die Alliierten Oberbefehlshaber Atlantik (SACLANT, Norfolk/Va.), Europa (SACEUR mit dem Hauptquartier SHAPE, Casteau/Belgien) sowie die Regionale Planungsgruppe Kanada-USA (CUSRPG, Arlington/Tex.), denen die Alliierten Kommandobereiche Atlantik (ACLANT), Europa (ACE) und Kanada-USA unterstehen.Die NATO-Streitkräfte sind eingeteilt in Reaktionsstreitkräfte (präsente Truppenteile für einen sofortigen oder schnellen Einsatz), Hauptverteidigungskräfte (zahlenmäßig größter Anteil der Streitkräfte; z. T. gekadert und nach längerer Vorbereitungszeit einsatzbereit) und Verstärkungskräfte. Die Truppen der einzelnen Mitgl.staaten unterstehen grundsätzlich den nat. Regierungen, die Übertragung der Befehls- und Kommandobefugnis auf NATO-Befehlshaber ist in einem festgelegten Verfahren geregelt.Geschichte: Die Gründung der NATO 1949 erfolgte unter dem Eindruck des sich ausdehnenden kommunist. Machtbereichs in Europa (1945-48). Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges sollte das Bündnis der als Bedrohung empfundenen militär. Präsenz der Sowjetunion als Gegengewicht ein Streitkräftepotenzial im westl. Europa entgegensetzen. Das militär. Konzept der NATO war dabei von dem Grundgedanken bestimmt, gegenüber der Androhung oder Anwendung von krieger. Gewaltmaßnahmen gegen das Bündnis abschreckend und damit kriegsverhindernd zu wirken sowie - falls es zu einem Angriff käme - die territoriale Integrität des nordatlant. Gebiets so rasch wie möglich wieder herstellen zu können. Hinsichtlich der konkreten Ausformung unterlag die Militärstrategie der NATO versch. Änderungen. Die 1950 beschlossene »Vorwärtsstrategie« sollte einen Angreifer so weit östlich wie möglich abwehren. Die »Schwert-Schild-Doktrin« (1957) sah vor, dass konventionelle Streitkräfte als »Schildkräfte« begrenzte Angriffe abwehren, bei einer groß angelegten Aggression die nuklearen »Schwertkräfte« zum Einsatz kommen sollten. Die 1968 gebilligte Strategie der flexiblen Reaktion sah vor dem Hintergrund des atomaren Patts keinen nuklearen Automatismus, sondern eine der jeweiligen Art der Aggression angemessene Reaktion vor.
Basierend auf dem Harmelbericht (1967), der durch Dialog und Zusammenarbeit in allen Bereichen ein stabileres Verhältnis zw. den Staaten in Ost und West auf der Grundlage eines militär. und polit. Gleichgewichts zw. den Blöcken anstrebte, versuchte die NATO seit Ende der 60er-Jahre, den Weg für Abrüstungsverhandlungen mit dem Warschauer Pakt zu ebnen. Der Erfolg dieser Initiative war schließlich die Aufnahme der MBFR-Verhandlungen. Um angesichts der kritisch anwachsenden Überlegenheit des Warschauer Paktes im Bereich der nuklearen Mittelstreckenwaffen (v. a. durch die Stationierung der sowjet. SS-20-Raketen ab Mitte der 70er-Jahre) eine glaubhafte Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit zu erhalten, fasste das Bündnis 1979 den NATO-Doppelbeschluss. In der 2. Hälfte der 80er-Jahre verbesserte sich das Klima zw. NATO und Warschauer Pakt grundlegend. Sichtbarer Ausdruck hierfür waren u. a. der Abschluss der ersten Phase der Konferenz über Vertrauensbildung und Abrüstung in Europa (KVAE) 1986, die Unterzeichnung des INF-Vertrages 1987 (INF) sowie 1990 der KSE-Vertrag.
Bedingt durch den Umbruch in der Sowjetunion und die umwälzenden Veränderungen in den übrigen Staaten Mittel- und Osteuropas sowie den damit einhergehenden Zerfall des Warschauer Paktes verringerte sich die militär. Bedrohung für die NATO entscheidend. Als Konsequenz aus dieser Entwicklung bekräftigte die Allianz 1990 ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Staaten Mittel- und Osteuropas. Am 19. 11. 1990 unterzeichneten Vertreter der NATO und des Warschauer Pakts die »Pariser Erklärung«, in der sie das Ende des Kalten Krieges erklärten. Daran anknüpfend beschloss der NATO-Rat 1991 eine neue Streitkräfte- und Kommandostruktur sowie ein verändertes strateg. Konzept, das v. a. auf Dialog, Krisenbewältigung und Konfliktverhütung setzte. Als weiterer Schritt einer sicherheitspolit. Anbindung der mittel- und osteurop. Staaten wurde 1994 die Partnerschaft für den Frieden initiiert, die seit 1997 im »Euro-Atlant. Partnerschaftsrat« weitergeführt wird. 1997 regelte die NATO das Verhältnis zu Russland mit der Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit, schuf den NATO-Russland-Rat und beschloss mit der Ukraine eine Charta über Partnerschaft. Der Prozess der Erweiterung und Öffnung der NATO wurde 1999 mit dem Beitritt von Polen, der Tschech. Rep. und Ungarn vorerst abgeschlossen.
Doch auch nach dem Ende des Kalten Krieges und der Ost-West-Konfrontation blieb die NATO der kollektiven Verteidigung ihrer Mitgl. verpflichtet. Das bisherige Aufgabenspektrum jedoch ausweitend, orientierte sich die NATO in ihrem im April 1999 verabschiedeten neuen strateg. Konzept nun verstärkt auf Konfliktprävention, Krisenmanagement und militär. Krisenreaktion sowie Abwehr des Terrorismus, die Verhinderung der Weitergabe von Massenvernichtungswaffen sowie die Zusammenarbeit mit Nichtbündnismitgliedern. Dieses Engagement soll auf den euroatlant. Raum beschränkt bleiben bzw. einen Bezug zum Vertragsgebiet aufweisen sowie im Einklang mit dem Völkerrecht und den Prinzipien der UN-Charta stehen und i. d. R. mit UN-Mandat erfolgen.
1992 erklärte sich die NATO bereit, Streitkräfte bereitzustellen, wenn die KSZE (ab 1995 OSZE) oder die UN ein Mandat für friedenserhaltende Maßnahmen in einer europ. Region erteilen sollte. Auf dieser Grundlage erfolgte außerhalb des NATO-Vertragsgebietes 1992 der Adria-Einsatz zur Überwachung der Einhaltung des UN-Embargos gegen die Bundesrep. Jugoslawien, 1993 die militär. Durchsetzung des von den UN verhängten Flugverbots über Bosnien und Herzegowina. Der Einsatz von IFOR in Bosnien und Herzegowina 1995/96, der auch nicht zur NATO gehörende Staaten einschloss, fand mit SFOR seine Fortsetzung. Nachdem polit. Bemühungen der internat. Staatengemeinschaft zur Beendigung der Krise im Kosovo gescheitert waren, begann am 24. 3. 1999 die NATO eine militär. Aktion (unter aktiver Beteiligung der Bundeswehr) gegen die Bundesrep. Jugoslawien. Die Luftangriffe richteten sich hauptsächlich auf Militär-, Industrie- und Infrastruktureinrichtungen und wurden Anfang Mai durch eine Seeblockade ergänzt. Anliegen der militär. Operationen war v. a., die jugoslaw. Reg. zur Beendigung von Gewalt und Vertreibung im Kosovo und zum Abzug ihrer militär. Kräfte zu bewegen sowie einen Zustand zu schaffen, der eine internat. gesicherte und überwachte Rückkehr der Flüchtlinge und Vertriebenen gewährleisten sollte. Da der NATO-Einsatz ohne UN-Mandat erfolgte, war er in der Bev. z. T. heftig umstritten.
Literatur:
Karádi, M. Z.: NATO-Handbuch. Brüssel 1952 ff., erscheint unregelmäßig.
Streitkräfte. Die »military balance« des Internat. Instituts für Strateg. Studien, München 1980 ff.Die Reform der Atlant. Allianz. Bündnispolitik als Beitrag zur kooperativen Sicherheit in Europa? Münster 1994.
Koslowski, G.: Die NATO u. der Krieg in Bosnien-Herzegowina. Vierow 1995.
NATO-Osterweiterung. Neue Mitglieder für ein altes Bündnis?, Beiträge v. A. Pradetto u. a. Berlin 1996.
Ostmitteleuropa, Rußland u. die Osterweiterung der N., hg. v. A. Pradetto. Opladen 1997.
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