Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
mittellateinische Literatur
mittellateinische Literatur,die lat. Literatur des europ. MA. (etwa 500-1500); Ausgangspunkt und Vorbild war die antike lat. Literatur (bes. die Spätantike). Traditionelle Gattungen in Poesie und Prosa wurden weiterhin gepflegt, zugleich aber neue Gattungen (z. B. Heiligenvita, Klostergeschichte, Sequenz und geistl. Spiel) entwickelt, die auch die volkssprachl. Literaturen befruchteten. Neben die Formen der antiken quantitierenden Metrik trat die rhythm. Dichtung. Die m. L. der karoling. Zeit bis gegen Ende des 9. Jh. war stärker als in anderen Perioden auf ein Zentrum ausgerichtet. Aus Italien, England, Irland und Spanien zog Karl d. Gr. Gelehrte und Dichter an seinen Hof: Paulinus von Aquileja, Petrus von Pisa, Alkuin aus York, Theodulf von Orléans und Paulus Diaconus. Sammlung und Austausch der auf den engl. Inseln und in anderen Randgebieten Europas bewahrten Bildungstraditionen waren die Grundlage der geistigen Erneuerung und kulturellen Reform. In bewusster Abkehr vom Latein der Merowinger wurde die Einhaltung der antiken Sprachnormen angestrebt, v. a. durch Grammatiken und Abhandlungen über Orthographie (Alkuin). Neben den gelehrten Schriften zu den Artes liberales, zu exeget. und dogmat. Fragen, zur Geschichte (Einhards »Vita Caroli Magni«) und Bildung (Hrabanus Maurus) pflegten die karoling. Autoren auch ep. und lyr. Gattungen. Gegen Ende des 9. Jh. traten in St. Gallen Notker Balbulus als Dichter von Sequenzen und Tutilo als Verfasser von Tropen hervor. Auch der »Waltharius« entstand wahrscheinlich in St. Gallen. Im 10. und 11. Jh. traten an die Stelle der monast. Dichterschulen und literar. Zentren individueller geprägte Autoren (Hrotsvith von Gandersheim) und Werke (»Ruodlieb«). Im 12. Jh. entfalteten sich alle Gattungen der m. L. zu hoher Blüte. Antike und Christentum wurden in ihrer Inspirationsfunktion durch die unmittelbare historisch-polit. und psychisch-soziale Erfahrung ergänzt. So finden sich u. a. neben den »Carmina Burana« oder der Lyrik des Archipoeta als erste mittelalterl. Staatslehre der »Policraticus« des Johannes von Salisbury sowie die (schriftl.) Hauptquelle aller Artusgeschichten, die »Historia regum Britanniae« des Geoffrey of Monmouth. Religions- und Naturphilosophie suchten Schöpfung und Universum rational zu ergründen (Abälard); vor dem wachsenden Selbstbewusstsein der volkssprachl. Literaturen sicherte die m. L. ihren Standort in rhetorisch-poetologischen Schriften. Im Spät-MA. (13.-15. Jh.) schwand wegen der zunehmenden Bedeutung der Nationalliteraturen der Einfluss der m. L.; ihr Schwerpunkt lag v. a. bei der wiss. (Scholastik) und moralisch-didakt. Literatur (Morallehren, Grammatiken, Vokabularien, Einführungen in die Artes liberales, Fürstenspiegel). In der religiösen Lyrik dominierte die Hymnendichtung; Legenden-, Mirakel- und Exemplarsammlungen wurden zusammengefasst (»Legenda aurea«, »Gesta Romanorum«). (neulateinische Literatur)
Literatur:
Brunhölzl, F.: Geschichte der lat. Literatur des Mittelalters, 2 Bde. München 1975-92.
Berschin, W.: Griechisch-lateinisches Mittelalter. Bern u. a. 1980.
Langosch, K.: Lat. Mittelalter. Einleitung in Sprache u. Literatur. Darmstadt 51988.
Langosch, K.: Mittellatein u. Europa. Führung in der Hauptliteratur des Mittelalters. Darmstadt 1990.
Curtius, E. R.: Europ. Literatur u. lat. Mittelalter. Tübingen u. a. 111993.
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