Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Mythos
Mythos(Mythus) [grch. »Wort«, »Rede«, »Erzählung«] der,
1) Erzählung (Sage) über Götter, Heroen und Ereignisse aus vorgeschichtl. Zeit und die sich darin ausdrückende Weltdeutung. So verstanden, artikulieren M. die Suche des Menschen nach dem Verständnis seiner selbst und der Welt aus ihren Ursprüngen heraus. Nach ihrem Inhalt kann man im Wesentlichen unterscheiden: M. vom Anfang der Welt (kosmogon. M.), von ihrem Ende (eschatolog. M.), meist damit verknüpft M. von der Entstehung der Götter (theogon. M.), M. vom Wechsel der Tages- und Jahreszeiten (kosmolog. M.), von der Entstehung des Menschen (anthropogon. M.), von den Lebensbedingungen des Menschen (Urstands-M.), von den Ursprüngen der Völker, Stiftung religiöser Kulte und Begründung gesellschaftl. Ordnung (ätiolog. M.). Diese urspr., orientierende Funktion (die eng mit dem religiösen Kult zusammenhängt) konnten die M. nur ausüben, solange das ident. myth. Verstehen innerhalb der gesellschaftl. Gruppe gewährleistet war. Mit der Weiterentwicklung der Kulturen, mit der erweiterten Kenntnis der bewohnten Welt schwanden Autorität und bindende Kraft des M. Sowohl seitens der Religion als auch des rationalen, insbes. naturphilosoph. Denkens (Vorsokratiker, Sophisten) wurde der M. der Kritik unterworfen. Es ist nicht mehr zu klären, zu welchem Zeitpunkt dieser Entwicklung die künstler. Ausformung der M. zu Dichtung stattfand, doch ist ihre Überlieferung eng an die Dichtung gebunden: Die ältesten literar. Texte der Menschheit sind meist zugleich M.-Darstellungen (im Alten Orient das Atrachasis- und das Gilgameschepos, in Europa die Epen von Homer und Hesiod). Das aus dem Dionysoskult hervorgegangene grch. Drama ist direkt mit dem M. verknüpft. Für die frühe christl. Theologie waren die antiken M. heidn. Fabelei, doch wurden sie in der christl. Gesellschaft des MA. als Bildungsgut tradiert. Das Interesse daran ist seit der Renaissance ungebrochen, v. a. als Stoffe und Motive in Lit. und bildender Kunst werden sie immer wieder aufgenommen und neu gedeutet.
Der M.-Begriff der modernen Wiss. geht auf das Ende des 18. Jh. zurück (C. G. Heyne, J. G. Herder). Im 19. Jh. erweiterte sich das Blickfeld: Die ind. M. wurden in Europa bekannt, J. und W. Grimm entdeckten die »dt. Mythologie«. Im 20. Jh. ist der M. zum Forschungsgegenstand vieler Disziplinen geworden (bes. im Schnittbereich von Soziologie, Ethnologie, Anthropologie und Religionswiss.); sowohl Psychoanalyse und analyt. Psychologie als auch Strukturalismus wandten ihre Methoden zur Erklärung der M. an. 1941 löste R. Bultmann mit seinem Denkansatz der Entmythologisierung innerhalb der christl. Theologie eine bis in die Gegenwart wirkende Diskussion um den M. aus.
Literatur:
Horstmann, A.: Der M.-Begriff vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Jg. 23, Bonn 1979.Hübner, K.: Die Wahrheit des M. München 1985.
Die Eröffnung des Zugangs zum M. Ein Lesebuch, hg. v. K. Kerényi. Darmstadt 51996.
2) das Resultat einer sich auch noch in der Gegenwart vollziehenden Verklärung von Personen, Gegenständen (z. B. Kunstwerken), Ereignissen oder Ideen. Diese »neuen M.« spiegeln v. a. die Suche nach Sinn in einer von techn. und bürokrat. Zwängen beherrschten Welt und bieten Identität und Integration im kulturell-sozialen Kontext.
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