Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Musiktheater
Musiktheater,in Dtl. im 20. Jh. aufgekommene Bezeichnung für die über die Gattungsbezeichnung Oper hinausgehenden Verbindungen von gesprochenem und gesungenem Wort, Szene (Spiel, Tanz) und Musik seit 1918. Von der Gattung her umfasst der Begriff M. Opern wie A. Bergs »Wozzeck« (1925), auf Gesang verzichtendes episches Theater wie I. Strawinskys »Geschichte vom Soldaten« (1918), Verbindungen von Oper und Oratorium wie Strawinskys »Oedipus rex« (szen. Uraufführung 1928) und D. Milhauds »Christophe Colombe« (1930) und von Oper und Ballett wie H. W. Henzes »Boulevard Solitude« (1952). Neben zeitbezogenen Werken, z. B. E. Kreneks »Jonny spielt auf« (1927), P. Hindemiths »Neues vom Tage« (1929), B. Brechts und K. Weills »Die Dreigroschenoper« (1928) sowie »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« (1930), stehen u. a. Versuche mit Kurzopern (Milhaud, »L'enlèvement d'Europe«, 1927) und Werke, in denen instrumentale Formen vorherrschen (z. B. F. Busoni, »Doktor Faust«, 1916-24). Nach 1945 wandten sich viele Komponisten (B. Britten, Henze, G. C. Menotti, Strawinsky) wieder der Oper zu, freilich unter Anwendung der musikal. wie dramaturg. Mittel des M. der ersten Jahrzehnte des Jahrhunderts. Das Fehlen geeigneter Libretti ließ einige Komponisten wieder auf Dramen der großen Literatur zurückgreifen (Literaturoper): G. von Einem »Dantons Tod« (1947, nach G. Büchner), W. Egk »Der Revisor« (1957, nach N. Gogol), Henze »Der Prinz von Homburg« (1960, nach H. von Kleist), W. Fortner »Die Bluthochzeit« (1957, nach F. García Lorca). Das avantgardist. Theater der 60er- und 70er-Jahre deutete die Idee des Gesamtkunstwerks zum Entwurf eines »totalen Theaters« um (J. Cage, P. Schat, D. Schönbach). Zum »musikal. Theater« werden Stücke gezählt, bei denen die affektiven und gestischen Momente klangl. und stimml. Aktionen visualisiert (G. Ligeti, D. Schnebel) oder strukturelle Gegebenheiten der Musik auf szen. Aktionen übertragen werden (K. Stockhausen: »Inori«, 1974; »Harlekin«, 1975). Seit den späten 70er-Jahren sind erneut Tendenzen einer Rückwendung zur literarisch gebundenen Opernform zu beobachten, z. B. bei Ligeti (»Le grand macabre«, 1978, nach M. de Ghelderode), W. Rihm (»Jakob Lenz«, 1979, nach Büchner ), F. Cerha (»Baal«, 1981, nach Brecht), K. Penderecki (»Die schwarze Maske«, 1986, nach G. Hauptmann), D. Müller-Siemens (»Die Menschen«, 1990, nach W. Hasenclever) und W. Steffens (»Die Judenbuche«, 1993, nach A. von Droste-Hülshoff). Eigenwillige Konzeptionen liegen den Werken von M. Kagel (»Die Erschöpfung der Welt«, 1980), Stockhausen (Zyklus »Licht«, 1981 ff.) und Cage (»Europeras 1 & 2«, 1987) zugrunde. Dem Pluralismus der angewendeten Kompositionstechniken entspricht die Mannigfaltigkeit der verarbeiteten Stoffe: Das Spektrum reicht von der Heiligenlegende (O. Messiaen, »Saint François d'Assise«, 1983) und Bibelhistorie (V. D. Kirchner, »Belshazar«, 1986) über Antikendrama (A. Reimann, »Troades«, 1986), Tierparabel (Henze, »Die engl. Katze«, 1983) und Science-Fiction (P. Glass, »Planet 8«, 1988) bis zum psychologisierenden Zeitstück (Rihm, »Die Hamletmaschine«, 1987; Henze, »Das verratene Meer«, 1990).
Literatur:
Dahlhaus, C.: Vom Musikdrama zur Literaturoper. München 1983.
Neues M., hg. v. H. W. Henze. München 1988.
Eckert, N.: Von der Oper zum M. Wegbereiter u. Regisseure. Berlin 1995.
Büchter-Römer, U.: Aspekte des Neuen M. u. Strategien seiner Vermittlung. Augsburg 1996.
Tillner, W.-D.: Die öffentliche Förderung des M.s in Deutschland. Berlin 1999.
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