Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Mensch
Mensch[ahd. mannisco, eigtl. »der Männliche«, zu Mann], Biologie: das Lebewesen mit dem am höchsten entwickelten Gehirn. Im zoolog. System gehört der M. zur Klasse der Säugetiere und in die Ordnung Primaten. Durch seine Fähigkeit, begrifflich, d. h. in Abstraktionen, denken und dies entsprechend in Sprache ausdrücken zu können, nimmt er eine Sonderstellung ein. Seine körperl. Merkmale (einschl. der Entfaltung des Gehirns) sowie sein Sozialverhalten und seine Emotionen können in vielen Fällen von nichtmenschl. Primaten her abgeleitet werden. Dies weist auf eine langsam erfolgte Entwicklung des M. aus seinen Vorfahren hin (stammesgeschichtl. Menschwerdung, Hominisation). Entwicklungsgeschichte: Die menschl. Evolutionslinie geht von menschenaffenähnl. Formen (Propliopithecus und Aegyptopithecus) des frühen Oligozäns (vor rd. 38 Mio. Jahren) aus. Aus dem unteren Miozän (vor 17-22 Mio. Jahren) liegen Reste von mehreren menschenartigen Formen vor, unter denen der Proconsul africanus durch Funde am besten belegt ist. Der vor etwa 2,5 Mio. Jahren auftretende Homo habilis wird an den Anfang der Entwicklungslinie gestellt, die zum heutigen M. geführt hat. Ihm wird im Wesentlichen die Herstellung von Steinwerkzeugen (»pebble tools«, Geröllgeräte) zugeschrieben. Die Entwicklungsstadien im Einzelnen sind strittig, kein Zweifel besteht jedoch daran, dass zuerst die zweibeinige Körperhaltung und Fortbewegungsweise erworben wurden; erst danach erfolgte die Entfaltung des Gehirns weit über das bei höheren Affen erreichte Maß hinaus. Vor etwa 1,5 Mio. Jahren (oder noch früher) taucht der Homo erectus auf, der weitgehend die Körpergestalt des heutigen M. hatte; es war diejenige Art, die sich erstmals über Afrika hinaus nach Asien und Europa ausbreitete. Geschickt im Herstellen von Werkzeugen (Faustkeile, Abschläge), entwickelte er die Fähigkeit, Feuer zu machen sowie erfolgreich größere Tiere zu jagen. Von hier ging die Entwicklung über eine früharchaische und eine spätarchaische Form zum Homo sapiens, dessen Schädelbau sich grundsätzlich nicht mehr von dem des heute lebenden M. unterscheidet. Der Homo sapiens ist seit mehr als 100 000 Jahren durch Skelettfunde in Afrika (S-Äthiopien, Südafrika) belegt. Von dort breitete er sich über SW-Asien bis Europa aus, wo er sich (nach neueren Theorien) mit der vermutlich dort lebenden Bevölkerung des archaischen Homo sapiens vermischte und diese später ablöste. Europa und Asien wurden mindestens seit Beginn der letzten Zwischeneiszeit (vor rd. 125 000 Jahren) vom Neandertaler besiedelt, der vor rd. 30 000 Jahren wieder verschwand und durch den Homo sapiens abgelöst wurde. Der Neandertaler wird oft als eine bes. an die eiszeitl. Lebensbedingungen angepasste Form des archaischen Homo sapiens angesehen, der, abgesehen von der Schädelentwicklung, anatomisch dem modernen M. ähnlich war.Anthropologie: Aufgrund verschiedenartiger Kombinationen lässt sich die Art Homo sapiens in eine Anzahl von typolog. Kategorien einteilen. Die auffälligsten Unterscheidungsmerkmale sind neben der Haut-, Haar- und Augenfarbe (Komplex der Pigmentierung) bestimmte Körper-, Kopf- und Gesichtsformen sowie physiolog. Parameter wie Wärmeregulation und Blutmerkmale. Die Hautfarbe zeigt eine deutl. Beziehung zur Stärke der UV-Bestrahlung; sie ist in lichtreichen Gegenden dunkel (Schutz gegen UV-Strahlung) und in lichtärmeren Gegenden hell, um ausreichende Bildung von Vitamin D zu gewährleisten. Zur Entstehung der unterschiedl. Kategorien gibt es mehrere Theorien. Heute werden vier typolog. Kategorien unterschieden: die Europiden, die Mongoliden, die (aus diesen hervorgegangenen) Indianiden und die Negriden. Dazu kommen weitere typolog. Kategorien wie die Australiden, die afrikan. und asiat. Pygmiden sowie die Polynesiden. Der Prozess der Bildung der menschl. Kategorien ist eines der Ergebnisse der menschl. Evolution. Er hing v. a. von den Faktoren Isolation, Mutation und Selektion (bzw. Anpassung) ab. Da zw. den Menschen keine biolog. Kreuzungsschranken bestehen, können durch Vermischung die Grenzen zw. den o. g. Kategorien leicht verwischt werden. Heute haben eine hohe Mobilität und eine weitgehende Unabhängigkeit gegenüber Klima und Ernährungsbasis zu relativ starker Durchmischung der einzelnen Kategorien geführt.Philosophie: Die Frage nach der Stellung des M. in Bezug auf das Tierreich, das Weltganze, den Kosmos und die göttl. Mächte ist wesentl. Antrieb aller philosoph. Bemühungen seit deren Anfängen. Bereits in der Antike wurde gegenüber den mit dem Tierreich verwandten menschl. Wesensmerkmalen der übersinnl. Ursprung des Geistes betont. Das Vernunftvermögen unterscheidet nach Aristoteles den M. vom Tier und befähigt ihn als »Zoon politikon« zum geregelten gesellschaftl. Zusammenleben. Seine Fortsetzung fand dieses Menschenbild im klass. Humanismus und in den idealist. Systemen des 18. und 19. Jh. In diesen werden das Ideal einer leiblich-seelisch-geistigen Vervollkommnung und die sittl. Autonomie als menschl. Bestimmungsmerkmale formuliert. Dualistisch zugespitzt wurde das idealist. Menschenbild durch den Rationalismus (R. Descartes); hier erschien der M. als antagonist. Einheit von Geist (Res cogitans) und Körper (Res extensa). Der mechan. Materialismus dehnte die Theorie der kausalen Determination auch auf den M. aus; dieser wird zum »Maschinenmenschen« (J. O. de La Mettrie, »L'homme machine«, 1748). Für den Existenzialismus ist die wesentl. Bestimmung des M. seine Freiheit, durch die er sich selbst zu dem bestimmt, was er ist. Dass der M. überhaupt »da« ist, hat keinen tieferen Sinn (»Absurdität« der Existenz). Gegenüber den Bestimmungen des M. in der abendländ. Philosophie hat die moderne philosoph. Anthropologie eine antispekulative Haltung eingenommen; sie erstrebt eine Vereinigung einzelwiss. Erkenntnisse vom M. zu einer universalen philosoph. Wiss. vom Menschen. Von dieser Sicht der M. unterscheiden sich metaphysikoffene Lehren wie die Evolutionstheorie von P. Teilhard de Chardin oder die Trieb-Geist-Lehre M. Schelers. Insgesamt stellt sich die Selbsteinschätzung des M. als ein Spektrum dar von einer Wertung als »Mängelwesen« (mangelhafte Organ- und Instinktausstattung, Kultur und Ethik als Instrumente der Existenzsicherung) bis hin zur »Krone der Schöpfung« als Endzweck der Geschichte.Religionsgeschichte: In allen Religionen nimmt der M. gegenüber allen anderen Lebewesen eine besondere Stellung ein. Judentum, Christentum und Islam begreifen ihn als Schöpfung des alleinigen personalen Gottes, vor dem sich der M. in seiner ganzen Existenz und für sie zu verantworten hat. Die ind. Religionen sehen aufgrund ihrer Lehre vom ewigen Kreislauf der Wiedergeburten keinen prinzipiellen Unterschied zw. Göttern, Menschen und den anderen Lebewesen, heben den Menschen aber dadurch hervor, dass er allein fähig ist, die Erlösung zu erlangen. Das chines. religiöse Denken sieht in ihm einen dem Universum (Makrokosmos) entsprechenden Mikrokosmos. Die jüd. und christl. Theologie betonen, im Ggs. zu dualist. Religionen, den Gedanken der Ganzheit des Menschen. Der M. ist Leib und Seele, Mann und Frau. Seine Existenz vollzieht sich in der Spannung von Bindung und Freiheit, Glauben und Vernunft, menschl. (freiem) Willen und von Gott gefordertem (Glaubens-)Gehorsam. Als »Krone« des göttl. Schöpfungswerkes ist der M. von Gott über alle anderen Geschöpfe gesetzt, beauftragt, die Schöpfung verantwortlich zu gebrauchen und zu bewahren. Eine zentrale Stellung nimmt in allen Religionen das Problem der Begrenzung der individuellen Existenz des M. durch den Tod ein, das unterschiedlich beantwortet und kultisch-rituell bewältigt wird (Bestattung, Totenkult).
Literatur:
Brugger, W.: Grundzüge einer philosoph. Anthropologie. München 1986.
Gehlen, A.: Der M. Seine Natur u. seine Stellung in der Welt. Wiesbaden 131986.
Der M. Anatomie, Physiologie, Ontogenie, hg. v. K. Sommer. Berlin 111990.
Henke, W. u. Rothe, H.: Paläoanthropologie. Berlin u. a. 1994.
Vom Affen zum Halbgott. Der Weg des Menschen aus der Natur, hg. v. W. Schiefenhövel u. a. Stuttgart 1994.
Eibl-Eibesfeldt, I.: Die Biologie des menschl. Verhaltens. Grundriß der Humanethologie. München u. a. 31995.
Cavalli-Sforza, L. u. Cavalli-Sforza, F.: Verschieden u. doch gleich. Ein Genetiker entzieht dem Rassismus die Grundlage. A. d. Italien. Tb.-Ausg. München 1996.
Harris, M.: Menschen. Wie wir wurden, was wir sind. A. d. Amerikan. Neuausg. München 1996.
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