Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Marxismus
Marxịsmusder, zusammenfassende Bez. für die von K. Marx und F. Engels entwickelten philosoph., politisch-sozialen und ökonom. Lehren, i. w. S. auch deren Interpretation und Weiterentwicklung.Eine wichtige Quelle für den M. ist die Philosophie G. W. F. Hegels und der »Linkshegelianer« (A. Ruge, B. Bauer, L. Feuerbach u. a.). Allerdings stellt Marx Hegel »vom Kopf auf die Füße«, d. h., er interpretiert die idealist. Dialektik Hegels materialistisch: Der histor. Prozess wird vom Widerspruch zw. Produktivkräften (menschl. Arbeitskraft bzw. Fertigkeiten, materielle Produktionsmittel) und Produktionsverhältnissen (soziale Organisationsformen, v. a. Rechts-, Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse) vorangetrieben. Zu diesem Widerspruch kommt es, weil die Menschen die Produktivkräfte ständig fortentwickeln, um ihre immer neu und erweitert entstehenden Bedürfnisse befriedigen zu können. Wenn die Produktionsverhältnisse nicht mehr der Entwicklung der Produktivkräfte entsprechen, kommt es zu gesellschaftl. Krisen, die zur Revolution führen können, zur Ablösung der herrschenden, d. h. über die Produktionsmittel verfügenden Klasse und zu neuen Produktionsverhältnissen. Geprägt und abhängig von der gesellschaftl. Basis, d. h. der jeweiligen Produktionsweise (Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte) und der sich daraus ergebenden Klassen- und Interessenlage, bildet sich ein polit., jurist., kultureller und religiöser Überbau, der mit der Basis in dialekt. Wechselbeziehung steht. Marx erklärte so den Wechsel der herrschenden Klassen, Gesellschaftsformationen und Denkepochen in der Folge: Urgesellschaft - Sklavenhaltergesellschaft - Feudalismus - Kapitalismus - Sozialismus - Kommunismus. Bis zum Sozialismus ist nach Marx die Geschichte eine »Geschichte von Klassenkämpfen« (Klassenkampf), zu denen es immer wieder gesetzmäßig kommt; von da an soll bewusstes gesellschaftl. Handeln im Einklang mit den gesellschaftl. Entwicklungsgesetzen entstehen. Diese Lehre wird allg. als historischer Materialismus bezeichnet.Konkretisiert ist die Lehre des M. bes. an der geschichtl. Epoche des Kapitalismus. Die Bourgeoisie als Vertreterin handwerkl. und sonstiger vorindustrieller kapitalist. Produktionsweise löst den Feudaladel u. a. durch eine Revolution (z. B. die Frz. Revolution) als herrschende Klasse ab und führt neue Produktionsverhältnisse in Form von Privateigentum an den Produktionsmitteln, gesellschaftl. Arbeitsteilung, Geldwirtschaft und Befreiung der Leibeigenen und Hörigen ein, wodurch das Industrieproletariat entsteht und das Fabriksystem sowie die industrielle Produktion sich entwickeln kann. Während der Epoche des Kapitalismus basiert das Wachstum der Produktion auf Ausbeutung, indem sich die Kapitalisten den von den Arbeitern hervorgebrachten Mehrwert aneignen und damit die Erweiterung ihres Privateigentums durch »Akkumulation« betreiben. Zum Nachweis der Ausbeutung dient Marx die Arbeitswerttheorie, zu der er bes. durch D. Ricardo angeregt wurde. Im Kapitalismus wird die menschl. Arbeitskraft zur Ware. Sie wird von den besitzlosen Proletariern angeboten und hat die Eigenschaft, mehr Werte zu schaffen, als zu ihrer Reproduktion benötigt werden (Lebensmittel usw.); der Kapitalist kann sich die Differenz zw. produzierten Werten und Lohn, d. h. den Mehrwert, aneignen; also werden die Arbeiter nach Marx ausgebeutet. Die durch den unkontrollierten privaten Akkumulationsprozess und die im Marktsystem ungenügend koordinierte gesellschaftl. Arbeitsteilung in verstärktem Maße entstehenden ökonom. Krisen (Konjunkturzyklen ausgelöst durch »Überakkumulation« oder »Unterkonsumtion«, Verdrängung kleiner und mittlerer Unternehmen durch Großunternehmen, Sinken der aus dem Mehrwert entstandenen Profitrate), die noch dazu mit einer Verelendung des Proletariats durch Sinken des Lohns auf das Existenzminimum (Verelendungstheorie) einhergehen, würden gesamtgesellschaftl. Planung notwendig machen; die kapitalist. Produktionsverhältnisse werden zum Hemmnis für die Produktivkräfte. Nach Marx hat das Industrieproletariat, das vorher die ihm adäquate Organisationsform gebildet hat, nun die histor. Mission, die polit. und ökonom. Macht zu erobern und sozialist. Produktionsverhältnisse, bes. Kollektiveigentum und gesellschaftl. Planung, einzuführen. Erst nachdem diese Aufgabe im Rahmen der Diktatur des Proletariats erfüllt ist, kann im Kommunismus der Staatsapparat »absterben«.Sowohl die Vieldeutigkeit der Lehren als auch die Notwendigkeit zur Umdeutung, da Vorhersagen von Marx nur z. T. eintraten (Ausbleiben oder Scheitern der Versuche einer sozialist. Revolution nach dem Ersten Weltkrieg, bes. in den industriell höchstentwickelten Ländern, die Abwegigkeit der Verelendungstheorie), führten zu kontroversen Auslegungen, so zum Revisionismus, zu determinist. Vertrauen auf das Wirken der Geschichtsgesetze (K. Kautsky), zum Austromarxismus; bes. lebhaft war die Marx-Diskussion und -Interpretation in den Zwanzigerjahren (v. a. E. Bloch, G. Lukács, Karl Korsch [* 1886, ✝ 1961]; von der Generallinie in der UdSSR abweichend auch Trotzki, Bucharin und die versch. Rätebewegungen); sie bildete die Wurzel des seit 1945 entstandenen Neomarxismus und des Eurokommunismus .Die Hauptströmung des M. wurde jedoch der Marxismus-Leninismus. Dieser gründet sich auf die von W. I. Lenin vorgenommene Anpassung der Lehren von Marx und Engels an die sozialen und polit. Verhältnisse Russlands im frühen 20. Jh. Der Leninismus berücksichtigt über die Lehren des M. hinaus den Eintritt des Kapitalismus in das Stadium des Imperialismus und vertritt die Lehre von der »ungleichmäßigen Entwicklung« der versch., am kapitalist. Weltmarkt teilnehmenden Gesellschaften. Während Marx annahm, dass die proletar. Revolution von den hoch industrialisierten Staaten Mittel- und Westeuropas ausgehen würde, behauptete und betrieb der Leninismus mit Erfolg den revolutionären Durchbruch in einem relativ rückständigen, agrarischen Land. Lenin formulierte darüber hinaus die Lehre von der »Partei neuen Typs«, die als »klassenbewusste Vorhut des Proletariats« die Führung und Erziehung der werktätigen Massen zu übernehmen hat. Durch die sowjet. Vormachtstellung in der Komintern wurde die Organisationstheorie Lenins lange Zeit für alle kommunist. Parteien verbindlich. Die Nachfolger Lenins, v. a. Stalin, bauten den M.-Leninismus zu einer Weltanschauungslehre mit dogmat. Zügen und dem Anspruch auf Universalität und Wissenschaftlichkeit aus. Neben die politisch-sozialen und ökonom. Lehren wurde der systematisierte dialekt. Materialismus gestellt, der v. a. auf Engels' Annahme einer »Dialektik der Natur« beruht. Nach dieser Lehre sind alle Erscheinungen der Welt materiell oder aus Materie hervorgegangen; zum philosoph. Materialismus tritt die Auffassung von der Entwicklung der Welt als eines Prozesses, der sich ständig in Gegensätzen bewegt. Bestimmt wird dieser Prozess vom Gesetz des Umschlagens quantitativer Veränderungen in qualitative und vom Gesetz der Negation der Negation.Mit der Entstalinisierung (1956) traten in den kommunist. Staaten zunehmend Systemkritiker hervor, die eine Liberalisierung und z. T. Verwerfung des Kommunismus und M. forderten. Ein eigenes Gesellschaftsmodell mit Leitung der Produktion durch Arbeiterräte (Titoismus) wurde in Jugoslawien erprobt. Mao Zedong entwickelte eine neue Theorie der proletar. Revolution (Maoismus). Auch andere kommunist. Parteien gingen z. T. eigene Wege. Am Ende des 20. Jh. reduzieren sich die vom M. abgeleiteten Gesellschaftsmodelle durch den fakt. Zusammenbruch des marxistisch-leninistisch begründeten real existierenden Sozialismus auf einzelne Ansätze des Neomarxismus und die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus.
Literatur:
Wetter, G. A.: Der dialekt. Materialismus. Freiburg im Breisgau 51960.
Hartmann, K.: Die Marxsche Theorie. Berlin 1970.
Kühne, K.: Ökonomie u. M., 2 Bde. u. 1 Registerbd. Neuwied u. a. 1972-74.
Fleischer, H.: Marx u. Engels. Die philosoph. Grundlinien ihres Denkens. Freiburg im Breisgau u. a. 21974.
Der M. Seine Geschichte in Dokumenten, hg. v. I. Fetscher, 3 Bde. München 31976-77.
Grebing, H.: Der Revisionismus von Bernstein bis zum »Prager Frühling«. München 1977.
Steitz, W.: Einführung in die polit. Ökonomie des M. Paderborn 1977.
Wetter, G. A.: Dialekt. u. histor. Materialismus. Frankfurt am Main 188.-192. Tsd. 1979.
Der M. in seinem Zeitalter, hg. v. H. Fleischer. Leipzig 1994.
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