Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
lateinamerikanische Kunst
latein|amerikanische Kunst(iberoamerikanische Kunst), die Kunst in den Spanisch und Portugiesisch sprechenden Ländern Mittel- und Südamerikas seit der Kolonisierung durch Spanien und Portugal (16. Jh.).Spanische Kolonien: In Mexiko errichteten die Bettelorden festungsartige Klosteranlagen mit hohen Mauern. Die Klosterkirchen wurden im isabellin. Stil (nach Isabella I. ben., 15./16. Jh.) errichtet: einschiffig, mit rechteckiger oder quadrat. Apsis, mit Kreuzgewölben und mit nur wenigen Türen und Fenstern; dem Festungscharakter entsprechend krönt die Dächer ein Zinnenkranz. Die Ornamente fügen sich im Mudéjar-, meist jedoch im Platereskenstil ein. Luftgetrocknete Ziegel oder Hausteine dienten als Baumaterialien. Obwohl Einheimische an den Bauten mitwirkten, finden sich kaum Einwirkungen der altamerikan. Kunst. Bemerkenswert sind in Mexiko die Anlagen der Franziskaner in Huejotzingo, Cholula und San Andrés Calpan, der Dominikaner in Tepotzotlán, der Augustiner in Acolman und Actopan. Bei dem ecuadorian. Wehrkloster San Francisco (1564-75) in Quito zeigt sich der Einfluss des italien. Manierismus. Die früheste Kathedrale entstand in Santo Domingo (1520-41) auf der Antilleninsel Hispaniola. Bei den Kathedralen von Guadalajara, Oaxaca, Mexiko und Puebla in Mexiko sowie von Lima und Cuzco in Peru verbindet sich der strenge, schmucklose Stil der span. Spätrenaissance (Desornamentadostil) mit spätgot. Elementen. Im 17. Jh. wurde die Jesuitenkirche Il Gesù in Rom vorbildlich für Kirchen in Lateinamerika (Jesuitenbaukunst). In Ecuador (Quito), Peru (Cuzco, Lima, Arequipa) und Argentinien (Córdoba) entstanden Jesuitenkirchen mit prunkvoll ausgestatteten Innenräumen, die Vorbild wurden für weitere Kirchenbauten. Im frühen 18. Jh. wurde der Churriguerismus (Churriguera) in Mexiko eingeführt. Überreiche Ornamente finden sich am Außenbau v. a. an Portalen, im Innern an den Altären. In den größeren Städten wurden viele Paläste und öffentl. Gebäude errichtet; ihre reiche Baudekoration konzentrierte sich auf die Portale und Innenhöfe. Bes. ragen hervor die Kathedrale von Havanna auf Kuba, in Mexiko der sich an die Kathedrale anschließende Sagrario Metropolitano und die Kirche La Enseñanza Antigua in der Stadt Mexiko sowie die Rosenkranzkapelle (Capilla del Rosario) von Santo Domingo in Puebla, in Peru San Francisco, La Merced und der Palast Torre-Tagle in Lima, La Merced und Santo Domingo in Cuzco sowie das Kloster La Compañía in Arequipa, in Bolivien San Lorenzo in Potosí. In Ecuador und Bolivien (v. a. Quito, La Paz, Potosí, die Kirchen um den Titicacasee) ist der Bauschmuck der Sakralbauten mit indian. Motiven durchsetzt. In Mexiko ist das indian. Element in der Baukunst bes. häufig um Puebla zu finden (z. B. die Kirchen in Acatepec und Tonantzintla). Die Skulptur stand in den Kolonien v. a. im Dienst der Architektur. Ganz allg. ahmten die Bildhauer span. Vorbilder nach, meist sevillan. Skulpturen, jedoch bildeten sich durch einheim. Künstler gelegentlich regionale Varianten heraus. Die Malerei entwickelte sich unter dem Einfluss von Renaissance und Manierismus nach Vorbildern aus Spanien, Italien und Flandern. Wichtige Zentren der Malerei waren Quito, Potosí und La Paz.Portugiesische Kolonien: In Brasilien setzte die künstler. Entwicklung später ein als in den span. Kolonien. Im 17. Jh. waren die Franziskaner und Jesuiten ihre Hauptförderer. Die europ. Stilelemente, bes. portugies. und italien., wurden fast unverändert übernommen. Die künstler. Zentren lagen an der Küste: Bahia (heute Salvador), Recife, Olinda und Rio de Janeiro. Nach dem Vorbild der ihrerseits von der italien. Architektur beeinflussten Kirchen São Roque und São Vincente de Fora in Lissabon wurden einschiffige Kirchen errichtet, meist ohne Vierung. Eine Besonderheit gegenüber Spanisch-Amerika stellen v. a. die Seitenkapellen des Presbyteriums dar. Schiff und Altarraum wurden mit Tonnengewölben geschlossen (meist aus Holz, oft mit kunstvoller Kassettierung). Die Kirchenfassaden des 17. Jh. waren relativ schmucklos, oft flankiert von zwei quadrat. Türmen (Olinda, Recife, Salvador). Giebel-, Tür- und Fensterrahmungen wurden sorgfältig ausgearbeitet. Im 18. Jh. zeigt sich der barocke Überschwang bes. in den reich mit vergoldeter Ornamentik ausgestatteten Kirchenschiffen (São Bento in Rio de Janeiro, São Francisco in Salvador, Capela Dourada und São Pedro dos Clérigos in Recife). Eine eigenständige Variante des Kolonialbarock bildete sich im 18. Jh. in dem an Gold u. a. Bodenschätzen reichen Staat Minas Gerais heraus. Hier war der Architekt und Bildhauer Aleijadinho tätig. Neben farbig gefassten, naturalistisch gestalteten Skulpturen gehören Kanzeln und Chorgestühl zu den Meisterleistungen brasilian. Bildschnitzerkunst (São Bento in Rio de Janeiro, São Francisco in Salvador). Die Malerei in Brasilien, im 17. Jh. von europ. Ordensgeistlichen begründet, fand ihren Höhepunkt in den Wand- und Deckenmalereien der Kirchen von Minas Gerais, Salvador und Rio de Janeiro.Moderne Staaten: Im 19. Jh. ließen Unabhängigkeitskriege und polit. Wirren eigene künstler. Kräfte in Lateinamerika kaum aufkommen. Die europ. Akademietradition dominierte. Erst im 20. Jh. kam es zu einer eigenständigen Entwicklung, bes. durch die Rückbesinnung auf altamerikan. Kulturerbe. Herausragendes Beispiel dafür ist der mexikan. Muralismo. Bedeutende Wandmalereien schuf auch der Kolumbianer P. Nel Gómez (* 1899). In Brasilien prägte v. a. der Maler C. Portinari eine nat. Kunstauffassung. Auch die Bildhauer Lygia Clark (* 1920) und S. de Camargo (* 1930) traten bes. hervor. Internat. Strömungen der Gegenwart werden oft von Künstlern vertreten, die in Europa, bes. Paris, und in den USA studierten, so von den Venezolanern J. R. Soto und G. Cruz-Díez. Für Kolumbien sind E. Negret (* 1920), E. Ramírez-Vilamizar (* 1923) und F. Botero repräsentativ, für Chile R. Matta Echaurren. In Argentinien setzten sich moderne Tendenzen bes. mit E. Pettoruti (* 1892, ✝ 1971) durch, später beherrschten dort J. Le Parc (* 1928) und E. Mac Entyre (* 1929) die Kunstszene. Der Uruguayer J. Torres García (* 1874, ✝ 1949) übte mit seiner konstruktivist. Auffassung großen Einfluss aus. - Die moderne Architektur Lateinamerikas erhielt z. T. Anregungen von europ. Emigranten, wie dem in Mexiko tätigen Spanier F. Candela, auch von O. Niemeyer, der neben L. Costa, R. Levi und A. E. Reidy (* 1909, ✝ 1964) für Brasilien zu nennen ist. C. R. Villanueva vertrat die Bestrebungen der modernen Architektur in Venezuela.
Spätestens seit dem letzten Jahrzehnt hat die l. K. durchweg den Anschluss an die zeitgenöss. internationalen Kunstrichtungen gefunden, ohne die Charakteristika ihrer Herkunft zu verleugnen. Seit den 1980er-Jahren hat die Tendenz, in raumgreifenden Installationen soziale, metaphys. und ästhet. Probleme zu bearbeiten, bei den südamerikan. Künstlern zugenommen. Im Bereich der erweiterten Fotografie mischen sich Dokumentation und Inszenierung.
Literatur:
Gretenkord, B.: Künstler der Kolonialzeit in Lateinamerika. Ein Lexikon. Berlin u. a. 1993.
L. K. im 20. Jh., hg. v. M. Scheps, Ausst.-Kat. Josef-Haubrich-Kunsthalle, Köln 1993.
Havanna, São Paulo. Junge Kunst aus Lateinamerika, bearb. v. U. Hermanns, Ausst.-Kat. Haus der Kulturen der Welt, Berlin 1995.
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