Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Liberalismus
Liberalịsmus[aus lat. liberalis »die Freiheit betreffend«] der, Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsauffassung, die die Freiheit des Einzelnen als grundlegende Norm menschl. Zusammenlebens ansieht und den Fortschritt in Kultur, Recht, Sitte, Wirtschaft und sozialer Ordnung als den Inhalt geschichtl. Entwicklung versteht.Die geistesgeschichtl. Wurzeln des L. liegen im neuzeitl. Individualismus (Renaissance), in der Aufklärung sowie im Neuhumanismus und Idealismus. Zu der Lehre des L. trugen v. a. bei: in England J. Locke, F. Hutcheson, A. Ferguson, J. Bentham, später J. S. Mill; in Frankreich neben Montesquieu und E. J. Sieyès die mit der »Encyclopédie« verbundenen Denker D. Diderot, d'Alembert, J.-J. Rousseau, A. R. Turgot, A. Condorcet; in Dtl. v. a. I. Kant. Im großen Umfang politisch wirksam wurde der L. zuerst in der Unabhängigkeitserklärung und Verf. der USA, dann im 1. Abschnitt der Frz. Revolution (Erklärung der Menschenrechte von 1789, Verf. von 1791). In der Folgezeit konzentrierte sich der polit. L., nunmehr von breiten Schichten des Bürgertums getragen, bes. auf die Forderung des Rechts- und Verfassungsstaats, außerdem auf Beseitigung ständ. Vorrechte, Selbstverwaltung der Gemeinden u. a. Der L. wurde der geistige Gehalt der »bürgerl. Revolutionen« (1830, 1848) und nat. Einigungsbewegungen (Italien, Dtl.). Innenpolit. Freiheitsbestrebungen verbanden sich mit einer machtpolit. Richtung in der Außenpolitik, die imperiale Ideen verfocht. Als Reaktion auf die Annäherung v. a. des nat. orientierten L. an den Konservativismus entwickelte sich eine radikale linksliberale Richtung, die die demokrat. Ideen weiterentwickelte.Der wirtsch. L. erhielt seine klass. Begründung durch A. Smith, D. Ricardo, J. Mill und fand seinen Ausdruck im 19. Jh. in der Forderung nach Gewerbefreiheit, freiem Wettbewerb, Freihandel und in seiner extremsten Form im Manchestertum. Staatseingriffe, wie sie für den Merkantilismus typisch sind, lehnt der klass. Wirtschafts-L. ab. Künstl. Produktionsbeschränkungen, die z. B. das Zunftsystem kennzeichnen, gelten ebenso als Fesseln des Fortschritts wie Zollbarrieren. Das Gebot der Nichteinmischung des Staates gilt prinzipiell auch für die Beziehung zw. Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Die soziale Frage kann nach Auffassung des klass. L. nur durch Selbsthilfe der Betroffenen und durch eine Verbesserung des Bildungswesens gelöst werden. Unter Berücksichtigung prakt. Erfahrungen zeigt sich der wirtsch. L. des 20. Jh. als Neoliberalismus, dessen wissenschaftstheoret. Grundlagen weitgehend der Freiburger Schule entstammen.Die liberalen Parteien spielten in allen Parlamenten des 19. Jh. eine bedeutende Rolle. Aufbauend auf der Wirtschaftslehre des L. entwickelte sich die hochkapitalist. Wirtschaftsform (Kapitalismus). Im 20. Jh. führten die innere Fortentwicklung der industriellen Gesellschaftsordnung zu neuen wirtsch. und rechtl. Bindungen sowie die Hinwendung vieler Wähler zu anderen polit. und sozialen Konzepten zu einer Krise des L. Wo totalitäre Systeme zur Macht gelangten, wurde der L. praktisch ausgeschaltet. Dass der L. den Gedanken notwendiger Bindungen, bes. den des sozialen Ausgleichs, in sich aufnimmt, stellt eine neuere Phase seiner Entwicklung dar (Neoliberalismus). Heute sind viele der liberalen Grundwerte in Staat und Gesellschaft im Wesentlichen präsent; auch andere Parteien sind von liberalen Vorstellungen (Beachtung der Grundrechte, Rechtsstaat, repräsentative Demokratie, angestrebte Chancengleichheit, freiheitlich-demokrat. Gesellschaftsvorstellungen) beeinflusst worden. Als Aufgabe stellen sich heute für den L. v. a. Versuche, die unkontrollierte Machtentfaltung von Bürokratie und multinationaler Wirtschaft einzudämmen.
Literatur:
Rawls, J.: Die Idee des polit. L., hg. v. W. Hinsch. Frankfurt am Main 1994.
L. u. Region. Zur Geschichte des dt. L. im 19. Jh., hg. v. L. Gall u. a. München 1995.
L. Interpretationen u. Perspektiven, hg. v. E. Brix u. a. Wien u. a. 1996.
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