Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Kurden
Kụrden,Volk in Vorderasien mit iran. Sprache. Die K. leben als Ackerbauern und Halbnomaden im Grenzbereich (etwa 200 000 km2) Türkei/Irak/Iran sowie in NO-Syrien und SW-Armenien. Durch Migration und Umsiedlung gelangten K. auch nach Jordanien, Libanon, Zentralanatolien, O-Iran, Georgien und Mittelasien, als Arbeitskräfte auch in die W-Türkei (Istanbul, Adana u. a.) und Europa (v. a. Dtl.). Schätzungen über die Zahl der K. schwanken zw. 12 und 30 Mio. Trotz gemeinsamer Sprache, Geschichte und Kultur konnten die K. keinen eigenen Nationalstaat errichten; sie bilden Minderheiten in der Türkei (12 Mio.), in Iran (5,5 Mio.), Irak (3,7 Mio.), Syrien (0,5 Mio.), in mittelasiat. GUS-Staaten (0,15 Mio.) und im westl. Europa (0,62 Mio.). 75-80 % sind Sunniten, die Übrigen Schiiten meist extremer Richtungen. Nur begrenzt, trotz kurd. Muttersprache, werden zu den K. die unter ihnen verbreiteten Jesiden gerechnet, Angehörige einer geheimen Religionsgemeinschaft mit altorientalisch-heidn. und häretisch-christl. Glaubenselementen (Glaube an den Engel Pfau).
Geschichte: Erstmals 2150 v. Chr. in Sumer als »Land der Karda« erwähnt, fand die ethn. Konsolidierung im 3./4. Jh. n. Chr. ihren Abschluss. Zwischen 637 und 643 nahm die Mehrheit der K. den Islam an. Die Zugehörigkeit des Siedlungsgebietes der K., Kurdistan, zum Seldschukenreich (11./12. Jh.), später zum Pers. und Osman. Reich war selten mehr als nominell, vielmehr bildeten sich einheim. lokale Feudalherrschaften heraus. 1514 erstmals zw. Persern und Osmanen aufgeteilt, kam Kurdistan 1639 fast ganz unter osman. Herrschaft, die im Zuge der Zentralisierung bis zum 19. Jh. die kurd. Emire durch türk. Gouverneure ersetzte. Im 19. und frühen 20. Jh. wanderten K. (Jesiden) nach Armenien und Georgien aus. Entgegen dem Frieden von Sèvres (10. 8. 1920), der den K. erstmals die Eigenstaatlichkeit zusprach und die Entstehung einer kurd. Nationalbewegung förderte, wurde der ehemals osman. Teil Kurdistans Irak, Syrien und der Türkei eingegliedert (2. Teilung Kurdistans; vorbereitet im britisch-frz. Sykes-Picot-Abkommen von 1916). Der Frieden von Lausanne (24. 1. 1923) gestand den K. keinen Minderheitenschutz in der Türkei zu; zw. 1925 und 1937 schlug die türk. Armee mehrere größere Aufstände nieder (Türkei, Geschichte). Mit unterschiedl. Intensität betrieben die türk. Reg. seitdem gegenüber den »Bergtürken« genannten K. eine Politik der Türkisierung.
In NW-Iran erstarkte unter sowjet. Besatzung (1941-46) die kurd. Nationalbewegung. Unter Ghasi Mohammed bestand dort von Jan. bis Dez. 1946 die »Kurd. Rep. Mahabad«.
In Irak kam es nach Konflikten mit der dortigen Regierung (1931/32 und 1944/45) 1961-70 zu einem allg. K.-Aufstand unter Führung von Mulla Mustafa Barsani. Unzufrieden mit der Umsetzung der im Rahmen einer neuen irak. Verf. (1970) gewährten Autonomie, erhoben sich die K. 1974 unter Barsani erneut; der Aufstand brach jedoch im Frühjahr 1975 zusammen.
Nach dem 1. und 2. Golfkrieg kam es abermals zu Aufständen der irak. K. in N-Irak. Nach dem 1. Golfkrieg setzte Irak 1988 Giftgas gegen die irak. K. ein; 500 000 K. flüchteten in die Türkei und nach Iran. Nach der blutigen Niederschlagung eines weiteren K.-Aufstandes in N-Irak (März 1991; Zentrum: Kirkuk) im Anschluss an den 2. Golfkrieg flohen etwa 1,5-2 Mio. K. nach Iran sowie ins Grenzgebiet zur Türkei. Um die kurd. Flüchtlinge vor irak. Verfolgung zu schützen, richteten amerikan., brit. und frz. Truppen im April 1991 in N-Irak (nördlich des 36. Breitengrads) eine Sicherheitszone ein. In deren Schutz entstand - ohne Zustimmung Iraks - ein faktisch autonomes Gebiet, in dem am 19. 5. 1992 Parlaments- und Präsidentschaftswahlen durchgeführt wurden; dabei erhielten die Demokrat. Partei Kurdistans (Abk. DPK) und die Patriot. Union Kurdistans (Abk. PUK) von 105 Sitzen je 50. Am 5. 10. 1992 beschloss das kurd. Parlament in Erbil die Bildung eines kurd. Teilstaates innerhalb Iraks. 1994-97 kam es immer wieder zu schweren Kämpfen zw. DPK und PUK um die Führung der kurd. Autonomiebewegung.
In der Türkei erhob sich 1984 die Guerillaorganisation der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in SO-Anatolien gegen die Reg., um einen eigenen Staat für die auf türk. Gebiet lebenden K. durchzusetzen. 1987 rief die türk. Reg. in SO-Anatolien den Ausnahmezustand aus. Seit 1991 gesteht sie den K. auf ihrem Staatsgebiet größere Rechte zu (v. a. den offiziellen Gebrauch ihrer Sprache; Anerkennung als ethn. Minderheit). Im selben Jahr verschärften sich aber die Kämpfe zw. türk. Truppen und den Kämpfern der PKK in SO-Anatolien und ihren Rückzugsgebieten v. a. in N-Irak. Im Juli 1993 startete die türk. Reg. eine Großoffensive gegen die PKK in der SO-Türkei (Einsatz von 100 000 Soldaten, Panzern und Kampfflugzeugen) und drang im Okt. desselben Jahres auf irak. Gebiet vor, um die Rückzugsräume der PKK dort anzugreifen. In den folgenden Jahren (1994-97) wiederholte die türk. Reg. diese militär. Operationen. Der Unabhängigkeitskampf der K. in der Türkei forderte bis Mitte 1997 etwa 21 000 Tote. Internat. Menschenrechtsorganisationen werfen v. a. der türk. Armee zahlr. Menschenrechtsverstöße (Verschleppung von Menschen, Folterungen von Inhaftierten) vor. 1995 konstituierte sich in Den Haag ein Exilparlament.
Vor dem Hintergrund eines hohen Anteils der K. unter der ausländ. Bevölkerung (zw. 350 000 und 550 000) geriet auch Dtl. in den Sog der K.-Problematik. Die Anhänger der in Dtl. verbotenen PKK kritisieren v. a. die dt. Waffenlieferungen an den NATO-Partner Türkei.
Literatur:
B. Nirumand. Die kurd. Tragödie. Die K. - verfolgt im eigenen Land, hg. v. Reinbek 1991.
Feigl, E.: Die K. Geschichte u. Schicksal eines Volkes. München 1995.
Sie können einen Link zu dem Wort setzen

Ansicht: Kurden