Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Kulturkampf
Kulturkampf,von R. Virchow 1873 in Preußen geprägter Begriff für die Auseinandersetzungen zw. dem 1871 gegr. Dt. Reich und der kath. Kirche um die (Neu-)Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Kirche und den kirchl. Einfluss v. a. auf Bildungswesen sowie Ehe- und Schulgesetzgebung (1871-87); seither auch Bez. für ähnl. Auseinandersetzungen in Hessen, Baden (ab 1863/1864), Österreich (1855-74) und der Schweiz (1873-83) bzw. für den grundlegenden Konflikt zw. dem modernen Staat und der vom Traditionalismus geprägten kath. Kirche im 19. Jh. Wesentl. Grundlagen für den K. bildeten einerseits der im Ergebnis der Revolution von 1848 politisch organisierte und einflussreiche Liberalismus und die zunehmende Emanzipation der bürgerl. Gesellschaft von der Kirche, andererseits die Bestrebungen des Papstes und der kath. Kirche, im Rahmen eines politischen Katholizismus ihren traditionellen polit. Einfluss zu bewahren und auszubauen und die nat. Teilkirchen enger an Rom zu binden (Ultramontanismus). Mit besonderer Schärfe wurde der K. in Preußen geführt. Als Hauptgegner standen sich Fürst Otto von Bismarck und Papst Pius IX. gegenüber. Bismarck sah v. a. in der 1870 gegr. Zentrumspartei die polit. Kraft, mit der der Papst in die Angelegenheiten des weithin preußisch-protestantisch geprägten neuen Dt. Reiches hineinregierte, und versuchte, den Einfluss der kath. Kirche auf dem Wege der Gesetzgebung zu brechen. 1871 verbot der so genannte Kanzelparagraph (StGB, § 130 a; in der Bundesrep. Dtl. 1953 aufgehoben) den Missbrauch der Kanzel zu polit. Zwecken, 1872 wurde mit dem Jesuitengesetz die Tätigkeit des Jesuitenordens im Dt. Reich verboten. Den Höhepunkt erreichte der K. mit den vier Maigesetzen von 1873 (staatl. Schul- und Kirchenaufsicht; Regelung wesentl. innerkirchl. Angelegenheiten über Staatsgesetze). Die Verweigerung und der entschlossene Widerstand der Kirche führten zur Absetzung und Verhaftung zahlr. Bischöfe und Geistlicher. Mit dem so genannten Brotkorbgesetz von 1875 wurden alle staatl. Leistungen an die kath. Kirche eingestellt. Auch wurden fast alle Klostergenossenschaften (außer den krankenpflegenden) aufgelöst. Das Zivilehegesetz (1874 preuß. Landesgesetz, 1875 Reichsgesetz) führte die pflichtmäßige Zivilehe (ab 1876 Aufbau von Standesämtern und Personenstandsregistern [Familienbuch 2)]) ein. Trotz weiterer Maßnahmen 1876-78 konnte Bismarck sein polit. Ziel nicht erreichen. Die Erbitterung der kath. Bev. und der starke Stimmenzuwachs der Zentrumspartei veranlassten ihn zu Verhandlungen mit Papst Leo XIII. Ab 1879 begann der schrittweise Abbau der Maigesetze. Mit den Friedensgesetzen von 1886 und 1887 wurde der K. formell beendet. Die Aufhebung des Jesuitengesetzes erfolgte erst 1904 und 1917 (in zwei Stufen). In Baden, Bayern und Hessen ging es v. a. um die Beschneidung des kirchl. Einflusses auf das Schulwesen. In der Schweiz kam es zu Auseinandersetzungen mit der kath. Kirche zw. 1873 und 1883 bes. in den Kantonen Genf, Solothurn und Bern. Der Bundesrat brach 1874 die Beziehungen zum Vatikan ab (1920 wieder aufgenommen).
Literatur:
R. Lill. Der K., hg. v. Paderborn u. a. 1997.
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