Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Kriminalliteratur
Kriminalliteratur,Sammelbez. für unterhaltungswirksame, auf Spannung orientierte erzählende Literatur, in der die Durchführung und Aufklärung eines Verbrechens und dessen soziale und psycholog. Hintergründe im Mittelpunkt der Handlung stehen.Hinsichtlich der Erzählstruktur lässt sich die K. in Detektivroman, Detektivgeschichte einerseits und Kriminalroman, Kriminalgeschichte (bzw. deren Gestaltungsvarianten Thriller und kriminalist. Abenteuergeschichte) andererseits unterteilen. Im angelsächs. Sprachraum findet sich hierfür die Unterscheidung von »Detectivestory« und »Crimenovel«, das Französische kennt beide als »Roman policier«.
Der Detektivroman i. e. S. bezieht sein wesentl. Spannungsmoment aus der Darstellung der Aufklärung eines unter rätselhaften Umständen begangenen Verbrechens durch einen Detektiv. Der Kriminalroman i. e. S. zielt dagegen v. a. auf die Entwicklungen eines Verbrechens. Eine Sonderform des Kriminalromans ist der Agenten- oder Spionageroman, der sich inhaltlich durch das Motiv der Spionage und die damit verbundenen Hintergrundschilderungen vom Detektivroman abhebt (G. Greene, J. le Carré, E. Ambler, L. Deighton). Die Geschichte der K. als eigener Gattung beginnt Ende des 18. Jh. Geistesgeschichtlich steht die Entwicklung der K. in Zusammenhang mit dem Rationalismus und dem Vernunftideal der Aufklärung. Ihre sozialgeschichtl. Wurzeln liegen einerseits in der Konsolidierung des bürgerl. Staates und dem damit verbundenen Interesse an Rechtsfragen und der Forderung nach verlässl. Justizverfahren, andererseits im Wandel des Strafprozesses, der den Sach- und Indizienbeweis an die Stelle des durch Folter erzwungenen Geständnisses setzte. Vorläufer der K. ist F. Gayot de Pitavals Sammlung von Strafrechtsfällen und Kriminalgeschichten »Causes célèbres et intéressantes« (20 Bde., 1734-43). Gestaltgebende Elemente der K., wie die Häufung zunächst unerklärl. Ereignisse und deren rationale Aufklärung, finden sich in den Gothic Novels sowie in Erzählungen der dt. Romantik (E. T. A. Hoffmann), Motive der Spurensuche und log. Deduktion zeigen J. F. Cooper, H. de Balzac und E. Sue. Die für die K. typ. Elemente vereinigt E. A. Poe: der Einbruch des Irrationalen in eine geordnete Welt in Form eines rätselhaften Mordes, die Fahndung des genialen Detektivs nach dem Täter und der Triumph der Rationalität bei der Aufklärung des Verbrechens. Seinem Vorbild folgte A. C. Doyle, während W. W. Collins Poes Verfahren mit dem Gesellschaftsroman verband. Doyle wurde Vorbild für eine Vielzahl pointierter Rätselromane mit einem Meisterdetektiv als Helden (G. K. Chesterton, W. M. Wright, Earl Derr Biggers, E. Wallace, Margery Allingham, Agatha Christie, G. Leroux, Dorothy Sayers, E. S. Gardner, R. Stout, später Ruth Rendell, D. Francis, Martha Grimes). In Abgrenzung von diesem Typus gab es in den 1930er-Jahren Ansätze einer an der harten großstädt. Wirklichkeit der Zeit orientierten und dabei soziale, psycholog. und polit. Elemente und Ursachen stärker integrierenden K. (D. Hammett, R. Chandler; Nachfolger u. a. R. Macdonald, C. Himes, M. Spillane). Eine Hinwendung zu einer realist. K. zeigen ebenso die Romane von G. Simenon, F. Arnau, W. Serner, F. Glauser und L. Malet. Maj Sjöwall und P. Wahlöö betten die eigentl. Kriminalerzählung in eine sozialkrit. Bestandsaufnahme der zeitgenöss. schwed. Gesellschaft ein. P. Boileau und T. Narcejac sowie P. D. James, Margaret Millar und Patricia Highsmith behandeln den Kriminalfakt in individual-psycholog. Rahmen aus der Perspektive des Opfers und/oder des Täters. In der Bundesrep. Dtl. erfuhr die K. in den 70er-Jahren eine Belebung durch die »Sozio-Krimis« (F. Werremeier, R. Hey, J. Martin, M. Molsner, H. Bosetzky [Pseud. -ky], F. Huby, J. Alberts, Doris Gercke u. a.). Die K. in der DDR beruhte auf der Annahme, dass im Sozialismus dem Verbrechen die Motivation entzogen sei; sie wurde wesentlich durch Polizeiromane, mit z. T. krit. Darstellung des Alltags, repräsentiert (H. Bastian, H. Pfeiffer, K. H. Berger, T. Wittgen, S. Mohr). Erfolgreiche Autoren der dt. K. der Gegenwart sind auch J. Arjouni, Pieke Biermann und Ingrid Noll.
Seit den 50er-Jahren werden Strukturen der K. benutzt, um die Nicht-Verstehbarkeit der Welt oder ihre grundsätzlich gestörte soziale Ordnung zu demonstrieren, so bei F. Dürrenmatt und L. Sciascia, für die Autoren der Postmoderne sind ihre Motive Versatzstücke, mit denen spielerisch die Erwartungen des Publikums unterlaufen werden (U. Eco, L. Gustafsson).
▣ Literatur:
J. Vogt, Der Kriminalroman, hg. v. 2 Bde. München 1971, Nachdr. ebd. 1992.
⃟ Buchloh, P. G. u. Becker, J. P. : Der Detektivroman. Darmstadt 41990.
⃟ Leonhardt, U.: Mord ist ihr Beruf. Eine Geschichte des Kriminalromans. München 1990.
⃟ Reddy, M. T.: Detektivinnen. A. d. Amerikan. Mühlheim u. a. 1990.
⃟ Lexikon der K., hg. v. K.-P. Walter, Loseblatt-Ausg. Meitingen 1993 ff.
⃟ Galerie der Detektive. 123 Portraits von Sherlock Holmes bis Nero Wolfe, hg. v. H. Postma u. R. Wagner. Hannover 1997.
⃟ The art of murder. New essays on detective fiction, hg. v. H. G. Klaus u. S. Knight. Tübingen 1998.
⃟ Götting, U.: Der deutsche Kriminalroman zw. 1945 u. 1970. Gießen 1998.
⃟ Kehrberg, B.: Der Kriminalroman der DDR 1970 - 1990. Hamburg 1998.
⃟ Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. hg. v. J. Vogt. München 1998.
Der Detektivroman i. e. S. bezieht sein wesentl. Spannungsmoment aus der Darstellung der Aufklärung eines unter rätselhaften Umständen begangenen Verbrechens durch einen Detektiv. Der Kriminalroman i. e. S. zielt dagegen v. a. auf die Entwicklungen eines Verbrechens. Eine Sonderform des Kriminalromans ist der Agenten- oder Spionageroman, der sich inhaltlich durch das Motiv der Spionage und die damit verbundenen Hintergrundschilderungen vom Detektivroman abhebt (G. Greene, J. le Carré, E. Ambler, L. Deighton). Die Geschichte der K. als eigener Gattung beginnt Ende des 18. Jh. Geistesgeschichtlich steht die Entwicklung der K. in Zusammenhang mit dem Rationalismus und dem Vernunftideal der Aufklärung. Ihre sozialgeschichtl. Wurzeln liegen einerseits in der Konsolidierung des bürgerl. Staates und dem damit verbundenen Interesse an Rechtsfragen und der Forderung nach verlässl. Justizverfahren, andererseits im Wandel des Strafprozesses, der den Sach- und Indizienbeweis an die Stelle des durch Folter erzwungenen Geständnisses setzte. Vorläufer der K. ist F. Gayot de Pitavals Sammlung von Strafrechtsfällen und Kriminalgeschichten »Causes célèbres et intéressantes« (20 Bde., 1734-43). Gestaltgebende Elemente der K., wie die Häufung zunächst unerklärl. Ereignisse und deren rationale Aufklärung, finden sich in den Gothic Novels sowie in Erzählungen der dt. Romantik (E. T. A. Hoffmann), Motive der Spurensuche und log. Deduktion zeigen J. F. Cooper, H. de Balzac und E. Sue. Die für die K. typ. Elemente vereinigt E. A. Poe: der Einbruch des Irrationalen in eine geordnete Welt in Form eines rätselhaften Mordes, die Fahndung des genialen Detektivs nach dem Täter und der Triumph der Rationalität bei der Aufklärung des Verbrechens. Seinem Vorbild folgte A. C. Doyle, während W. W. Collins Poes Verfahren mit dem Gesellschaftsroman verband. Doyle wurde Vorbild für eine Vielzahl pointierter Rätselromane mit einem Meisterdetektiv als Helden (G. K. Chesterton, W. M. Wright, Earl Derr Biggers, E. Wallace, Margery Allingham, Agatha Christie, G. Leroux, Dorothy Sayers, E. S. Gardner, R. Stout, später Ruth Rendell, D. Francis, Martha Grimes). In Abgrenzung von diesem Typus gab es in den 1930er-Jahren Ansätze einer an der harten großstädt. Wirklichkeit der Zeit orientierten und dabei soziale, psycholog. und polit. Elemente und Ursachen stärker integrierenden K. (D. Hammett, R. Chandler; Nachfolger u. a. R. Macdonald, C. Himes, M. Spillane). Eine Hinwendung zu einer realist. K. zeigen ebenso die Romane von G. Simenon, F. Arnau, W. Serner, F. Glauser und L. Malet. Maj Sjöwall und P. Wahlöö betten die eigentl. Kriminalerzählung in eine sozialkrit. Bestandsaufnahme der zeitgenöss. schwed. Gesellschaft ein. P. Boileau und T. Narcejac sowie P. D. James, Margaret Millar und Patricia Highsmith behandeln den Kriminalfakt in individual-psycholog. Rahmen aus der Perspektive des Opfers und/oder des Täters. In der Bundesrep. Dtl. erfuhr die K. in den 70er-Jahren eine Belebung durch die »Sozio-Krimis« (F. Werremeier, R. Hey, J. Martin, M. Molsner, H. Bosetzky [Pseud. -ky], F. Huby, J. Alberts, Doris Gercke u. a.). Die K. in der DDR beruhte auf der Annahme, dass im Sozialismus dem Verbrechen die Motivation entzogen sei; sie wurde wesentlich durch Polizeiromane, mit z. T. krit. Darstellung des Alltags, repräsentiert (H. Bastian, H. Pfeiffer, K. H. Berger, T. Wittgen, S. Mohr). Erfolgreiche Autoren der dt. K. der Gegenwart sind auch J. Arjouni, Pieke Biermann und Ingrid Noll.
Seit den 50er-Jahren werden Strukturen der K. benutzt, um die Nicht-Verstehbarkeit der Welt oder ihre grundsätzlich gestörte soziale Ordnung zu demonstrieren, so bei F. Dürrenmatt und L. Sciascia, für die Autoren der Postmoderne sind ihre Motive Versatzstücke, mit denen spielerisch die Erwartungen des Publikums unterlaufen werden (U. Eco, L. Gustafsson).
▣ Literatur:
J. Vogt, Der Kriminalroman, hg. v. 2 Bde. München 1971, Nachdr. ebd. 1992.
⃟ Buchloh, P. G. u. Becker, J. P. : Der Detektivroman. Darmstadt 41990.
⃟ Leonhardt, U.: Mord ist ihr Beruf. Eine Geschichte des Kriminalromans. München 1990.
⃟ Reddy, M. T.: Detektivinnen. A. d. Amerikan. Mühlheim u. a. 1990.
⃟ Lexikon der K., hg. v. K.-P. Walter, Loseblatt-Ausg. Meitingen 1993 ff.
⃟ Galerie der Detektive. 123 Portraits von Sherlock Holmes bis Nero Wolfe, hg. v. H. Postma u. R. Wagner. Hannover 1997.
⃟ The art of murder. New essays on detective fiction, hg. v. H. G. Klaus u. S. Knight. Tübingen 1998.
⃟ Götting, U.: Der deutsche Kriminalroman zw. 1945 u. 1970. Gießen 1998.
⃟ Kehrberg, B.: Der Kriminalroman der DDR 1970 - 1990. Hamburg 1998.
⃟ Der Kriminalroman. Poetik - Theorie - Geschichte. hg. v. J. Vogt. München 1998.