Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Klassizismus
Klassizịsmus[lat.] der,
1) Kunst: Stilbegriff zur Bez. von wiederkehrenden Kunstströmungen, die sich bewusst auf antike, meist grch. Vorbilder berufen. In der Architektur lassen sich klassizist. Richtungen seit dem 16. Jh. in Frankreich (Classicisme), England und den Niederlanden (Palladianismus) nachweisen, die um 1770 zum vorherrschenden Stil in der europ. und amerikan. Kunst wurden. Klassizist. Tendenzen, die sich oft nur schwer vom Historismus abgrenzen lassen und meist als Neo-K. bezeichnet werden, finden sich um 1870, im 1. Viertel des 20. Jh. und wieder in der postmodernen Architektur seit 1970. K. im Besonderen ist die Stilepoche zw. 1750 und 1830, der die Stile Biedermeier, Directoire, Empire und Louis-seize untergeordnet sind. Die eingehende wiss. Erforschung der antiken Kunst und Architektur bildete die Grundlage für die Rezeption antiker Vorbilder in allen Bereichen der Kunst. Anstöße gaben u. a. die frühen Ausgrabungen von Herculaneum und Pompeji und die Schriften J. J. Winckelmanns. Seine deutlichste Ausprägung erfuhr der K. in Architektur und Stadtplanung fürstl. Residenzen des aufgeklärten Absolutismus. Bezeichnend sind blockartige, streng gegliederte Bauformationen mit vorgesetzten Säulenordnungen. In Dtl. traten hervor: G. W. von Knobelsdorff (Schloss Sanssouci, Rückfront, Marmorsaal, 1744-48), F. W. von Erdmannsdorff (Schloss in Wörlitz, 1769-73), C. G. Langhans (Brandenburger Tor, Berlin, 1788-91), F. Gilly (Denkmal für Friedrich d. Gr., Entwurf 1796), F. Weinbrenner in Karlsruhe, L. von Klenze in München und v. a. K. F. Schinkel in Berlin; in Frankreich: J.-G. Soufflot (Panthéon in Paris, 1764-90), C.-N. Ledoux, C. Percier und P. F. L. Fontaine; in England: die Brüder Adam sowie W. Chambers, R. Smirke und J. Soane, die v. a. unter dem Einfluss der palladian. Lehre standen. Das gilt auch für Italien und die skandinav. Länder.In der Plastik bilden in Frankreich einen Höhepunkt die unpathet., an grch. Statuen geschulten Werke J. A. Houdons. Aus der Schule von A. Canova ging der Däne B. Thorvaldsen hervor. In England wurde J. Flaxman bedeutendster Vertreter klassizist. Bildhauerkunst, der sich in Dtl. J. H. von Dannecker, G. Schadow und C. D. Rauch, in Schweden J. T. Sergel, in den USA H. Greenough und in Russland I. P. Martos verschrieben.Für die Malerei des K. bedeutet das Deckengemälde »Parnaß« (1761) von A. R. Mengs in der Villa Albani in Rom den programmat. Anfang, an den u. a. seine Schüler H. F. Füger und Angelica Kauffmann anknüpften. J. P. Hackert und v. a. J. A. Koch traten mit heroischen Landschaften hervor. A. J. Carstens und Flaxman orientierten sich bei ihren strengen Umrisszeichnungen an antiken Vasenbildern. Gestaltungsprinzipien einer scharfen Linienführung und klaren Farbgebung wurden in Frankreich in den Gemälden von J. L. David und J. A. D. Ingres weiterentwickelt; das Historienbild galt als wichtigste Gattung. In England fand G. Hamilton, ein wichtiger Wegbereiter des K., keine ebenbürtige Nachfolge.
Literatur:
Feist, D. H.: Gesch. der dt. Kunst 1760-1848. Leipzig1986.
K., bearb. v. D. Dolgner. Leipzig1991.
2) Literatur: auf die klass. Antike bezogener Stil- und Wertbegriff für Dichtung, die sich antiker Stilformen und Stoffe bedient. Unter dem Aspekt der Imitation älterer Formmuster wurde bisweilen schon die röm. Klassik in ihrem Verhältnis zur grch. als klassizistisch eingestuft. In der Neuzeit tritt klassizist. Dichtung, orientiert an einem an der Antike gebildeten Regelkanon, erstmals in der italien. Renaissance auf; diese Strömung wirkte im Rahmen des europ. Humanismus v. a. auf Frankreich (P. de Ronsard) und auf die im Frz. als »classicisme« bezeichnete Blütezeit der frz. Kultur (17. Jh.). In England lassen sich breitere klassizist. Strömungen erst im 18. Jh. feststellen (A. Pope, J. Gay), in der russ. Lit. setzte der aufklärer. K. in den 40er-Jahren des 18. Jh. als erste Epoche der neuruss. Lit. ein (A. Cantemir, M. W. Lomonossow, A. P. Sumarokow, G. R. Derschawin, D. J. Fonwisin). In Dtl. erfolgte die Hinwendung zu antiken Formidealen insbesondere durch J. C. Gottsched, dann in der Anakreontik, bei C. M. Wieland, im 19. und 20. Jh. bei A. von Platen und dem Münchner Dichterkreis, im 20. Jh. u. a. bei S. George und dem Neoklassizismus.
Literatur:
Ernst, F.: Der K. in Italien, Frankreich u. Deutschland. Zürich 1924.
Heussler, A.: Klassik u. K. in der dt. Literatur. Studie über 2 literarhistor. Begriffe. Bern 1952, Nachdr. Nendeln 1970.
Sie können einen Link zu dem Wort setzen

Ansicht: Klassizismus