Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Kirchenstaat
Kirchenstaat,das ehem. Herrschaftsgebiet des Papstes in Mittelitalien; seit dem 6. Jh. auch Patrimonium Petri (Vermögen des Petrus) genannt. Den Kern des K. bildete der (zunächst private) Grundbesitz der Kirche von Rom, der dieser seit dem 4. Jh. in Rom und Italien (bes. in Mittel- und Süditalien und in Sizilien) aus zahlr. Schenkungen und Vermächtnissen zuwuchs. Bereits im 6. Jh. war der Papst in seiner Funktion als Bischof von Rom der größte Grundbesitzer Italiens. Papst Gregor d. Gr. (590-604) richtete für den Gesamtbesitz eine zentrale Verw. ein, der zunehmend öffentl. Aufgaben zufielen (innere Verw., Versorgung der Bevölkerung, Verteidigung), die unter Anerkennung der Oberhoheit des oström. Kaisers über den byzantin. Verwaltungsbezirk (Dukat) von Rom (zuletzt nur noch formal) wahrgenommen wurden. Die Expansionspolitik des Langobardenkönigs Aistulf führte zum Bündnis Papst Stephans II. (752-75) mit dem Fränk. Reich. Als Gegenleistung für die kirchl. Legitimierung der Karolinger erwarb er im Ergebnis der Pippinschen Schenkung (754; durch Karl d. Gr. bestätigt und erweitert) die bis dahin byzantin. Gebiete des Exarchats von Ravenna und der Pentapolis, die Dukate Spoleto und Benevent und die Emilia. Die Beerbung der in Mittelitalien reich begüterten Markgräfin Mathilde von Tuszien (✝ 1115) führte in der Folgezeit zu einer beträchtl. Gebietserweiterung. Nach dem Zusammenbruch der byzantin. Macht in Italien versuchten die Päpste unter Berufung auf die Konstantinische Schenkung die volle Souveränität über ihre Besitzungen zu erlangen; die durch die Pippinsche Schenkung begründete Schutz- und Oberhoheit der abendländ. Kaiser über die päpstl. Besitzungen blieb noch bis zum Sturz der Staufer (1266/68) erhalten. Papst Innozenz III. (1198-1216) ist im eigentl. Sinn als Begründer des K. anzusehen, doch erst Papst Julius II. (1503-13) gelang es, seine volle Souveränität auch gegenüber dem italien. Adel durchzusetzen. Er gestaltete den K. zu einem zentralistisch organisierten Staatswesen um. Unter ihm erreichte der K. seine größte Ausdehnung. Der Versuch einer selbstständigen Außenpolitik seit Mitte des 15. Jh. scheiterte jedoch. Wie die übrigen italien. Staaten blieb der K. bis Ende des 18. Jh. von den Großmächten abhängig, die um die Vorherrschaft in Italien rangen. Durch die napoleon. Kirchenpolitik wurde der durch Gebietsabtretungen stark verkleinerte K. am Ende des 18. Jh. zur Röm. Republik erklärt und 1809 dem Königreich Italien eingegliedert. Nach dem Wiener Kongress 1815 fast vollständig wiedererrichtet, wurde der K. 1860 auf das einstige Patrimonium Petri reduziert und 1870 dem italien. Nationalstaat eingegliedert, woraufhin sich Papst Pius IX. (1846-78) als »Gefangener des Vatikans« betrachtete (Italien, Geschichte). Erst 1929 wurde dem Papst in den Lateranverträgen die volle Souveränität über das päpstl. Territorium (Vatikanstadt) zugesprochen.
Literatur:
H. Fuhrmann. Quellen zur Entstehung des K., eingeleitet u. zus.gestellt v. Göttingen 1968.
Weber, C.: Die Territorien des K. im 18. Jh. Frankfurt am Main u. a. 1991.
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