Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Historismus
Historịsmusder,
1) Geisteswissenschaften: geschichtsbezogenes Denken, insbesondere die Auffassung, die von der Geschichte als umfassendem Zusammenhang geistigen Lebens, von der Einzigartigkeit der geschichtl. Erscheinungen und von dem unaufhörlichen, unbegrenzbaren und gesetzlosen Fließen des Geschichtlichen ausgeht. Der eigentl. Begriff H. entstammt der 2. Hälfte des 19. Jh. Seine größte prakt. Bedeutung für Geschichts- und Gegenwartsbewusstsein erreichte er in der Zeit der dt. Reichsgründung als grundlegende quellenbezogene Position auch der Sprachwiss., histor. Rechtsschule und histor. Schule der Nationalökonomie, die gleich der Geschichtswiss. in der Individualität die schlechthin bestimmende Kategorie histor. Erkenntnis sahen. Die Krise des H. fiel mit dem in Dtl. auch als Orientierungskrise erlebten Ende des Ersten Weltkriegs zusammen, da die Absolutsetzung dieses method. Prinzips, das die Unvergleichbarkeit histor. Prozesse und Strukturen behauptet, in Wertrelativismus zu münden droht. Dies führte zur methodolog. Neuorientierung der modernen Geschichtswiss., die gleichwohl aus dem H. starke Antriebe für Forschung und Deutung der Gegenwart gezogen hat. - Als Historizismus kritisierte K. R. Popper sozialwiss. Theorien (bes. Marxismus), die den Geschichtsverlauf »objektiven« Gesetzen unterwerfen und behaupten, histor. Entwicklungen voraussagen zu können.
Literatur:
Oexle, O. G.: Geschichtswissenschaft im Zeichen des H. Göttingen 1996.
2) Kunstgeschichte: im 19. Jh. Ausdruck einer in histor. Anleihen das eigene Selbstverständnis suchenden Stilhaltung (Neugotik, Neurenaissance, Neubarock); bis in die 1960er-Jahre weitgehend negativ beurteilt, sieht die Forschung heute im Stilpluralismus des H. den Versuch, im Zeitalter des Positivismus Geschichte zu bewahren.
Literatur:
Jaeger, F.u. Rüsen, J.: Geschichte des H. Eine Einführung. München 1992.
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