Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
germanische Volksrechte
germanische Volksrechte,die im 5.-9. Jh. entstandenen ältesten Rechtsaufzeichnungen der german. Stämme, im Unterschied zu den für die röm. Bevölkerung einzelner german. Staaten bestimmten Rechtsbüchern (Leges Romanorum), veraltet auch Leges Barbarorum genannt. Sie sind in Vulgärlatein abgefasst, aber von german. Ausdrücken stark durchsetzt; nur Angelsachsen und Nordgermanen haben schon ihr ältestes Recht in der Volkssprache aufgezeichnet. Die g. V. sind keine Gesetze im neuzeitl. Sinn, sondern Aufzeichnungen geltender Gewohnheit, vom König mit dem Ziel der Rechtsbesserung veranlasst. Den größten Raum nehmen straf- und prozessrechtl. Bestimmungen ein; v. a. enthalten sie umfangreiche Bußkataloge. Die g. V. hatten personale Geltung für die Stammesgenossen, gleichviel, wo sie sich aufhielten, nicht territoriale Geltung für ein Stammesgebiet (Personalitätsgrundsatz). Sie sind vom röm. oder kanon. Recht beeinflusst (deutsches Recht).
Es lassen sich drei Gruppen g. V. bestimmen: Die frühesten g. V. treten bei den auf ehem. röm. Boden siedelnden Germanenstämmen auf, voran die Gesetze der Westgoten (Edictum Theoderici, neuerdings wieder dem Ostgotenkönig Theoderich d. Gr. zugeschrieben, um 458; Codex Euricianus, das »Pariser Fragment«, um 475, sowie die auf seiner Grundlage geschaffene Lex Visigothorum, um 654). Davon beeinflusst entstand das Recht der Burgunder (Lex Burgundionum, um 500) und das älteste fränk. Gesetz, die Lex Salica, um 510. Später folgten für die ripuar. Franken (um Köln) die Lex Ribuaria und für die dem fränk. Herrschaftsbereich eingegliederten Alemannen der Pactus Alemannorum (erste Hälfte des 7. Jh.). Den Abschluss bildet das später als einziges der g. V. wissenschaftlich bearbeitete langobard. Recht (Edictum Rothari, um 643).
Als zweite Gruppe folgen im 7./8. Jh. die beiden süddt. Leges, das alemann. und das bayer. Volksrecht (Lex Alemannorum, Lex Baiuvariorum). Am Ende der Entwicklung stehen die Rechte der Sachsen (Lex Saxonum), der Friesen (Lex Frisionum) und der Thüringer (Lex Thuringorum), die auf Initiative Karls d. Gr. anlässlich des Reichstages zu Aachen 802/803 aufgezeichnet wurden.
Für die dem Personalitätsprinzip nicht unterworfenen Bevölkerungsteile entstanden z. T. eigene Gesetze (Lex Romana Visigothorum, auch Breviarum Alarici, 506; Lex Romana Burgundionum, vor 506; Lex Romana Raetica Curienis, vor 765).
Weil erst später unter christl. Einfluss stehend, ist das nordische Recht ursprünglicher überliefert. Die Aufzeichnungen des 12. und 13. Jh. geben den Rechtszustand des Früh-MA. wieder, so für Norwegen die Rechte der vier Dingbezirke, für Island die Grágás (»Graugans«). Das vom christl. Gedankengut stark geprägte älteste angelsächsische Recht geht auf die Könige von Kent und Wessex zurück.
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