Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Gotik
Gotik die, Stilepoche der mittelalterl. Kunst in Europa nach der Romanik, zugleich der selbstständigste Stil des Abendlands nach der Antike. Die G. entstand etwa ab 1140 in N-Frankreich (Île-de-France) und verbreitete sich über W-, Mittel- und (mit Einschränkungen) S-Europa, abgewandelt durch die Eigenart der einzelnen Länder. Um 1420 wurde sie, zunächst in Italien, von der Renaissance abgelöst. Die Begriffsbestimmung G. geht urspr. auf die Baukunst zurück (got. Kathedralbau); der Begriff war in der Renaissance (G. Vasari) abwertend gebraucht worden. Eine positive, bis heute gültige Sicht und Wertung gelang erst der dt. Romantik. Die Abfolge der Stilstufen wird mit früh-, hoch- und spätgotisch bezeichnet.In der Baukunst steigerte ein neues Raumgefühl den Kirchenbau zu mächtiger Höhe; der Innenraum wurde als Raumeinheit und nicht mehr als Summe von Einzelräumen empfunden. Der Chor ist oft durch einen Chorumgang mit Kapellenkranz erweitert. Ein dreiteiliger Laufgang, das Triforium, durchbricht in der Hoch-G. die Wand zw. Bogenstellungen und Fenstern, während in der Früh-G. die aus der Romanik übernommenen Emporen noch eine wesentl. Rolle spielen. Dem Streben des Bauwerks in die Höhe dient im Innern das Kreuzrippengewölbe: Die Kreuzrippe trägt das Gewölbe und leitet den Gewölbedruck zu den Pfeilern, die durch das nach außen verlegte Strebewerk von Strebebögen und Strebepfeilern gestützt werden. Im Kirchenraum verschmelzen die Pfeiler mit den die Rippen aufnehmenden Diensten zu Bündelpfeilern. Der Spitzbogen, dessen Seitenschub wesentlich geringer ist, ließ nun eine stärker vertikale und durchbrochene Gliederung zu. Die nun geringere Mauerstärke erlaubt zw. den Strebepfeilern hohe, farbige Glasfenster, deren Zwickel mit oft kunstvollem Maßwerk gefüllt sind. Im Außenbau wird die Westfassade durch reiche Gliederung und durch mächtig emporstrebende Türme betont. Fialen krönen die Strebepfeiler, Kreuzblumen die mit Krabben geschmückten Türme. Ein wichtiges Schmuck- und Gliederungselement der G. ist das Maßwerk, das sich in den Bogenzwickeln großer Fenster und in Fensterrosen, an Brüstungen, Wimpergen, Portalen und Wandflächen findet. Die Bauten der Früh-G. (Sens, Senlis, Noyon, Laon, Paris) und der Hoch-G. (Chartres, Soissons, Reims, Amiens) ließen einen nach Höhe und Tiefe gegliederten Raum entstehen, dessen einzelne Teile vom Beschauer nacheinander erlebt werden. Klöster, Schlösser, Burgen, später auch Rat- und Bürgerhäuser übernahmen die Formen der kirchl. Baukunst. Erst in der G. begann die Stadt ein architekton. Ganzes zu werden.
Die hervorragendsten Bauten der frz. G. sind die Kathedralen von Laon, Bourges, Paris (Notre-Dame), Chartres, Reims und Amiens. In England entwickelte sich die G. zu einem durch reiche Schmuckformen gekennzeichneten Stil (Salisbury, Westminster-Abbey in London). Der dt. Früh-G. gehören St. Elisabeth in Marburg und die Liebfrauenkirche in Trier an, der Hoch-G. das Straßburger Münster und der Kölner Dom. Die dt. Spät-G. entwickelte die Hallenkirche zum bevorzugten Raumtypus. Zu Höhepunkten der Spät-G. gehören die Bauten, die unter Beteiligung der Parler (Heiligkreuzkirche in Schwäbisch Gmünd, Veitsdom in Prag), H. Stetheimers d. Ä. (St. Martin in Landshut), Ulrichs von Ensingen (Münster in Ulm) und M. Gertheners (Turm des Doms in Frankfurt am Main) entstanden. Sonderformen der G. entstanden auch in Italien und Spanien. Charakteristisch für den N Europas ist die Backstein-G. (Backsteinbau).In der Bildhauerkunst wurde die Ausbildung der Säulenportale die Voraussetzung für die Entstehung der aus dem Zusammenhang der Mauer herausgelösten, um eine eigene Körperachse gerundeten got. Gewändefigur.
Wie in der Baukunst war Frankreich auch in der Bildhauerei führend (Chartres, um 1145; Senlis, um 1170). Die Hauptwerke der Blütezeit wurden für die Querhausportale in Chartres und die Kathedralen von Reims, Paris und Amiens geschaffen.
Das 13. Jh. war die große Zeit der Plastik auch in Dtl., wo in stauf. Zeit die Bildwerke des südl. Querschiffs in Straßburg und des Bamberger Doms, in der 2. Hälfte die Stifterfiguren und Lettnerreliefs des Naumburger Doms entstanden. Der die menschl. Gestalt immer mehr entkörperlichenden Hoch-G. des 14. Jh. gehören die Pfeilerfiguren des Kölner Domchors an. In Italien schuf N. Pisano erstmals im got. Sinn gestaltete Gewandfiguren (Pisa, Kanzel im Baptisterium, 1260); die Statuen seines Sohnes G. Pisano für die Dome von Siena und Pisa sind Meisterwerke mittelalterl. Skulptur. In der 2. Hälfte des 14. Jh. findet ein neuer Wirklichkeitssinn seinen Ausdruck, am stärksten in den Bildwerken P. Parlers in Prag und C. Sluters in Dijon. Seit 1380 verbreitete sich von Prag, Avignon und Burgund aus der Internat. Stil, auch Schöner Stil gen.; es war die letzte einheitl. Formensprache des MA. Einen eigenen Typus verkörpern die Schönen Madonnen. Gleichzeitig mit dem Aufkommen der dt. Mystik entstand eine Gruppe von Holzskulpturen, die Andachtsbilder, die ihren Höhepunkt im 14./15. Jh. erlebten. Die Spät-G. brachte die reichste Fülle an Holzbildwerken bes. für Flügelaltäre in Dtl. hervor (T. Riemenschneider und V. Stoß). Der spätgot. Schreinaltar vereinigt als eine Art »Gesamtkunstwerk« Architektur, Plastik und Malerei.Der Malerei, die in der Zeit der Romanik die Kirchenwände mit Fresken bedeckt hatte, boten die auf karge Reste beschränkten Flächen des got. Kirchenraums keine Aufgaben mehr. An ihre Stelle trat die Glasmalerei. Nur wo die Gotik, wie in Italien, die Wandflächen wahrte, hatte das Fresko noch Raum. Dort schuf Giotto einen neuen monumentalen Stil, der bis in die Renaissance fortwirkte. Der reinste Vertreter der in Italien als Dolce stil nuovo bezeichneten Gotik war Simone Martini. Der Kirchenbau im N hingegen verwies die Malerei weitgehend auf die Altäre, die so zu Wegbereitern des Tafelbildes wurden, das seit der 2. Hälfte des 14. Jh. nördlich der Alpen den Vorrang gewann. In den Niederlanden schufen R. van der Weyden und die Brüder van Eyck bed. Werke, in Dtl. traten u. a. A. Dürer und M. Grünewald hervor. Die Buchmalerei erlebte eine neue Blüte; v. a. Psalterien wurden als private Andachtsbücher kostbar ausgestaltet. Unter Philipp dem Guten erlebten Burgund und die Niederlande einen Höhepunkt der Miniaturmalerei (Stundenbuch des Herzogs von Berry).Im Kunsthandwerk der Zeit bilden Höhepunkte die kostbaren Werke der Goldschmiedekunst (Schreine, Monstranzen, Reliquiare), Kleinkunstwerke aus Elfenbein, Bildwirkereien (Apokalypse von Angers), Stickereien auf Klerikergewändern, schmiedeeiserne Beschläge.Musik: Eine Epoche »Musik der G.« oder »got. Musik« ist nach musikal. Gesichtspunkten nicht zu fixieren. Gleichzeitig mit den Stilabschnitten in der bildenden Kunst entwickelten sich um 1200 die Notre-Dame-Schule mit dem Hauptmeister Perotinus, im 13. Jh. die Ars antiqua und im 14. Jh. die Ars nova.
▣ Literatur:
Grodecki, L.: G. A. d. Italien. Stuttgart 1986.
⃟ Triumph der G. 1260-1380, bearb. v. A. Erlande-Brandenburg. A. d. Frz. München 1988.
⃟ Jaxtheimer, B.: Stilkunde G. Die Baukunst. Neuausg. Eltville am Rhein 1990.
⃟ Das Zeitalter der G., hg. v. H. Schaumberger. Wien 1991.
⃟ Nussbaum, N.: Dt. Kirchenbaukunst der G. Darmstadt 21994.
⃟ Camille, M.: Die Kunst der G. Höfe, Klöster, Kathedralen. A. d. Engl. Köln 1996.
Die hervorragendsten Bauten der frz. G. sind die Kathedralen von Laon, Bourges, Paris (Notre-Dame), Chartres, Reims und Amiens. In England entwickelte sich die G. zu einem durch reiche Schmuckformen gekennzeichneten Stil (Salisbury, Westminster-Abbey in London). Der dt. Früh-G. gehören St. Elisabeth in Marburg und die Liebfrauenkirche in Trier an, der Hoch-G. das Straßburger Münster und der Kölner Dom. Die dt. Spät-G. entwickelte die Hallenkirche zum bevorzugten Raumtypus. Zu Höhepunkten der Spät-G. gehören die Bauten, die unter Beteiligung der Parler (Heiligkreuzkirche in Schwäbisch Gmünd, Veitsdom in Prag), H. Stetheimers d. Ä. (St. Martin in Landshut), Ulrichs von Ensingen (Münster in Ulm) und M. Gertheners (Turm des Doms in Frankfurt am Main) entstanden. Sonderformen der G. entstanden auch in Italien und Spanien. Charakteristisch für den N Europas ist die Backstein-G. (Backsteinbau).In der Bildhauerkunst wurde die Ausbildung der Säulenportale die Voraussetzung für die Entstehung der aus dem Zusammenhang der Mauer herausgelösten, um eine eigene Körperachse gerundeten got. Gewändefigur.
Wie in der Baukunst war Frankreich auch in der Bildhauerei führend (Chartres, um 1145; Senlis, um 1170). Die Hauptwerke der Blütezeit wurden für die Querhausportale in Chartres und die Kathedralen von Reims, Paris und Amiens geschaffen.
Das 13. Jh. war die große Zeit der Plastik auch in Dtl., wo in stauf. Zeit die Bildwerke des südl. Querschiffs in Straßburg und des Bamberger Doms, in der 2. Hälfte die Stifterfiguren und Lettnerreliefs des Naumburger Doms entstanden. Der die menschl. Gestalt immer mehr entkörperlichenden Hoch-G. des 14. Jh. gehören die Pfeilerfiguren des Kölner Domchors an. In Italien schuf N. Pisano erstmals im got. Sinn gestaltete Gewandfiguren (Pisa, Kanzel im Baptisterium, 1260); die Statuen seines Sohnes G. Pisano für die Dome von Siena und Pisa sind Meisterwerke mittelalterl. Skulptur. In der 2. Hälfte des 14. Jh. findet ein neuer Wirklichkeitssinn seinen Ausdruck, am stärksten in den Bildwerken P. Parlers in Prag und C. Sluters in Dijon. Seit 1380 verbreitete sich von Prag, Avignon und Burgund aus der Internat. Stil, auch Schöner Stil gen.; es war die letzte einheitl. Formensprache des MA. Einen eigenen Typus verkörpern die Schönen Madonnen. Gleichzeitig mit dem Aufkommen der dt. Mystik entstand eine Gruppe von Holzskulpturen, die Andachtsbilder, die ihren Höhepunkt im 14./15. Jh. erlebten. Die Spät-G. brachte die reichste Fülle an Holzbildwerken bes. für Flügelaltäre in Dtl. hervor (T. Riemenschneider und V. Stoß). Der spätgot. Schreinaltar vereinigt als eine Art »Gesamtkunstwerk« Architektur, Plastik und Malerei.Der Malerei, die in der Zeit der Romanik die Kirchenwände mit Fresken bedeckt hatte, boten die auf karge Reste beschränkten Flächen des got. Kirchenraums keine Aufgaben mehr. An ihre Stelle trat die Glasmalerei. Nur wo die Gotik, wie in Italien, die Wandflächen wahrte, hatte das Fresko noch Raum. Dort schuf Giotto einen neuen monumentalen Stil, der bis in die Renaissance fortwirkte. Der reinste Vertreter der in Italien als Dolce stil nuovo bezeichneten Gotik war Simone Martini. Der Kirchenbau im N hingegen verwies die Malerei weitgehend auf die Altäre, die so zu Wegbereitern des Tafelbildes wurden, das seit der 2. Hälfte des 14. Jh. nördlich der Alpen den Vorrang gewann. In den Niederlanden schufen R. van der Weyden und die Brüder van Eyck bed. Werke, in Dtl. traten u. a. A. Dürer und M. Grünewald hervor. Die Buchmalerei erlebte eine neue Blüte; v. a. Psalterien wurden als private Andachtsbücher kostbar ausgestaltet. Unter Philipp dem Guten erlebten Burgund und die Niederlande einen Höhepunkt der Miniaturmalerei (Stundenbuch des Herzogs von Berry).Im Kunsthandwerk der Zeit bilden Höhepunkte die kostbaren Werke der Goldschmiedekunst (Schreine, Monstranzen, Reliquiare), Kleinkunstwerke aus Elfenbein, Bildwirkereien (Apokalypse von Angers), Stickereien auf Klerikergewändern, schmiedeeiserne Beschläge.Musik: Eine Epoche »Musik der G.« oder »got. Musik« ist nach musikal. Gesichtspunkten nicht zu fixieren. Gleichzeitig mit den Stilabschnitten in der bildenden Kunst entwickelten sich um 1200 die Notre-Dame-Schule mit dem Hauptmeister Perotinus, im 13. Jh. die Ars antiqua und im 14. Jh. die Ars nova.
▣ Literatur:
Grodecki, L.: G. A. d. Italien. Stuttgart 1986.
⃟ Triumph der G. 1260-1380, bearb. v. A. Erlande-Brandenburg. A. d. Frz. München 1988.
⃟ Jaxtheimer, B.: Stilkunde G. Die Baukunst. Neuausg. Eltville am Rhein 1990.
⃟ Das Zeitalter der G., hg. v. H. Schaumberger. Wien 1991.
⃟ Nussbaum, N.: Dt. Kirchenbaukunst der G. Darmstadt 21994.
⃟ Camille, M.: Die Kunst der G. Höfe, Klöster, Kathedralen. A. d. Engl. Köln 1996.