Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Glas
Glas[ahd., urspr. »Bernstein«], ein fester, in seiner überwiegenden Masse nichtkristalliner (amorpher), spröder anorgan. Werkstoff, der keinen definierten Schmelzpunkt besitzt, sondern mit steigender Erwärmung stetig (d. h. ohne sprunghafte Änderung seiner Eigenschaften) in einen weichen und schließlich flüssigen Zustand übergeht. Strukturell gesehen besteht G. aus einem unregelmäßig räumlich verketteten Netzwerk bestimmter molekularer Bauelemente (z. B. SiO4-Tetraeder), in das große Kationen eingelagert sind. G. besitzt eine geringe Wärmeleitfähigkeit und einen hohen elektr. Widerstand. G. kann durch Gießen, Blasen, Pressen und Walzen verformt werden. Die Hauptbestandteile des G. sind die eigtl. G.-Bildner, Flussmittel und Stabilisatoren. Die wesentlichsten G.-Bildner sind Siliciumdioxid (SiO2), Bortrioxid (B2O3) und Phosphorpentoxid (P2O5), z. B. in Form von Quarzsand, Bergkristall (v. a. für Quarz-G.), Borsäure u. a. Das Flussmittel erniedrigt den Schmelzpunkt und bewirkt, dass die G.-Schmelze bereits bei Temperaturen unterhalb 1 500 ºC durchgeführt werden kann; als Flussmittel dienen v. a. Carbonate, Nitrate und Sulfate von Alkalimetallen. Stabilisatoren sollen das G. chemisch beständig machen; es werden hierzu v. a. Erdalkalimetalle sowie Blei und Zink, meist in Form ihrer Carbonate oder Oxide, verwendet. Für die Verarbeitung und Formgebung des G. sind Zähigkeit, Oberflächenspannung und Neigung zur Kristallisation von besonderer Bedeutung. Diese Eigenschaften werden u. a. durch Art und Menge der erschmolzenen Rohstoffe bestimmt: Quarzsand, Soda, Natriumsulfat, Kalkstein, Dolomit, Feldspat, Pottasche, Borax, Salpeter, alkalihaltige Gesteine, Mennige, Baryt, Zinkoxid, Arsenik und Natriumchlorid. Die gemahlenen, nach genau berechneten Gewichtsanteilen eingewogenen, meist mit G.-Scherben versetzten Rohstoffe werden gemischt, und das Gemenge wird in einen Tiegel, einen Hafen oder in eine Wanne eingelegt. Die niedrig schmelzenden Gemengebestandteile greifen den höher schmelzenden Sand an, wobei sich Alkali- und Erdalkalisilikate bilden. Zugleich entweichen die aus den Rohstoffen freigesetzten Gase, z. B. Kohlendioxid aus den Carbonaten. Am Ende dieser Rauschmelze liegt eine inhomogene, stark schlierige und blasenreiche Schmelze vor. Im Verlauf des anschließenden Läutervorganges, der Blankschmelze, wird die Schmelze von allen sichtbaren Einschlüssen, bes. den Gasblasen, befreit. Dies geschieht z. B. durch Zugabe von Läuterungsmitteln (Glaubersalz, Salpeter); sie führen zur Bildung großer Sauerstoffblasen, die die kleinen Blasen in sich aufnehmen, aufsteigen und aus der Schmelze austragen. Die Gasblasen setzen die Schmelzmasse in Bewegung und dienen der Homogenisierung der Schmelze. Der Blasenauftrieb erfordert eine hinreichend niedrige Viskosität der G.-Schmelze, d. h. Temperaturen zw. 1 400 und 1 600 ºC; bei etwa 1 250 ºC ist das G. bereits zu zäh, um noch Blasen entlassen zu können. Die Verarbeitung des G. ist jedoch erst bei 900 bis 1 200 ºC möglich.Formgebung: Zur manuellen Formgebung durch Blasen dient die Glasmacherpfeife, ein 1-11/2 m langes Eisenrohr mit Mundstück. Massenware, bes. Flaschen, Verpackungsgläser, Glühlampen- und Röhrenkolben, wird auf halb- oder vollautomat. Maschinen geblasen, z. T. auch durch Schleudern geformt. Press-G. (z. B. Wirtschafts-G., G.-Bausteine, Profil-G. ) entsteht durch Einpressen oder Einblasen einer abgemessenen Schmelzmenge in Stahlformen. G.-Röhren und -Stäbe werden meist durch einen Ziehprozess hergestellt. Die Massenfabrikation von Flach-G. geschieht nach unterschiedl. Verfahren: a) Maschinen-G., das im Bauwesen und für zahlr. techn. Zwecke am meisten verwendete Tafel-G., wird in Dicken von etwa 0,4 bis 20 mm (Dünn-, Fenster-, Dick-G.) mit Maschinen gezogen. Die Schmelze wird als breites, endloses Band unmittelbar aus der Wanne gehoben und so weit spannungsfrei gekühlt und verfestigt, dass das Band von Förderwalzen oder -rollen durch einen Kühltunnel bewegt werden kann, an dessen Ende es in beliebiger Länge abgeschnitten wird. b) Guss-G. stellt man ebenfalls in großen Mengen durch Gießen und Walzen auf großen Stahltischen her. Dabei können Muster (Ornament-G.) oder Drahtgeflechte (Drahtglas) mit eingewalzt werden. Durch anschließendes Schleifen und Polieren lässt es sich zu planparallelem Spiegel-G. verarbeiten. G.-Fliesen werden hauptsächlich aus gefärbtem Guss-G. angefertigt. c) Float-G. führt man während der Abkühlung in der gewünschten Enddicke über eine Zinnschmelze, wobei ohne weitere Nachbearbeitung ein Spiegelglasband mit blanken Oberflächen entsteht. G. für opt. Zwecke, das völlig homogen und frei von Fremdeinschlüssen (Blasen, Schlieren) sein muss, wird entweder in Stahlformen zu Blöcken gegossen und dann mechanisch weiterverarbeitet oder auch aus dem Speiser (mechan. Dosiervorrichtung) einer Platinwanne zu Barren oder Stangen gegossen. Nach der Formgebung muss das G. einen Kühlungsprozess durchlaufen, der umso längere Zeit beansprucht, je größer das G.-Volumen und die Wärmedehnung sind und je homogener und spannungsärmer das G. sein muss.Besondere Glasarten: Brillengläser sind meist gepresste, farblose Krongläser, die zur Korrektur ungenügender Sehschärfe konvex oder konkav gekrümmte Flächen erhalten. Einschmelzgläser sind in ihrer Wärmeausdehnung bestimmten Metallen angepasst und werden zur Herstellung vakuumdichter Verbindungen von G. mit Metallen verwendet. G.-Lote erweichen bei bes. niedriger Temperatur (300-500 ºC); sie eignen sich daher für eine innige Verbindung von Gläsern untereinander, mit Metallen oder anderen Werkstoffen, ohne Anwendung unzulässig hoher Temperaturen. Sicherheits-G. dient dem Schutz gegen Verletzung durch Splitter bei Bruch, gegen Einbruch und Feuerwaffenbeschuss. Man unterscheidet: Verbund-G., das aus zwei oder mehr normalen G.-Tafeln mit Kunstharz zusammengepresst wird (bei dickeren Scheiben Panzer-G.), und einscheibiges, thermisch vorgespanntes G., das bei Bruch in Krümel ohne Splitterbildung zerfällt. Thermometergläser zeichnen sich durch bes. geringe therm. Nachwirkung (Volumenänderung) auch bei höheren Temperaturen aus. Weitere besondere G.-Arten sind Filterglas, Kristallglas, lichtempfindliche Gläser, optisches Glas, Quarzglas, Goldglas.Einen Teil der Glaskunst bildet künstlerisch gestaltetes G., früher Kunstgläser genannt. In der Masse gefärbtes G. kann einfarbig (z. B. Rubin-G.) oder mehrfarbig sein. Durch Zusammenschmelzen von verschiedenfarbigem G. entsteht das marmorierte Schmelz- oder Achat-G. Beim Faden-G. (auch Filigran-G.) werden von farbloser G.-Masse umhüllte, meist aus weißem Milch-G. bestehende Fäden zu einem stabartigen Bündel zusammengeschmolzen; dieses wird dann beim Blasen gedreht oder geschwungen, sodass sich mannigfache Spiralwindungen der Fäden ergeben. Werden zwei G.-Blasen, deren Fäden senkrecht zueinander laufen, übereinander geschmolzen, so entsteht das Netz-G. oder gestrickte G. Um Mosaik- oder Millefiori-G. herzustellen, werden verschiedenfarbige G.-Stäbe zu Bündeln zusammengeschmolzen, die, in dünne Scheiben geschnitten, geometr. oder Blumenmuster ergeben. Bei Überfanggläsern wird eine dünne Schicht von farbigem oder getrübtem G. (Milchüberfang-G.) über ein farbloses geschmolzen, bei Zwischengoldgläsern eine ausgeschnittene Goldfolie zw. zwei G.-Schichten eingelassen. Nach Erkalten kann G. bemalt (Kaltmalerei), vergoldet, mit Emailfarben aus zerstoßenem farbigen G. (Email-G.) geschmückt werden. G.-Inkrustationen sind in G. eingelassene, weiße, keram. Reliefs. Die Oberfläche kann durch G.-Schliff, ähnlich dem Edelsteinschliff, verziert werden, auch durch Ätzung und durch Ritzen oder Stippen mit der Diamantnadel.Geschichte: In Mittel- und N-Europa sind importierte G.-Perlen aus der frühen und mittleren Bronzezeit gefunden worden. Die ersten G.-Gefäße waren Behälter aus meist blauem G. mit bunter Fadenmusterung, die um einen Sandkern geformt wurden (Sandkerngefäße); sie traten um 1500 v. Chr. in Ägypten und Mesopotamien auf. Aus Assyrien sind Keilschrifttexte von etwa 1700 bis 700 v. Chr. bekannt, die über Öfen, Schmelzen und G.-Rezepte unterrichten. Kurz vor der Zeitenwende wurde in Syrien die G.-Pfeife erfunden, die eine weitgehende Industrialisierung des Glasmachergewerbes ermöglichte. Diese Technik wurde von den Römern nach Italien gebracht. Die Römer riefen in Gallien und um Köln eine bed. G.-Ind. ins Leben. So stellte man im Rheinland, bes. in Köln, neben dem Gebrauchs-G. reich geschnittene Gefäße und Schlangenfadengläser her. Die Römer entwickelten versch. Arten des Luxus-G., z. B. das mehrschichtige, geschnittene Überfang- oder Kameo-G. und die unterschnittenen Netzgläser. Sie haben G. auch zuerst als Fensterfüllung verwendet. Im Abendland folgte auf das röm. G. das auf wenige Formen beschränkte merowingisch-fränk. G. Auf der Insel Murano bei Venedig befanden sich seit dem Ende des 13. Jh. die meisten G.-Hütten des alten Europa, sie wurde Hauptsitz der Brillenherstellung. Ebenfalls Ende des 13. Jh. erfand Briani in Venedig das Aventurin-G. Hier begann unter dem Einfluss islam. G.-Künstler im 14./15. Jh. die eigtl. Entwicklung des europ. Kunst-G. Nach Erfindung des klaren Kreide-G. und des Bleikristalls (1674) wurden gegen Ende des 17. Jh. G.-Schliff und G.-Schnitt beliebt. Diese in Prag zur Vollendung gebrachte Technik breitete sich im 18. Jh. v. a. in Nürnberg, Böhmen, Schlesien, Thüringen, Hessen und den Niederlanden aus. Am Ende des 19. Jh. begann man mit der Massenfertigung im Pressglasverfahren. Um 1900 versuchte der Jugendstil die alten handwerkl. Techniken zu beleben. Das Bauhaus führte die Ansätze einer neuen G.-Kunst weiter. In der modernen G.-Kunst kamen neue Impulse bes. von skandinav. und italien. Künstlern. - Bis in die 2. Hälfte des 19. Jh. gab es im Wesentlichen zwei Gruppen von G.: Alkali-Kalk-Silikate und Alkali-Blei-Silikate. O. Schott führte systematisch neue Oxide ein, von denen bes. Borsäure zur Herstellung von Gerätegläsern und opt. Gläsern wichtig wurde. Die seltenen Erden wurden in den 30er-Jahren des 20. Jh. von Huggins und Sun als G.-Bestandteile eingeführt. Maschinelle Herstellungsmethoden und kontinuierl. Schmelzverfahren wurden, beginnend im 19. Jahrhundert, insbesondere in den USA entwickelt.
Literatur:
Paturi, F. R.: Die Gesch. vom G. Aarau u. a. 1986.
Sotheby's großer Antiquitäten-Führer G. Von den Ursprüngen bis zur Kunst des 20. Jh., hg. v. D. Battie u. a. München 1992.
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