Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Gewerkschaften
Gewerkschaften,Organisationen lohn- oder gehaltsabhängiger Arbeitnehmer, um bestimmte, v. a. wirtsch. und soziale Interessen durchzusetzen. In Wirtschaftssystemen, die demokratisch verfasst und marktwirtschaftlich strukturiert sind, treten die G. als unabhängige Arbeitnehmerorganisationen in Erscheinung; dabei bedeutet Unabhängigkeit v. a. die freie Wahl der zur Erreichung der Ziele für angemessen erkannten Mittel auf der Grundlage rechtsstaatlich und verfassungsrechtlich garantierter Formen polit. Entscheidungsbildung; Unabhängigkeit bedeutet dabei nicht polit. Neutralität. Um wirksam agieren zu können, bedürfen unabhängige G. im Allg. eines Mindestmaßes an polit. Bewegungsfreiheit, die bes. auf Versammlungs-, Vereins- und Koalitionsfreiheit beruht. Unabhängige G. bejahen den Streik als das letztlich entscheidende Kampfmittel.Nach Gesetzgebung und Rechtsprechung gelten G. ebenso wie Arbeitgeberzusammenschlüsse in der Bundesrep. Dtl. als Koalitionen, die vom Mitgliederwechsel unabhängig sind, die freiwillig gebildet, von Parteien, Kirchen sowie vom Staat unabhängig und auf überbetriebl. Grundlage organisiert sind, deren wichtigste Aufgabe der Abschluss von Tarifverträgen ist, die zu diesem Zweck Druck ausüben können, dabei aber die geltenden Schlichtungsregelungen anerkennen. Über diese rechtswiss. Definition hinaus gilt und galt v. a. in der Geschichte der Arbeiterbewegung als wichtigstes Ziel gewerkschaftl. Zusammenschlüsse die Selbsthilfe Lohnabhängiger (v. a. zu Beginn der industriellen Revolution) gegen Armut sowie Kinderarbeit, unzumutbare Arbeitsbedingungen (12- bis 17-Stunden-Tag, zu niedrige Löhne usw.) und fehlende soziale Sicherung (v. a. gegen Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter). Der gewerkschaftl. Kampf um die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen richtete sich nicht allein gegen Arbeitgeber, sondern auch gegen den Staat, der die notwendigen gesetzl. Rahmenbedingungen schaffen sollte (Normalarbeitstag, Arbeitsschutzgesetzgebung, staatl. Sozialversicherung, Betriebsverfassung sowie als notwendige Voraussetzung gewerkschaftl. Zusammenschlüsse eine gesetzlich abgesicherte Koalitionsfreiheit). Heute gelten als wichtigste, auch gesetzlich abzusichernde Ziele betriebl. und überbetriebl. Mitbestimmung, Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand, Wiederherstellung der Vollbeschäftigung durch versch. Maßnahmen der Arbeitszeitverkürzung (35-Stunden-Woche, Urlaubsverbesserungen), Verbesserung des Bildungs- und Ausbildungswesens sowie der Schutzgesetze für Jugendliche, Frauen und Behinderte.Organisationsformen: G. bildeten sich zunächst nach dem Berufsverbandsprinzip, bei dem sich Arbeitnehmer getrennt nach Berufsgruppen organisieren. Dieses Prinzip ist heute noch z. B. bei den Trade Unions in Großbritannien und den USA vorherrschend; in W-Europa entwickelte sich um 1900 das Industrieverbandsprinzip (ein Betrieb - eine G.), nach dem sowohl die Einzel-G. des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) als auch die Arbeitgeberverbände in Dtl. gegliedert sind. Sind G. auf bestimmte Weltanschauungen festgelegt bzw. die G.-Bewegung eines Landes nach Weltanschauungszugehörigkeit gegliedert, spricht man von Richtungsgewerkschaften. Die G.-Geschichte kennt v. a. folgende: 1) freie bzw. sozialist. G. als Teil der sozialist. Arbeiterbewegung; in Dtl. schlossen sich nach Aufhebung des Sozialistengesetzes (1890) die (der SPD nahe stehenden) Freien G.-Gruppen 1892 in Halberstadt zur Generalkommission der G. Dtl.s zusammen. Die SPD hatte ideologisch und personell auf diese G. großen Einfluss. Entgegen den Absichten A. Bebels u. a., die dafür eintraten, dass die Partei die Richtlinien ihrer Arbeiterorganisationen bestimmte, blieben diese jedoch unabhängig (Mannheimer Abkommen zw. den freien G. und der SPD, 1906); 1919 bildeten die freien G. in Dtl. den Allg. Dt. Gewerkschaftsbund (ADGB), dem der Allg. freie Angestelltenbund (Afa-Bund), gegr. 1920, und der Allg. Dt. Beamtenbund (ADB), gegr. 1921, angeschlossen waren. Wichtigstes polit. Konzept in den 1920er-Jahren war die Forderung nach Wirtschaftsdemokratie (sozialpolit. Maßnahmen gegen wirtsch. Macht, Ausbau betriebl. Mitbestimmung, Einführung regionaler und überbetriebl. Selbstverwaltungsorgane, Förderung der öffentl. Unternehmen sowie der Genossenschaften). 2) Kommunist. G. entstanden in Russland bzw. der Sowjetunion, ČSR, Großbritannien, Frankreich, Österreich und Polen und bildeten 1921 die Rote Gewerkschaftsinternationale (RGI), der sich auch revolutionäre Gruppen innerhalb der dt. freien G. anschlossen, die sich 1928 als Revolutionäre Gewerkschaftsopposition (RGO) unter der Führung der KPD vom ADGB abspaltete. 3) Syndikalist. G. bestanden v. a. in den letzten anderthalb Jahrzehnten des 19. Jh.; sie haben den Gedanken des Ind.verbandsprinzips am stärksten propagiert; Ziel der syndikalist. G. ist ein Wirtschaftssystem der Arbeiterselbstverwaltung. Syndikalist. G. entstanden zuerst in Frankreich (1892 Gründung der Fédération des Bourses du Travail) und hatten v. a. in Südamerika und Spanien (1910 Gründung der Confederación Nacional del Trabajo [CNT]) größeren Einfluss. 4) Christl. G. bildeten sich innerhalb der christlich-sozialen Bewegung zuerst Ende des 19. Jh. in Dtl.; sie gründeten 1901 den Gesamtverband christl. G., der nach dem Prinzip der Interkonfessionalität arbeitete. 1919 kam es zur Gründung des Dt. Gewerkschaftsbundes (DGB), der sich an der Zentrumspartei orientierte. In der Bundesrep. Dtl. sind die christl. (kath. orientierten) G. im 1959 gegründeten Christl. Gewerkschaftsbund Dtl. (CGB) zusammengefasst. 5) Gegen die klassenkämpfer. G.-Auffassung der freien, kommunist. und syndikalist. G. bildeten sich 1868 neben den christl. G. die dem Linksliberalismus nahe stehenden Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine, die nach dem Selbsthilfeprinzip schon früh Hilfskassen für ihre Mitgl. einrichteten; 1868 erfolgte die Gründung des Verbandes der Dt. Gewerkvereine, der 1919 mit Angestellten- und Beamtenorganisationen den Gewerkschaftsring dt. Arbeiter-, Angestellten- und Beamtenverbände gründete. 6) Die wirtschaftsfriedl. G. (sog. gelbe G.) lehnten den Arbeitskampf ab und proklamierten die Arbeitgeber und -nehmer zusammenfassende Werkgemeinschaft. 1899 in Frankreich entstanden, entwickelten sie sich meist mit Arbeitgeberunterstützung ab 1905 auch in Deutschland.Mitgliederstruktur: Die G. entwickelten sich zuerst als Berufsgruppen-G. getrennt für Arbeiter, Angestellte (Angestelltengewerkschaften) und Beamte. In Dtl. sind die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft (DAG) und der Dt. Beamtenbund (DBB) nach diesem Berufsgruppenprinzip organisiert. - Dem Prinzip der Richtungs-G., dem Berufsverbands- sowie dem Berufsgruppenprinzip steht das Prinzip der Einheits-G. gegenüber, die alle Berufsgruppen umfasst und nach dem Ind.verbandsprinzip in Einzel-G. gegliedert ist. 1949 wurde in der Bundesrep. Dtl. der DGB nach diesem Prinzip aufgebaut. Der DGB ist mit seinen Einzel-G. (nach Zusammenschlüssen 11 [1998]) sowohl in der Tarifpolitik als auch als Dachorganisation in der Wirtschafts- und Sozialpolitik eine einflussreiche Kraft. Obwohl Mitgl. bzw. Wähler aller Parteien im DGB organisiert sind, besteht - auch in den Führungsgremien - eine starke SPD-Mehrheit. - In der sowjet. Besatzungszone wurde 1945 der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) als Dachorganisation von 15 Einzel-G. gegründet.Internat. Organisationen: Die freien G. gründeten 1913 den Internat. Gewerkschaftsbund (IGB), der 1919 als internat. Dachorganisation der reformist. G. Europas und zeitweilig der USA neu konstituiert wurde (1919: 32 Mio. Mitgl.; zu Beginn des Zweiten Weltkriegs faktisch aufgelöst). 1921 gründeten die kommunist. G. die Rote Gewerkschaftsinternationale (RGI). 1945 kam es zur Gründung des Weltgewerkschaftsbundes (WGB), in dem auch amerikan. und sowjet. G. vertreten waren. Die einsetzenden Spannungen des Kalten Krieges führten 1949 zur Gründung des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften (IBFG) durch nichtkommunist. G. Als christl. G.-Internationale ging 1968 aus dem 1920 gegründeten Internat. Bund Christl. Gewerkschaften (IBCG) der Weltverband der Arbeitnehmer (WVA) hervor.
Literatur:
E. Matthias, Quellen zur Gesch. der dt. Gewerkschaftsbewegung im 20. Jh., begr. v. hg. v. K. Schönhoven u. H. Weber, auf zahlr. Bde. ber. Köln 1985 ff.
Gesch. der dt. G. von den Anfängen bis 1945, hg. v. U. Borsdorf. Köln 1987.
Schönhoven, K.: Die dt. G. Frankfurt am Main 21988.
Schneider, M.: Kleine Gesch. der G. Bonn 1989.
Nickel, W.: Taschenbuch der dt. G. Aufgaben - Organisation - Praxis. Köln 1995.
Sie können einen Link zu dem Wort setzen

Ansicht: Gewerkschaften