Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Geschichtsschreibung
Geschichtsschreibung(Historiographie), der Versuch, anhand der Darstellung von Vorgängen, Zuständen und Personen Geschichte bewusst werden zu lassen. Grundlegend für alle G. ist bis heute das vielschichtige Wechselverhältnis von Geschichtsbild und Gegenwartsbewusstsein geblieben. Als Disziplin der Geschichtswissenschaft steht die G. wegen ihres prinzipiell empir. Charakters in einem Spannungsverhältnis zur Geschichtsphilosophie.Altertum: Bei Ägyptern, Babyloniern, Assyrern u. a. wurden die Taten der Herrscher in Inschriften, gelegentlich auch in Annalen, gerühmt. Ansätze zu einer G. mit histor. Kritik und der Frage nach geschichtl. Wahrheit finden sich bei den Hethitern, ähnlich bei den Israeliten, die zudem ihre eigene Vergangenheit als Heilsgeschichte verstanden. Um Erfahrung weiterzugeben, wollten die Griechen das Traditionsgut mit einem unbedingten Wahrheitsanspruch überliefern und Gründe und Zusammenhänge histor. Vorgänge aufzeigen (v. a. Herodot, später als »Vater der Geschichte« bezeichnet); Thukydides gilt mit der Darstellung des Peloponnes. Krieges als Schöpfer der histor. Monographie. Ab dem 4. Jh. v. Chr. entstanden v. a. nach rhetor. Regeln verfasste Geschichtswerke. Diese G. erreichte in der röm. Kaiserzeit zu Beginn des 2. Jh. mit Tacitus ihren Höhepunkt. - Neben die G. trat ab etwa dem 4. Jh. v. Chr. die Biographie bzw. biograph. Behandlung histor. Stoffe (Plutarch, Sueton).
Die außereuropäische G. seit der Antike: Eine bedeutende, kontinuierl. Tradition der G. entwickelte sich schon früh in Ostasien aus der Annalistik (Aufzeichnungen über Taten und Maßnahmen der Herrscher). Die auch stilistisch einflussreichen»Shiji« (»Historische Aufzeichnungen«) von Sima Qian (um 100 v.Chr.100 v. Chr.) wurden zum Modell der bis 1912 weitergeführten offiziellen 25 Dynastiegeschichten (ab 629 durch ein Kollektiv von Literatenbeamten verfaßt). Für die traditionelle chin. G. war neben dem moral. Werturteil die Orientierung an der Poetik sowie der Literatur- und Textkritik charakteristisch.
Im alten Indien gab es keine eigentl. G.; Genealogien der Königsgeschlechter sind enthalten in den »Puranas«, einer Gruppe von anonymen Sanskrittexten der religiösen hinduist. Literatur (bis zum 2. Jh. n. Chr.). Chronikartig angelegt sind später Geschichten buddhist. Klöster, die v. a. auf Ceylon (Sri Lanka) entstanden. Eine umfassende Regionalgeschichte ist die einzigartig gebliebene Chronik von Kalhana über Kaschmir (»Rajatarangini«, 12. Jh.). Mit der Errichtung der islam. Mogul-Dynastie im frühen 16. Jh. wurden pers. Formen der Historiographie übernommen. Erst jetzt bildete sich eine reiche polit. und biograph. G. von hoher erzähler. Kunstfertigkeit heraus.
Die vom Islam geprägten Kulturen, insbesondere die arab., verfügen seit dem 8./9. Jh. über eine reiche und vielseitige Historiographie. Neben Prophetenbiographien, einer ersten Weltgeschichte bis 872 (al-Yaqubi; ✝ 897), annalist. »Weltchroniken« (z. B. at-Tabari; * 839, ✝ 923) sowie Dynastien- und Lokalgeschichten entstanden v. a. umfangreiche Gelehrtenprosopographien. Ansätze landeskundl. wie sozialhistor. Betrachtung erreichen im 14. Jh. einen Höhepunkt bei Ibn Chaldun.
Zahlr. Kulturen pflegten reichhaltige Traditionen oraler Geschichte (v. a. im subsahar. Afrika bis zum Kontakt mit der arab. Welt). In Äthiopien bestand eine ältere kopt. Tradition der G., die bis in die Antike zurückging.Mittelalter: Der allg. Rückgang der Schriftlichkeit zu Beginn des MA. betraf auch die G.; sie begann nur zögernd im Zuge der Rezeption antiker Kulturformen, getragen fast nur von Geistlichen, daher in lat. Sprache. Es entwickelten sich die für längere Zeit deutlich unterschiedenen Gattungen Biografie (Vita), Annalen, Chronik und Gesta. Die geistigen Auseinandersetzungen des 11. Jh. bewirkten u. a. eine verstärkte Hinwendung zur Weltchronik, die ihren Höhepunkt im geschichtstheolog. Werk Ottos von Freising fand. Vom italien. Frühhumanismus des 14. Jh. an wechselte die G. zw. Quellenkritik (Konstantin. Schenkung) und Geschichtsklitterung, zw. zeitgeschichtl. Interesse und Memoirenliteratur (P. de Commynes). Mit der polit. G. seit dem Ende des 15. Jh. entwickelte sich die moderne Staatengeschichte.16. und 17. Jahrhundert: Unter dem Einfluss der Glaubenskämpfe wurde die von den Humanisten vernachlässigte Kirchengeschichte wieder entdeckt. Die Mauriner entwickelten die philolog. Quellenkritik und begründeten die histor. Hilfswissenschaften wie z. B. die Urkundenlehre.18. Jahrhundert: Die G. der Aufklärung überwand die heils- und territorialgeschichtl. Verengung durch eine an der Entwicklung der Menschheit orientierte Universalgeschichte. Neue Sachgebiete wurden erschlossen oder entstanden: Gesellschafts-, Kultur-, Rechts-, Verfassungs-, Wirtschafts-, Kolonialgeschichte. Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung der deutschen G. war die frz. Aufklärungshistoriographie (Voltaire, Montesquieu); sie wurde wesentlich gefördert durch die Göttinger histor. Schule (J. C. Gatterer, A. Heeren, A. L. von Schlözer, L. T. von Spittler), die Geschichtsvereine und die wiss. Akademien.19. Jahrhundert: Bahnbrechend für die moderne Geschichtswiss. und G. wirkte die Vollendung der histor. Methode durch den dt. Historismus, der die Kategorien Entwicklung und Individualität zu Leitprinzipien der G. machte und die Vergangenheit in ihrer Eigentümlichkeit zu verstehen suchte (L. von Ranke und B. G. Niebuhr; in Frankreich A. Thierry). Die philologisch-histor. Methode (Quellenedition) wurde zur Grundlage aller Geschichtsforschung. Befruchtend wirkten die histor. Schulen der Rechtswissenschaft und der Nationalökonomie. In enger Verbindung zu den polit. Tendenzen der Zeit standen die liberale (K. W. von Rotteck, K. T. Welcker, G. G. Gervinus, F. C. Dahlmann) sowie die preußisch-kleindt. (J. G. Droysen, H. von Treitschke, H. von Sybel) und die österr.-großdt. Richtung der G. (J. von Ficker, A. Ritter von Arneth, O. Klopp). In bewusstem Gegensatz zu dieser polit. G. wurde von W. H. von Riehl, G. Freytag und J. Burckhardt die Kulturgeschichte zum vornehml. Gegenstand histor. Darstellung gemacht. K. Lamprecht, L. von Stein und der Marxismus begründeten die Sozialgeschichte, W. Dilthey und F. Meinecke die Ideengeschichte. 20. Jahrhundert: Die G. als Erzeugnis und Erbteil der bürgerl. Epoche erlebte am Ende des 19. Jh. mit der »Krise des Historismus« (F. Meinecke) eine Erschütterung, die vom modernen naturwiss. Weltbild (Positivismus) ihren Ausgang nahm. Der Übergang zu einer sich auch als Sozialwissenschaft verstehenden G. setzte sich, getragen v. a. von den Impulsen durch M. Weber, erst in der Folge der polit. Katastrophen und sozialen Krisen des 20. Jh. durch; in den Mittelpunkt der »nouvelle histoire« rückte die Darstellung einer umfassenden Sozialgeschichte (innovativ: die Annales). Die starke Orientierung auf die Geschichte und Analyse sozialer Strukturen wurde aber in den letzten Jahrzehnten des 20. Jh. ergänzt durch eine stärkere Betonung der subjektiven, kulturellen Aspekte des geschichtl. Lebens (u. a. Historische Anthropologie, »neue« Kulturgeschichte). Mit dem Zweifel an Fortschritt und Entwicklung in der Geschichte (Abkehr von der grand narrative, der Geschichte in der Form einer kontinuierl. Erzählung) setzte sich im späten 20. Jh. zunehmend das Bewusstsein durch, dass es nicht eine, sondern viele Geschichten gäbe (z. B. Mikrogeschichte) und die Lebenszusammenhänge zunehmender Globalisierung unterliegen.
Literatur:
Certeau, M. de: Das Schreiben der Geschichte. A. d. Frz. Frankfurt am Main u. a. 1991.
Gundolf, F.: Anfänge deutscher G. von Tschudi bis Winckelmann, hg. v. E. Wind. Neuausg. Frankfurt am Main 1993.
Rothermund, D.: Geschichte als Prozeß u. Aussage. München 1995.
Simon, C.: Historiographie. Eine Einführung. Stuttgart 1996.
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