Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Geschichtsphilosophie
Geschichtsphilosophie,der Teil der Philosophie, der sich zum einen mit der Deutung der Geschichte, d. h. mit der Frage nach einem hinter den ermittelten Fakten verborgenen Sinn und den diesen zugrunde liegenden historischen Gesetzmäßigkeiten und Strukturen beschäftigt, zum anderen die Möglichkeiten und Grenzen geschichtswiss. Erkennens aufzeigt sowie die Methodologie der Geschichtsschreibung erforscht. Der Begriff G. wurde von Voltaire eingeführt. Eine systemat. G., nach verschied. geschichtl. Betrachtungen in der Antike (Herodot, Thukydides), setzt erst mit dem christl. Begriff der Heilsgeschichte ein. Geschichte wurde hier als zielgerichtetes Geschehen verstanden, das vom Anfang der Weltschöpfung über Sündenfall, Erlösung bis zu Jüngstem Gericht und Weltende reicht und die ganze Menschheit umfasst (lineares Geschichtsbild). Diese G. (eigtl. Geschichtstheologie) Augustinus' war für die mittelalterl. Chroniken verbindlich. Die Annahme einer stufenförmigen Entwicklung fand einen Höhepunkt bei Joachim von Floris. Die G. bis zu Hegel und Marx ist weithin eine Verweltlichung dieser teleolog. Geschichtsbetrachtung. G. B. Vico sah Geschichte als Abfolge von Epochen kulturellen Wachstums und Verfalls, zwar noch durch die göttl. Vorsehung bestimmt, die tatsächlich jedoch mit dem Gesetz des Prozesses gleichgesetzt wird. Für die Aufklärung wurde die Weltgeschichte zum stetigen Fortschritt aus dem Dunkel der Unvernunft und Barbarei zum Sieg der Vernunft. Diesem Aufbauschema folgten alle Geschichtsschreiber der Zeit, auch noch I. Kant und J. G. Fichte. Für J. G. Herder, den Schöpfer der dt. G., der Vicos und C. Montesquieus geschichtsphilosoph. Ansätze aufnahm und der Romantik weitergab, bedeutete geschichtl. Fortschritt die Entwicklung zur Humanität. Der Höhepunkt der idealist. G. wird durch G. W. F. Hegel bezeichnet: Die von der Weltvernunft beherrschte Weltgeschichte ist »der Fortschritt des Geistes im Bewusstsein der Freiheit«. Mit der materialist. Umkehrung der hegelschen Dialektik begründeten K. Marx und F. Engels ihre Geschichtsauffassung des histor. Materialismus (Marxismus). Mit Hegel und Marx enden die Versuche, mit einem geschlossenen philosoph. System eine umfassende Geschichts- und Seinsdeutung zu geben. Die Kritik S. Kierkegaards und F. Nietzsches an Hegel und seiner Geschichtsauslegung führte dann bei beiden zu einer Besinnung auf den Menschen, der sich durch seine Individualität den gedachten Systemen entziehe. Weiterhin jedoch werden geschichtsphilosoph. Betrachtungen von unterschiedl. Ansatzpunkten aus angestellt. Die positivist. Geschichtsphilosophen der frühen frz. und engl. Soziologie (A. Comte, H. Spencer) versuchten, auf naturwiss. Wege die Entwicklungsgesetze der Gesellschaft aufzudecken; sie sahen in der Entwicklung der Technik und der durch sie bedingten Zivilisation den Hauptantrieb der geschichtl. Bewegung und den Maßstab des Fortschritts. Gegenüber diesem naturwiss. Ansatz betonten bes. die Historiker des 19. Jh. die Einmaligkeit, den Freiheitsgehalt und die Irrationalität der Geschichte. Die Relativierung aller Werte als Folge des Historismus, A. Schopenhauers und Nietzsches radikale Kulturkritik und ein zunehmender Geschichtspessimismus führten im 20. Jh. dazu - soweit nicht aus dem Erbe Vicos und der Romantik wieder Kulturzyklentheorien mit organ. Gesetzen von Wachstum und Verfall der Kultur formuliert wurden (O. Spengler) -, dass die G. von der »Universalhistorie« abrückte. Auf gesamtphilosoph. Deutungen der Weltgeschichte wurde verzichtet oder gar die Möglichkeit einer solchen prinzipiell verneint (T. Lessing, später auch die krit. G.). Wird heute noch von einer Einheit der Weltgeschichte gesprochen, dann nur im Sinn eines Wirkungszusammenhangs, der sich aus einer Mehrzahl selbstständig gewachsener Kulturen ergibt (A. Toynbee, H. Freyer u. a.).
Ab 1900 wurde G. vielfach als Lehre von den Formen und Möglichkeiten geschichtsphilosoph. Denkens, Erkennens und Begreifens betrieben (H. Rickert, W. Dilthey, M. Weber). Gegenwärtig wird immer wieder von einer Posthistoire, einer nachhistor. Zeit gesprochen. Vieles spricht für die Erkenntnis, dass es nicht die Geschichte, sondern eine Vielfalt von Geschichten gibt. In dieser Hinsicht erscheint Webers - aber auch F. Braudels - Frage nach dem spezif. Charakter der okzidentalen Welt nicht überholt. Dank der Arbeiten von J. Le Goff u. a. ist einsehbar geworden, wie zeit- und kulturbedingt unser Begriff einer linearen, fortschreitenden Zeit ist. Für das hermeneut. Verfahren wurde von H. G. Gadamer und P. Ricoeur die Möglichkeit des Verstehens (von Texten), von R. Barthes, A. White und J. Derrida der qualitative Unterschied zw. Geschichte als Wiss. und als Fiktion infrage gestellt. Aber auch die an den Sozialwiss.en orientierte Geschichtsschreibung ist sich jetzt bewusst, dass ihre Vorstellungen auf Konstruktionen beruhen. Insgesamt tritt Ende des 20. Jh. das Subjekt in der Geschichtsschreibung wieder stärker hervor, und Historiker haben begonnen, die Menschen nicht nur innerhalb sozialer, kultureller und sprachl. Strukturen zu sehen, die menschl. Verhaltensweisen bestimmen, sondern auch die Frage zu stellen, wie Menschen an der Formierung und dem Wandel dieser Strukturen mitgewirkt haben.
Literatur:
Löwith, K.: Weltgeschichte u. Heilsgeschehen. Die theolog. Voraussetzungen der G. A. d. Engl. Stuttgart u. a. 81990.
Schaeffler, R.: Einführung in die G. Darmstadt 41991.
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