Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Germanen
Germanen,Sammelname für Völker und Stämme in N- und Mitteleuropa, die der indogerman. Sprachfamilie angehören, untereinander sprachverwandt sind (germanische Sprachen), sich jedoch von den benachbarten Kultur- und Sprachgruppen der Kelten, Illyrer, Balten, Slawen und Finnen durch Sprache, Religion, Sitte, Brauch und materielle Kultur unterscheiden. Die Bez. wurde zuerst von Poseidonios als Name kleinerer Stämme im heutigen Belgien überliefert. Gallier und Römer seit Cäsar übertrugen den Namen ohne Unterschied auf sämtl. rechtsrhein. Völkerschaften. Die G. selbst kannten keinen einheim. Begriff für ihre Gesamtheit.Tacitus unterschied drei german. Stammesgruppen: Ingwäonen, Herminonen und Istwäonen. Die Archäologie hingegen wies für die ersten Jahrhunderte n. Chr. mehrere german. Fundgruppen nach, denen bestimmte, von den Römern erstmals genannte Stämme zugeordnet werden können: Nordsee-G. (Friesen, Chauken, Sachsen), Rhein-Weser-G. (Tenkterer, Sugambrer, Brukterer, Cherusker, Chatten), Elb-G. oder Elbsweben (Langobarden, Semnonen, Hermunduren, Markomannen, Quaden), Oder-Warthe-G. (Lugier, Wandalen), Weichsel-G. (Rugier, Burgunder, Goten), Ostsee-G. (kleinere südskandinav. Stämme). Erst im 3. Jh. kam es zum Zusammenschluss der historisch bekannten Großstämme (Alemannen, Franken, Sachsen, Goten).Geschichte: Die neuere archäologisch-histor. Forschung lehnt die Vorstellung von einer Urheimat der G. zwischen S-Skandinavien und Mittelelbegebiet, die angeblich seit der Bronzezeit (2. Jt. v. Chr.) nachzuweisen sei, sowie von einer aus diesen Gebieten erfolgten, stetig fortschreitenden »Germanisierung« südlich und westlich anschließender Landschaften weitgehend ab. Vielmehr gilt die Entstehung (Ethnogenese) und Ausbreitung der G. als ein außerordentlich vielschichtiger, bislang nicht völlig geklärter Vorgang. Einigkeit herrscht lediglich darüber, dass offenbar eine Vielzahl eisenzeitl. Bevölkerungsgruppen unterschiedl. Ursprungs und Kulturniveaus im Gebiet zw. norddt. Flachland und der Mittelgebirgszone an der Entstehung der german. Stämme beteiligt waren. In jenem Raum, der annähernd vom Verlauf von Nieder- und Mittelrhein, Main, Sudeten und Weichsel umschrieben wird, lassen sich in den letzten Jahrhunderten v. Chr. mehrere regionale eisenzeitl. Kulturgruppen nachweisen, die sich aus bronzezeitl. Wurzeln gebildet hatten. Diese waren einer Beeinflussung seitens der höher entwickelten Zivilisation kelt. Stämme ausgesetzt, deren Siedlungsgebiete sich von Gallien über S-Dtl. und Böhmen bis nach S-Polen erstreckten. Bei allen regionalen Unterschieden war die Zugehörigkeit zur Randzone der kelt. La-Tène-Kultur das verbindende Element. So darf die Ethnogenese der G. verstanden werden als ein Ausgleichsprozess verschiedenartiger ethn. Gruppen, die jeweils starkem kelt. Einfluss unterlagen, ohne selbst Kelten zu werden. Dieser Prozess setzte in einigen Gebieten wohl schon im 3. Jh. v. Chr. ein und dauerte in der Zeit um Christi Geburt teilweise noch an. Die Ausbildung einer sich vom Keltischen immer weiter unterscheidenden Sprachgruppe dürfte wesentlich zur Entstehung des Germanentums beigetragen haben. Einen wichtigen Anteil an diesem Vorgang hatten die Träger der sich kontinuierlich aus der jüngeren Bronzezeit entwickelnden Jastorfkultur, die von der jüt. Halbinsel über Mecklenburg und Brandenburg bis nach N-Böhmen verbreitet waren. Sie gelten als die Vorläufer der späteren Elbgermanen. Einzelne Vorstöße im 2./1. Jh. v. Chr. nach S und W mögen den genannten Ausgleichsprozess gefördert haben. Zur gleichen Zeit bildete sich im stark keltisch geprägten Raum zw. Oder und Warthe die german. Przeworsker Kultur heraus (u. a. Übernahme kelt. Waffen). Schon bald einsetzende Vorstöße aus diesem Raum ins Elbe-Saale-Gebiet vermittelten dem südl. Jastorfkreis die Sitte des Waffenbeigebens als Ausdruck eines neu entstehenden, wohl gefolgschaftlich organisierten Kriegertums. So hat spätestens im letzten Jh. v. Chr. der schon seit längerem wirkende kelt. Einfluss nicht nur die materielle Kultur, sondern offenbar auch die Gesellschaftsstruktur der weiter nördlich siedelnden Bevölkerungsgruppen entscheidend verändert und damit zur Ethnogenese der G. beigetragen.Im 3. Jh. v. Chr. drangen die Bastarnen aus Mitteleuropa an die Schwarzmeerküste vor. Im 2. Jh. zogen die Langobarden zur unteren Elbe (z. T. weiter nach S-Mähren und Oberösterreich). Die um 120 v. Chr. möglicherweise durch eine Sturmflut zum Abzug aus NW-Jütland gezwungenen Kimbern und Teutonen konnten weit in röm. Gebiet eindringen; 102 v. Chr. wurden jedoch die Teutonen bei Aquae Sextiae (heute Aix-en-Provence), 101 v. Chr. die Kimbern bei Vercellae (heute Vercelli) vernichtend geschlagen. Ab 100 v. Chr. dehnten sich die elbgerman. Sweben nach S aus, wobei die Markomannen kurz vor Christi Geburt nach Böhmen, die Quaden an den Unterlauf des Mains und bis 21 n. Chr. nach Mähren, die Triboker in die Gegend von Stuttgart, die Hermunduren nach Thüringen, die Semnonen in das Havelland und die Angeln nach SO-Schleswig gelangten. In das von den Sweben geräumte Gebiet an Elbe und Unstrut rückten die Wandalen nach, während sich die Burgunder ostwärts bis an die Weichsel ausdehnten. Um 71 v. Chr. überschritt Ariovist mit etwa 120 000 Haruden, Tribokern, Nemetern und Wangionen den Rhein, wurde aber 58 v. Chr. in der Nähe von Mülhausen von Cäsar geschlagen; eine allg. rückläufige Bewegung der G. (bes. Markomannen, Quaden, Burgunder und Wandalen) nach O setzte ein; 38 v. Chr. wurden die Ubier auf dem linken Rheinufer angesiedelt. Die Niederlage des Marcus Lollius gegen die Sugambrer (16 v. Chr.) führte zu den röm. Offensivkriegen des Drusus und des Tiberius gegen die G. (12 v. Chr. bis 5 n. Chr.). Der Sieg des Cheruskers Arminius über den röm. Statthalter Varus (Schlacht im Teutoburger Wald; 9 n. Chr.) bewirkte die Aufgabe der röm. Expansionspolitik rechts des Rheins. Während dieser Zeit zogen die Goten aus Skandinavien an die Weichselmündung. Um 6 v. Chr. kam es unter Marbod zur Gründung des Markomannenreiches in Böhmen, das um 25 n. Chr. mit dem Quadenreich des Vannius (19-50) verschmolz. Die Niederwerfung des Bataveraufstandes (69/70) verhinderte die Schaffung eines german. Staatengebildes beiderseits des Niederrheins.Die Romanisierung der besetzten german. Gebiete erfolgte seit 50 v. a. durch die Gründung der röm. Bürgerkolonie Colonia Claudia Ara Agrippinensium (heute Köln), die Anlage der Kastelle Abusina (heute Eining), Regina Castra (heute Regensburg-Kumpfmühl) und Sorviodurum (heute Straubing), durch die Anlage des obergerman. und rät. Limes (etwa 83-145) und die Einrichtung der beiden Grenzprovinzen Obergermanien (Germania superior) und Untergermanien (Germania inferior). Im freien Germanien (Germania libera oder magna) wurde die 1. german. Völkerwanderung (um 150-295) durch die Abwanderung der Goten von der Weichselmündung zum Schwarzen Meer (um 150 bis um 180) ausgelöst: Abdrängung der Burgunder nach W, der Wandalen nach S, der Chatten um 162 über den Limes und der Markomannen über die Donau (166/167). Folge waren die Markomannenkriege Mark Aurels (166-175 und 177-180). 213 erschienen Teile der Alemannen am Limes, den sie 259/60 durchbrachen, an der unteren Donau standen 236 die Goten, die 249 bis nach Makedonien vorstießen, Kaiser Decius 251 bei Abritus (heute Rasgrad) schlugen, 267 bis nach Kappadokien vordrangen und 268 zur See zus. mit den Herulern und Bastarnen bis Sparta gelangten. Zwischen 257 und 260 wurden zum ersten Mal die Franken fassbar, die immer wieder Vorstöße ins Innere Galliens unternahmen. 269 begannen die Goten (jetzt erstmals in Ost- und Westgoten geschieden) ihre Wanderung auf den Balkan.Bereits im 3. Jh., bes. seit Konstantin d. Gr., verstärkte sich das german. Element im röm. Heer; G. stiegen zu den höchsten Befehlshaber- und Verwaltungsstellen des Röm. Reichs auf, z. B. Stilicho, Ricimer, Childerich I. Die Westgoten öffneten sich seit 341 dem arian. Christentum. In den Donauländern siedelten sich Goten, Heruler, Rugier, Skiren und Wandalen an. Die Unruhen begannen erst wieder mit der Durchbrechung der Rheinbefestigungen durch die Alemannen und Franken (nach 350; Aufgabe der Rheingrenze durch Rom 401), den Donauüberschreitungen durch Quaden und Markomannen (seit 357) sowie dem Wiederausbruch der Kämpfe mit den Westgoten (367). Durch den Vorstoß der Hunnen (375) wurde die 2. german. Völkerwanderung ausgelöst, in deren Verlauf auf dem Boden des Imperium Romanum german. Reiche entstanden, die im europ. Raum den antiken Zustand der Mittelmeerwelt beendeten. 413 entstand das Föderatenreich der Burgunder um Worms, von wo sie 443 in die Landschaft Sapandia um den Genfer See umgesiedelt wurden. 418/419-507 bestand das Westgotenreich von Tolosa (heute Toulouse), 429-533/534 das Wandalenreich in Afrika. Schließlich beseitigte 476 der Skire Odoaker das weström. Kaisertum. 486 beseitigte der Franke Chlodwig die letzten Reste röm. Herrschaft zwischen Somme und Loire (Fränkisches Reich). Schon 473 waren die seit 456 in Pannonien als Foederaten ansässigen Ostgoten unter der Führung Theoderichs nach Moesien aufgebrochen; 493 fielen sie in Italien ein, wo ihr Reich bis 553 bestand. Ebenfalls aus Pannonien kommend, besetzten die Langobarden 568 N-Italien, wo sie ein bis 774 bestehendes Reich errichteten.Siedlung und Hausbau: Die G. wohnten meist in flussnahen Dörfern, Weilern oder Einzelhöfen, die teilweise befestigt waren. Besiedelt wurden sowohl Sand- und Lehm- als auch Marschböden. Im Nordseeküstengebiet und in Westfalen waren langrechteckige, dreischiffige, mit einem Giebel versehene Wohn-Stall-Häuser aus lehmverstrichenen Holzflecht- oder Grassodenwänden üblich, z. B. Feddersen Wierde. In den anderen Regionen herrschten meist kleinere zwei- oder einschiffige Bauten vor; im Elbe-Oder-Gebiet wurden Wohnhäuser mit ovalem Abschluss an einer Schmalseite nachgewiesen. - Befestigungen lassen sich erst seit dem 3. Jh. v. Chr., wohl unter kelt. Einfluss, belegen. Häufiger werden sie im 4./5. Jh. bes. bei den Alemannen (Glauberg, Runder Berg).Wirtschaft: Die Wirtschaft war agrarisch strukturiert. Angebaut wurden Weizen und Gerste, später auch Hafer, Roggen, Flachs, Hirse und Gemüse; von den Römern wurde der Weinbau übernommen. Von Bedeutung war die Zucht von Rind, Schaf und Schwein. Erzgewinnung und Metallverarbeitung lagen frühzeitig in der Hand von berufsmäßigen Handwerkern. Der Fernhandel mit dem Mittelmeergebiet (bes. mit Bernstein, Fellen und Wolle) geht bis in die Bronzezeit zurück; Kupfer und Zinn als Rohmaterialien für die Bronzeherstellung, Metallgeräte und Glasgefäße wurden nach Germanien eingeführt. Die Schifffahrt, die mit verhältnismäßig großen und seetüchtigen Schiffen betrieben wurde, erreichte im 4. Jh. n. Chr. (Nydamboot) ihren ersten Höhepunkt. Segelboote sind erst seit der Wikingerzeit (8. Jh.) bezeugt.Gesellschaft und Recht: Anhand der Grab- und Siedlungsfunde kann man bereits für das 1. Jh. v. Chr. eine stärkere soziale Gliederung feststellen, doch erst der direkte Kontakt mit der röm. Welt seit Christi Geburt, der röm. Militärdienst und vermehrter Grundbesitz begünstigten größere Differenzierungen im Gesellschaftsaufbau und die Entwicklung einer aristokrat. Führungsschicht (Anlage von Fürstengräbern im 3.-7. Jh.). Eine stabile Adelsschicht, die sich durch ihre rechtl. Sonderstellung abhob, gab es aber erst in merowing. Zeit. Die auf gemeinsamer Abstammung beruhende Sippe stellte das wichtigste soziale Gebilde dar. - Das Kriegswesen, ursprünglich auf Einzelkampf mit Lanze und Schild gerichtet, wandelte sich unter röm. Einfluss. Geschlossene Kampfesweise und Reiterei sind erst in der Kaiserzeit festzustellen. - Die Rechtsprechung beruhte auf mündlich tradiertem Recht. Verhandelt wurde auf dem Thing (Ding). Private Rechtsstreite wurden häufig durch Fehden zwischen den Sippen ausgetragen, die durch das »Wergeld« genannte Bußgeld gesteuert wurden. (germanische Volksrechte)
Literatur:
B. Krüger, Die G. Geschichte u. Kultur der german. Stämme in Mitteleuropa, bearb. v. 2 Bde. Berlin 2-51986-88.
Grönbech, W.: Kultur u. Religion der G., 2 Bde. A. d. Dän. Darmstadt 111991.
Fischer-Fabian, S.: Die ersten Deutschen. Der Bericht über das rätselhafte Volk der G. Tb.-Ausg. München 131993.
Wolfram, H.: Die G. München 21995.
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