Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Genossenschaft
Genossenschaft,1) Rechtsgeschichte: im mittelalterl. dt. Recht eine Vereinigung von Stammes- oder Berufsgenossen zur gemeinsamen Wahrnehmung bestimmter Aufgaben. Als wirtsch. G. entstanden Mark-, Weide-, Wasser-, Deich-G. u. a. Auch die Verfassungen der Städte waren genossenschaftlich.
2) Wirtschaft: Verein mit unbegrenzter Mitgl.zahl, der die wirtsch. Förderung seiner Mitgl. mittels gemeinschaftl. Geschäftsbetriebs bezweckt. Entsprechend seinem Zweck unterscheidet man: Verbraucher-G. (Konsumverein), Bau-G., Absatz- und Produktions-G., Vorschuss-, Rabattspar- und Kreditvereine (G.-Banken). Die wirtsch. Bedeutung der G. ist erheblich. Rechtl. Grundlage ist das G.-Gesetz vom 1. 5. 1898, mit Wirkung vom 1. 1. 1974 novelliert, nunmehr i. d. F. vom 19. 8. 1994. Die G. ist jurist. Person und körperschaftlich organisiert (d. h., sie ist auf der Mitgliedschaft der zugehörigen Personen aufgebaut). Sie wird den Handelsgesellschaften gleichgestellt. - Die G. entsteht durch Eintragung in das beim Amtsgericht geführte G.-Register. Die Firma (der Handelsname) der G. muss den Zusatz »eingetragene G.« (Abk. »eG«) tragen. Die G. muss mindestens sieben Mitgl. haben. Das Statut bedarf der Schriftform; Änderungen des Statuts können von der Generalversammlung (Vertreterversammlung) mit 3/4-Mehrheit beschlossen werden. Für Verbindlichkeiten der G. haftet den Gläubigern das Vermögen der G., jedoch muss das Statut eine Bestimmung enthalten, ob im Konkursfall eine Nachschusspflicht der Mitgl. besteht und ob diese beschränkt oder unbeschränkt ist. Organe der G. sind: a) die Generalversammlung (bei mehr als 3 000 Mitgl. »Vertreterversammlung«), in der jedes Mitgl. eine Stimme hat (seit 1974 auch Mehrstimmrecht von bis zu drei Stimmen möglich); b) der von der Generalversammlung bestellte, der G. gegenüber verantwortliche hauptberufl. oder ehrenamtl. Vorstand (mindestens zwei Mitgl.), dem Geschäftsführung und Vertretung der G. obliegt; c) der zur Überwachung der Geschäftsführung von der Generalversammlung gewählte Aufsichtsrat (mindestens drei Mitgl.); bei mehr als 500 Beschäftigten muss er zu einem Drittel aus Arbeitnehmervertretern bestehen.
Die Mitgliedschaft ist vererblich, aber nicht übertragbar. Übertragbar auf andere Genossen sind die Geschäftsanteile. Die Mitgliedschaft endet durch Tod, Austritt (Kündigung, hier sind oft längere Fristen einzuhalten) oder Ausschluss.
Heute bestehen in Dtl. folgende Spitzenverbände: Dt. Genossenschafts-Raiffeisenverband, Bund dt. Konsumgenossenschaften GmbH, Gesamtverband gemeinnütziger Wohnungsunternehmen e. V. - In Österreich gilt das mehrfach novellierte G.-Ges. vom 9. 4. 1873 mit ähnl. Bestimmungen und gleich lautenden Organen. Die Kaufmannseigenschaft der G. erfordert hier den Betrieb eines Handelsgewerbes. Zur G.-Gründung genügen zwei Personen. In der Schweiz enthalten die Art. 828 ff. Obligationenrecht ähnl. Grundsätze wie in Deutschland.Geschichte: Die neuzeitl. G. entstanden 1830-40 in W-Europa im Zusammenhang mit der Industrialisierung als wirtsch. Selbsthilfeeinrichtungen (»Kinder der Not«). H. de Saint-Simon und C. Fourier entwickelten in Frankreich den Gedanken der Produktiv-G. Die Verbraucher-G. haben ihren Ursprung in Großbritannien, wo die Ideen von W. King und R. Owen 1844 zur Gründung eines Konsumvereins in Rochdale führten (»Die redl. Pioniere von Rochdale«). Das gewerbl. G.-Wesen in Dtl. geht auf H. Schulze-Delitzsch und das landwirtsch. auf F. W. Raiffeisen zurück. Zur besseren Durchführung ihrer Aufgaben und zur Vermeidung der Einführung einer staatl. Aufsicht schlossen sich einzelne G. schon früh zu G.-Verbänden zusammen, deren Aufgabe u. a. die Prüfung der wirtsch. Verhältnisse und der Ordnungsmäßigkeit der Geschäftsführung ihrer Mitgl. ist.
Literatur:
Hettlage, R.: Genossenschaftstheorie u. Partizipationsdiskussion. Göttingen 21987.
Aschhoff, G. u. Henningsen, E.: Das dt. Genossenschaftswesen. Frankfurt am Main 21995.
Bialek, A.: Perspektiven der G. als Organisationsform. Berlin 1995.
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