Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Gehirn
Gehirn (Hirn, lat. Cerebrum, Encephalon), Abschnitt des Zentralnervensystems mit den wichtigsten Schalt- und Steuerungszentren des Körpers.Im Tierreich tritt ein einfach gebautes G. bereits bei Strudelwürmern als lokale Verdickung des Nervengeflechts auf. Bei Fadenwürmern umgibt das G. als Nervenring den Schlund. Im Strickleiternervensystem der Gliedertiere bilden die über dem Schlund befindl. paarigen Oberschlundganglien (Cerebralganglien) das G.; es handelt sich um knotenförmige Anhäufungen von Nervenzellen. Bei Tintenfischen entsteht durch Verschmelzung mehrerer Ganglien eine zentrale Nervenmasse. Bei Wirbeltieren ist das G. bes. stark ausgeprägt; es bildet mit dem Rückenmark das Zentralnervensystem und besteht aus fünf Abschnitten: Das Endhirn (Telencephalon) ist bei niederen Wirbeltieren bes. ein Riechhirn. Bei den höheren Wirbeltieren wird es zu dem aus zwei Hälften (Hemisphären) bestehenden Großhirn, das bei Zahnwalen, Elefanten, Menschenaffen und Menschen bes. hoch entwickelt ist. Das Zwischenhirn (Diencephalon) entsendet die Sehnerven. Dorsale Anhangsgebilde sind die Zirbeldrüse (Epiphyse) sowie das Parietalorgan (Scheitelauge mancher Kriechtiere). An einem ventralen Fortsatz liegt die Hypophyse (Hirnanhangdrüse), eine wichtige Hormondrüse. Vom Mittelhirn (Mesencephalon), einer wichtigen Schaltstation für Sinnesnerven aus Auge und Innenohr, gehen zwei Hirnnerven ab. Das Hinterhirn (Metencephalon) steuert bes. den Muskeltonus und die Bewegungskoordination; bei Fischen, Vögeln und Säugetieren ist es daher stark entwickelt (Kleinhirn, Cerebellum). Die restl. Hirnnerven entspringen dem Nachhirn (Myelencephalon; verlängertes Mark, Medulla oblongata), das u. a. die Atmung und den Kreislauf reguliert; es geht ohne scharfe Grenze in das Rückenmark über. Das G. enthält vier zusammenhängende Hohlräume (Ventrikel), die mit dem Rückenmarkkanal verbunden und mit der G.-Rückenmark-Flüssigkeit (Liquor cerebrospinalis) gefüllt sind. Größe und Gewicht des G. stehen mit seiner Leistungsfähigkeit in keinem direkten Verhältnis.Das G. des Menschen ist ein hochempfindl. Organ mit einem mittleren Gewicht von 1 245 g (Frauen) bzw. 1 375 g (Männer); es bildet zus. mit dem Rückenmark das Zentralnervensystem. Das G. ist Zentrum für alle Sinnesempfindungen und Willkürhandlungen, Sitz des Bewusstseins, Gedächtnisses und aller geistigen und seel. Leistungen. Es liegt geschützt in der Schädelhöhle und wird von dem äußeren Liquorraum umgeben, der sich zw. weicher Hirnhaut (Pia mater) mit Spinnwebenhaut (Arachnoidea) und harter Hirnhaut (Dura mater) ausbreitet. Die Blutversorgung erfolgt aus zwei getrennten Schlagadern (der inneren Halsschlagader und der Wirbelsäulenschlagader), die sich an der G.-Basis vereinigen.Das Großhirn (Endhirn, Telencephalon) hat sich erst beim Menschen zu solcher Größe und Leistungsfähigkeit entwickelt. Wie ein Mantel bedeckt die aus Nervenzellen bestehende graue Substanz der Großhirnrinde zus. mit den darunter gelegenen Nervenfasern (weiße Substanz) die übrigen Hirnteile. Durch die Vergrößerung der Oberfläche des Hirnmantels (Pallium) entstanden im Lauf der Entwicklung immer mehr Faltungen mit Windungen (Gyri) und Furchen (Sulci). In die Marksubstanz des Großhirns sind graue Kerngebiete, die Stammganglien, eingelagert. Die beiden Großhirnhemisphären (Hirnhälften) sind durch eine breite Nervenfaserplatte, den Balken (Corpus callosum), miteinander verbunden. Außerdem wird das Großhirn in mehrere Abschnitte unterteilt: Stirnlappen (Lobus frontalis), Scheitellappen (Lobus parietalis), Hinterhauptslappen (Lobus occipitalis), Schläfenlappen (Lobus temporalis) und Stamm- oder Insellappen (Lobus insularis).Die Großhirnrinde (Cortex cerebri) ist das höchste Integrationsorgan des Zentralnervensystems. Sie weist in ihrem Feinbau sechs versch. Schichten auf, die sich durch die Form der in ihnen enthaltenen Nervenzellen unterscheiden. Als Ganzes bezeichnet man diese Schichten als graue Substanz. Funktionell lassen sich in bestimmten Rindenfeldern bestimmte Leistungen lokalisieren. Der Stirnlappen der Großhirnrinde steht in enger Beziehung zur Persönlichkeitsstruktur. Der Hinterhauptslappen enthält Sehzentren, der Schläfenlappen Hörzentren. An der Grenze zw. Stirn- und Scheitellappen liegen zwei Gebiete mit den motor. Zentren für die einzelnen Körperabschnitte und einem Zentrum für Sinneseindrücke aus der Körperfühlsphäre. Das Großhirn ist Sitz von Bewusstsein, Wille, Intelligenz, Gedächtnis und Lernfähigkeit. Zum Großhirn gehört auch das limbische System, das »gefühlsmäßige« Reaktionen (z. B. das Sexualverhalten) als Antwort auf bestimmte Umweltsituationen beeinflusst oder bestimmt. Das Kleinhirn (Cerebellum), das wie das Großhirn aus zwei Hemisphären besteht, ist durch unbewusste (reflektor.) Steuerung der Muskelspannung, des Zusammenspiels der Muskeln sowie der Körperstellungen v. a. für den richtigen Ablauf aller Körperbewegungen verantwortlich; außerdem ermöglicht es die Orientierung im Raum. Das Kleinhirn erhält Informationen aus allen Bereichen, die für die Motorik wichtig sind, v. a. von der Muskulatur und vom Gleichgewichtssystem; über die Brücke (Pons) empfängt es außerdem die motor. (willkürl.) Bewegungsimpulse aus der Großhirnrinde. Zum Zwischenhirn (Diencephalon) gehören der paarig angelegte Thalamus (Sehhügel) und der Hypothalamus. Der Thalamus ist z. T. einfach venöse Schaltstation zw. Peripherie und Großhirn, z. T. Bestandteil des extrapyramidal-motor. Systems. Im Hypothalamus befinden sich versch. übergeordnete Zentren des autonomen Nervensystems, von denen lebenswichtige vegetative Funktionen gesteuert werden, so z. B. der Wärme-, Wasser- und Energiehaushalt des Körpers. Den Hirnstamm (Stammhirn) bilden die tieferen, stammesgeschichtlich ältesten Teile des G., er umfasst Rauten-, Mittel- und Zwischenhirn sowie die Basalganglien des Endhirns. Im Hirnstamm liegen bes. wichtige Zell- und Fasersysteme als Steuerungszentren für Atmung und Blutkreislauf. Als Formatio reticularis bezeichnet man ein dichtes Netzwerk von Schaltneuronen mit einigen Kerngebieten, die sich längs über den ganzen Hirnstamm erstrecken; sie kann u. a. die Aufmerksamkeit ein- und ausschalten und den Schlaf-wach-Rhythmus steuern. Im verlängerten Mark (Medulla oblongata) kreuzen sich v. a. die Nervenbahnen des Pyramidenstrangs. Es beherbergt die Zentren für die automatisch ablaufenden Vorgänge wie Herzschlag, Atmung, Stoffwechsel. Außerdem werden von ihm auch versch. Reflexe gesteuert, z. B. Speichelfluss, Schlucken, Tränensekretion, Niesen, Husten, Lidschluss, Erbrechen. Das verlängerte Mark geht in das Rückenmark über. Die direkt am G. (in ihrer Mehrzahl im Hirnstamm) entspringenden 12 Hauptnervenpaare werden als Hirnnerven bezeichnet: I Riechnerv; II Sehnerv; III Augenbewegungsnerv; IV Augenrollnerv; V Drillingsnerv (Trigeminus) mit Augennerv, Oberkiefernerv und Unterkiefernerv; VI seitl. Augenabzieher; VII Gesichtsnerv (Fazialis); VIII Hör- und Gleichgewichtsnerv; IX Zungen-Schlund-Nerv; X Eingeweidenerv (Vagus); XI Beinnerv (Akzessorius); XII Zungenmuskelnerv.
Literatur:
Klivington, K. A.: G. u. Geist. A. d. Amerikan. Heidelberg u. a. 1992.
G. u. Bewußtsein, Einf. v. W. Singer. Heidelberg u. a. 1994.
Popper, K. R. u. Eccles, J. C.: Das Ich u. sein G. A. d. Engl. München u. a. 51996.
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