Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Fundamentalismus
Fundamentalịsmusder, allg. kompromissloses Festhalten an (polit., religiösen) Grundsätzen. - Das Wort F. trat erstmals im Zusammenhang mit einer von prot. Christen (1910-15) in den USA herausgegebenen Schriftenreihe auf. Es waren v. a. vier unverrückbare »Grundwahrheiten« (»fundamentals«), die diese Bewegung charakterisierten: 1) die buchstäbl. Unfehlbarkeit der Hl. Schrift und die unbeirrbare Gewissheit, dass die Hl. Schrift keinen Irrtum enthalten könne; 2) die Nichtigkeit aller modernen Theologie und Wiss., soweit sie dem Bibelglauben widersprechen; 3) die Überzeugung, dass niemand, der vom fundamentalist. Standpunkt abweicht, ein wahrer Christ sein könne, und 4) die Überzeugung, dass die moderne Trennung von Kirche und Staat immer dann zugunsten einer religiösen Bestimmung des Politischen aufgehoben werden muss, wenn polit. Regelungen mit fundamentalen religiösen Überzeugungen kollidieren. Der prot. F. tritt neuerdings in den USA bes. mit spektakulären Aktionen gegen Schwangerschaftsabbruch sowie Kampagnen gegen Homosexualität und schul. Sexualerziehung an die Öffentlichkeit.Der Terminus »F.« wurde dann auf vergleichbare Erscheinungen in anderen Religionen und schließlich auch auf gleichartige Organisations- und Orientierungsformen nicht religiöser Art übertragen, die ihrerseits auf längere Traditionen zurückgehen.
Als Träger eines F. gelten nach dem 2. Vatikan. Konzil versch., durch ein eher vorkonziliar-restauratives Kirchenverständnis geprägte »traditionalist.« (nach eigenem Verständnis traditions- und papsttreue) geistl. Bewegungen innerhalb der kath. Kirche.Aufsehen erregt hat seit den 1970er-Jahren in Europa v. a. der islam. F., der unter der geistlich-polit. Führung des schiit. Religionsführers R. M. Khomeini mit einer kämpferisch antiwestl. Einstellung im Iran an die Macht gelangte und in einer zunehmenden Reihe islamisch geprägter Länder eine erhebl. polit. Rolle spielt. Anhänger findet der islam. F. bes. bei unterprivilegierten Bevölkerungsschichten, bei denen sich die Rückkehr zum ursprüngl. Islam zunächst in Äußerlichkeiten (z. B. Kleiderordnung) manifestiert. Geprägt durch eine islamist. Ideologie, daher im westl. Sprachgebrauch seit Anfang der 1990er-Jahre auch Islamismus gen., wird der islam. F. in starkem Maße durch islam. Bruderschaften (Ägypten, Sudan) und islamist. Parteien, Bewegungen und Gruppen (Algerien, Palästina) getragen, die oftmals die terrorist. Gewalt als ein Mittel zur Durchsetzung ihrer in erster Linie polit. Ziele betrachten. In Indien gewinnt seit dem Ende der 1980er-Jahre der politisch organisierte Hindu-F. bestimmenden Einfluss. Der seit Mitte der 1980er-Jahre ebenfalls erstarkte jüd. F. in Israel ist religiös in Teilen des orth. Judentums verwurzelt.
Literatur:
Kepel, G.: Die Rache Gottes. Radikale Moslems, Christen u. Juden auf dem Vormarsch. A. d. Frz. Neuausg. München u. a. 1994.
Der polit. Auftrag des Islam. Programme u. Kritik zwischen F. u. Reformen. Originalstimmen aus der islam. Welt, hg. v. Andreas Meier. Wuppertal 1994.
Tibi, B.: Der religiöse F. im Übergang zum 21. Jh. Mannheim u. a. 1995.
Kienzler, K.: Der religiöse F. Christentum, Judentum, Islam. München 1996.
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