Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Expressionismus
Expressionịsmusder, Begriff zur Bez. einer alle Künste umfassenden Stilrichtung des frühen 20. Jh., v. a. in Deutschland. Bildende Kunst: Kennzeichnend ist die Darstellung innerer Wirklichkeitserlebnisse. Psych. Impulse, Affekte, Befindlichkeiten u. a. werden durch eine großflächige, scharf konturierte Formsprache mit starken Farb- und Proportionskontrasten verdeutlicht. Zur Steigerung des Ausdrucks wurde - neben der Flächigkeit - das Mittel der Deformation eingesetzt. Als Wegbereiter gelten u. a. P. Gauguin, V. van Gogh, F. Hodler, J. Ensor und H. de Toulouse-Lautrec. In Dtl. ist der Beginn des E. 1905 mit der Gründung der Brücke anzusetzen, der neben den Gründungsmitgl. E. L. Kirchner, E. Heckel und K. Schmidt-Rottluff auch M. Pechstein, O. Mueller und (kurzzeitig) E. Nolde angehörten. Auch frühe Werke von Künstlern des Blauen Reiters in München zählen zum E. Ein weiteres Zentrum wurde Berlin durch die 1910 von H. Walden gegr. Ztschr. »Sturm« und die gleichnamigen Ausstellungen, aber auch durch den Zuzug der Brückekünstler aus Dresden (1910). Eine eigene Variante des E. bildeten die »rhein. Expressionisten« (H. Nauen, H. Campendonk u. a.). Expressionist. Elemente finden sich auch im Werk M. Beckmanns, C. Rohlfs' und Paula Modersohn-Beckers. Eigenständige Formen des E. entwickelten sich u. a. in Österreich (O. Kokoschka, A. Kubin, E. Schiele) und Belgien (C. Permeke, G. de Smet). Als frz. Parallele zum dt. E. kann der Fauvismus betrachtet werden; außerdem finden sich u. a. im Werk der Franzosen G. Rouault und C. Soutine expressionist. Züge. In der Bildhauerkunst traten v. a. W. Lehmbruck und E. Barlach hervor. Nach 1945 lebten Elemente des histor. E. im abstrakten Expressionismus, im Actionpainting, im Tachismus, in der Malerei der Gruppe Cobra oder in der Art brut und bei den Neuen Wilden wieder auf.Architektur: Expressionist. Tendenzen zeigen v. a. die Werke H. Poelzigs (Großes Schauspielhaus in Berlin, 1918/19; nicht erhalten), L. Mies van der Rohes (Projekte eines Bürogebäudes an der Berliner Friedrichstraße, 1919), E. Mendelsohns (Einsteinturm in Potsdam, 1919/20), P. Behrens' (Verwaltungsgebäude der Hoechst AG, 1920-24) sowie das 2. Goetheanum von R. Steiner in Dornach (1924-28) und das »Scheepvaarthuis« in Amsterdam (M. de Klerk, J. M. van der Mey, P. Kramer 1911-16). Zu den wichtigen schriftl. Zeugnissen gehören u. a. der Briefwechsel der Gläsernen Kette sowie die Publikationen B. Tauts (Die Stadtkrone, 1919; Alpine Architektur, 1920).Literatur: Nahezu gleichzeitig mit dem E. in der bildenden Kunst entwickelte sich in Dtl. der E. als eine literar. Generationsbewegung der etwa zw. 1875 und 1895 Geborenen, bei stark individueller Ausprägung übereinstimmend in der Radikalität der die Tradition durchbrechenden Kunsttheorie und -praxis. Der literar. E. wirkte sich mit chiffrenhaft verknappter, stark verdichteter und rhythmisch ausgreifender Sprache zunächst bes. in der Lyrik aus (G. Trakl, G. Heym, F. Stadler, E. Stramm, J. van Hoddis, J. R. Becher, Y. Goll, G. Benn u. a.), dann im symbolhaft gestalteten Drama (u. a. C. Sternheim, W. Hasenclever, G. Kaiser, E. Toller, B. Brecht, E. Barlach), jedoch auch in der erzählenden Prosa (C. Einstein, A. Döblin, G. Heym u. a.). Typisch für den E. waren zahlr., oft nur kurzlebige Ztschr. der expressionist. Gruppen (»Der Sturm«, 1910-32; »Die Aktion«, 1911-32; »Die weißen Blätter«, 1914-21), Manifeste und Anthologien. Weiteres deutsche Literatur, Film, Theater.Musik: Nach Vorankündigungen bei R. Strauss und M. Reger, mit A. Schönbergs »George-Liedern« op. 15 (1908/09), findet der musikal. E. seinen Höhepunkt in Schönbergs einaktigen Opern und dem Melodram »Pierrot lunaire« op. 21 (1912), ferner in A. von Weberns Miniaturen und Liedern, bes. den »Trakl-Liedern« op. 14 (1917-21) sowie in A. Bergs Oper »Wozzeck« (1914-21). Er klingt aus im gelösten Spiel von Schönbergs Serenade op. 24 (1920-23) und in Vertonungen expressionist. Dramen (O. Kokoschka, A. Stramm) durch E. Krenek und P. Hindemith. An die Stelle der Dreiklänge treten vieltönige Dissonanzen, an die regelmäßig gegliederter Melodien Prosamelodik (musikal. Prosa), an die der traditionellen Gattungen und Formen kurze, konzentrierte Stücke. Die funktionsharmonisch bestimmte Tonalität ist ebenso aufgegeben (atonal) wie die klass. Akzentrhythmik. Die traditionellen Momente werden meist bis zum Umschlag gesteigert.
Literatur:
O. F. Best. Theorie des E., hg. v. Neuausg. Stuttgart 1982, Nachdr. 1994.
E. Literatur u. Kunst 1910-1923, bearb. v. P. Raabe u. H. L. Greve, Ausst.-Kat. Deutsches Literaturarchiv, Marbach 22.-23. Tsd. 1990.
Raabe, P.: Die Autoren des literar. E. Ein bibliograph. Handbuch. Stuttgart 21992.
Vietta, S. u. Kemper, H.-G.: E. München 51994.
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