Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Existenzphilosophie
Existẹnzphilosophie,Oberbegriff für seit Ende der 1920er-Jahre in Dtl. entstandene, seit den 40er-Jahren bes. in Frankreich aufgegriffene philosoph. Richtungen, die auf einem subjektivist., individualist. Begriff der menschl. Existenz aufbauen, anknüpfend an S. Kierkegaard, der die Einsamkeit des Menschen vor Gott und die Grundbefindlichkeit der Angst herausstellte, und die Lebensphilosophie von F. Nietzsche, H. Bergson und W. Dilthey. Die Grundzüge der E. spiegeln die zeitgenöss. Situation des Menschen, die Erschütterung seines Daseins in den politisch-histor. Entwicklungen seit dem Ersten Weltkrieg, wider. Bestimmende Aspekte sind dementsprechend die Grunderfahrungen bzw. existenziellen Erlebnisse von Angst, Sorge, »Geworfenheit«, Tod, Scheitern, Ekel, Nichts und der Absurdität der Welt. Die E. stellt den Versuch dar, in Abkehr von den traditionellen metaphys. Entwürfen und der rational-techn. Welterklärung und -beherrschung zu einer neuen Sinnfindung durch die Betonung des persönl. Vollzugs in der Verwirklichung von Existenz zu gelangen, sei es im Rahmen einer Neuerschließung von Sein und Transzendenz (M. Heidegger, K. Jaspers), sei es im Rückgang auf die Subjektivität des einsamen Ich, das sich angesichts des Nichts und der Absurdität zu dem machen muss, was es ist (J.-P. Sartre). - In Heideggers Fundamentalontologie ist der Ausgangspunkt der Analyse das Wesen des menschl. Daseins in seiner »Alltäglichkeit« (existenziale Analytik), als Grundbestimmung des Daseins (Existential) die »Sorge«, als Horizont des Seinsverständnisses die Zeitlichkeit. Durch die Grundverfassung des Daseins als In-der-Welt-Sein wird die erkenntnistheoret. Entgegensetzung von Subjekt und Objekt aufgehoben; damit wird das isolierte Subjekt und Bewusstsein zu einem abgeleiteten, nicht ursprüngl. Phänomen. - Die »Existenzerhellung« K. Jaspers' (1932) nutzt die Erkenntnisse wiss. Welterklärung, überschreitet sie aber im Hinblick auf die »mögl. Existenz« des Individuums. Die Selbstwerdung des Menschen vollziehe sich in Grenzsituationen (Leiden, Tod, Schuld, Angst, Schicksal, Liebe). - In Frankreich als Existenzialismus bezeichnet, fand die E. bes. in der von J.-P. Sartre im Ausgang von G. W. F. Hegel, E. Husserl und bes. M. Heidegger entwickelten, atheistisch, pessimistisch, später marxistisch orientierten Philosophie Verbreitung und hatte bes. anfangs im Sinne eines allg. Lebensstils größeren Einfluss auf die Jugend. - Das Denken von A. Camus betont stärker den humanen Aspekt mitmenschl. Solidarität in der Revolte gegen die Absurdität des Daseins; M. Merleau-Ponty entwickelte eine phänomenologisch vorgehende Bewusstseinstheorie. Hervorragende Vertreter einer christl. E. sind bes. G. Marcel und J. Wahl. Einflüsse des frz. Existenzialismus sind in der italien. E. u. a. bei N. Abbagnano, E. Grassi greifbar.In der Theologie wurde die E. auf prot. Seite bes. bei K. Barth und R. Bultmann, auf kath. u. a. bei K. Rahner wirksam; in der Psychologie, bes. in der Tiefenpsychologie, bei L. Binswanger (Daseinsanalyse) und E. Drewermann, in der humanist. Psychoanalyse E. Fromms, bei V.-A. Gebsattel, V. E. Frankl (Existenzanalyse) und L. Szondi (Schicksalsanalyse). - Dichter der E. sind vor allem R. M. Rilke und F. Kafka.
Literatur:
Heidegger, M.: Über den Humanismus. Frankfurt am Main 91991.
Heidegger, M.: Sein u. Zeit. Tübingen 171993.
Sartre, J.-P.: Der Existentialismus ist ein Humanismus. A. d. Frz. Neuausg. Reinbek 1994.
Camus, A.: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Reinbek 366.-375. Tsd. 1995.
Sartre, J.-P.: Das Sein u. das Nichts. Versuch einer phänomenolog. Ontologie. A. d. Frz. Neuausg. Reinbek 15.-18. Tsd. 1995.
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