Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Epos
Epos[grch. »das Gesagte«, »Berichtete«] das (im 18. Jh. auch Epopöe), früh ausgebildete Großform erzählender Dichtung in gleichartig gebauten Versen oder Strophen (Versepos), meist mehrere Teile (Gesänge, Bücher, Aventiuren) umfassend. Kennzeichen sind gehobene Sprache, typisierende Gestaltungsmittel (epische Breite, Wiederholungen, Gleichnis, Formel), auf Erzählerebene die »epische Distanz«, ein Leitgedanke oder eine zentrale Gestalt. Das E. hat seinen Ursprung in jenem Stadium früher Epochen, in dem neben dem myth. Weltbild ein spezif. Geschichtsbewusstsein von der kulturtragenden Gruppe eines Volkes ausgebildet wurde. Seine Voraussetzung und zugleich sein Publikum war eine einheitlich (z. B. feudalistisch) strukturierte Gesellschaft, deren Anfangsgeschichte realhistor. Grundlage der frühen E. ist. Als literar. Vorstufe gelten kult. Einzelgesänge (Götter-, Helden-, Preislieder), die von anonymen Dichtern zu »Volks-E.« ausgestaltet und mündlich vorgetragen wurden. Es entwickelten sich Einzelgattungen wie National-, Lehr-, Tier- und Scherzepen. Die Geschichte der E.-Überlieferung beginnt im Orient mit dem babylon. »Gilgamesch-Epos« (2. Jt. v. Chr.), in Indien mit dem »Mahabharata« (4. Jh. v. Chr. bis 4. Jh. n. Chr.) und dem »Ramayana« (4. Jh. v. Chr. bis 2. Jh. n. Chr.). Höhepunkt des neupers. E. ist die Samml. des Firdausi, »Schah-Name« (Königsbuch). Die Hexameterdichtungen »Ilias« und »Odyssee« des Homer sind die frühesten Zeugnisse (8. Jh. v. Chr.) des westl. Epos. Weiterer Höhepunkt des antiken E. ist Vergils »Äneis« (Ende des 1. Jh. v. Chr.). Fortsetzung finden lat. und grch. E. im MA. in den byzantin. Geschichts- und Preis-E. (7.-12. Jh.), im mlat. geistl. E. (Bibel-E., [Heiligen-]Legenden) sowie in mlat. Herrscherviten, Chroniken oder Bearbeitungen auch german. Stoffe (»Waltharius«, 9. oder 10. Jh.) und schließlich im nlat. gelehrten E., z. B. in Petrarcas »Africa« (1338-42). Parallele Formen in der jeweiligen Volkssprache sind die frühmittelhochdt. »Kaiserchronik« (um 1145).Im Mittelalter wurden auch neue, nat. Stoffe in volkssprachl. Helden-E. gestaltet: Beispiele bieten das altengl. Helden-E. »Beowulf« (wahrscheinlich 10. Jh.) und das mittelhochdt. »Nibelungenlied« (um 1200); die karoling. Grenz- und Glaubenskämpfe und der Kreuzzugsgeist des hohen MA. finden Niederschlag im roman. Helden-E. (das altfrz. »Rolandslied«, um 1100, u. a. Chansons de Geste; der altspan. »Poema del Cid«, um 1140). Bedeutendstes Helden-E. der slaw. Literaturen ist das altruss. »Igorlied« (12. Jh.). Das Abenteuer-E. der Spielmannsdichtung steht zw. Helden-E. und dem höf. E. des hohen MA. (Chrétien de Troyes, Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg, Hartmann von Aue, Heinrich von Veldeke). Dantes »Göttliche Komödie« (1307-21) steht an der Schwelle zur Renaissance, in der die Gattung mit dem National-E. als bewusster Kunstschöpfung einen neuen Höhepunkt erlebte, u. a. in Italien durch L. Ariostos »Der rasende Roland« (1516), T. Tassos »Das befreite Jerusalem« (1581), in Portugal durch L. Vaz de Camões' »Lusiaden« (1572), in Spanien durch die »Araucana« (1569-89) von A. de Ercilla y Zúñiga, in England durch E. Spensers »The faerie queene« (1590-96), auch die kroat. »Judita« (1521) von M. Marulić steht in dieser Tradition. - Zunehmende Subjektivierung und Verbürgerlichung der Weltansicht standen der weiteren Entfaltung des E. entgegen, das aber von einigen Dichtern noch als oppositionelle Form gegen Verflachung von Leben und Poesie genutzt wurde (J. Milton, F. G. Klopstock). Die Wiederbelebungsversuche im 19. und bis zur Mitte des 20. Jh. sind zahlreich, meist in Form von National-E. oder Weltanschauungs-E., die sich mit ihrer Neigung zur lyrisch-ep. Versdichtung (P. B. Shelley, J. Keats und Lord Byron; W. Whitman und E. Pound; Saint-John Perse; C. Brentano, R. Dehmel; A. S. Puschkin) von der urspr. rein berichtenden Gattung abheben. Der Roman hatte sich als Nachfolger des E. bereits im 18. Jh. durchgesetzt.
Literatur:
W. J. Schröder. Das dt. Versepos, hg. v. Darmstadt 1969.
Europ. Heldendichtung, hg. v. K. von See. Darmstadt 1978.
Bartels, H.: E. - die Gattung in der Geschichte. Eine Begriffsbestimmung vor dem Hintergrund der Hegelschen »Ästhetik« anhand von »Nibelungenlied« u. »Chanson de Roland«. Heidelberg 1982.
Formen der Literatur in Einzeldarstellungen, hg. v. O. Knörrich. Stuttgart 21991.
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