Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Drama
I Drama [grch.], Bez. für alle Spielarten von literar. Werken, die auf szen. Realisierung im Theater hin angelegt sind und sich ihrem Bauprinzip nach mehr an den Zuschauer als an den Leser wenden. Ursprünglich waren im Theater Mimik, Gesang, Chor, Bild (Bühne), Darstellung und gesprochenes Wort verbunden; erst nach der Entstehung der Oper wurden Worttheater und musikal. Theater definitiv getrennt. - Allgemeinstes Kennzeichen des D. ist die unmittelbar im Dialog dargestellte, in Szene gesetzte Handlung, deren Verlauf von der spannungsvollen Entwicklung eines zeitnahen Konflikts bestimmt wird. Die Art und Weise, wie der Konflikt angelegt ist, bestimmt im Wesentlichen den ins Tragische oder ins Komische oder auch ins Absurde und Groteske weisenden Charakter eines Dramas. Dementsprechend werden D. nach dem Ausgang, den sie nehmen, in drei Hauptgattungen eingeteilt: die Tragödie, die mit dem Unterliegen des Helden im Konflikt endet, die Komödie, die die Verwicklung mit ironisch-satir. oder humorvoller Aufdeckung menschl. Schwächen löst, und das Schauspiel, das bei ernster Grundstimmung zu einer positiven Auflösung des Konfliktes führt; eine Sonderform ist die Tragikomödie. Neben diese Einteilung nach dem Ausgang des D. treten andere Möglichkeiten der Gliederung, so nach dem Aufbau: analyt. D. (wobei die Katastrophe vor Spielbeginn liegt und im Laufe der Handlung enthüllt wird; z. B. bei H. Ibsen) und Ziel-D. (das die Katastrophe an das Ende verlegt); ferner nach Ideengehalt, Konfliktursachen oder Stoffwahl. Im modernen D., in dem Konflikte auch häufig am Ende ungelöst bleiben, tritt das Moment der Spannung zurück. Dem heutigen Theater gelten alle Formen als spielbar, auch das eigentlich nicht für Aufführungen bestimmte Lesedrama.Die Lehre von Wesen, Wirkung und Formgesetzen des D. ging von der »Poetik« des Aristoteles mit ihren Aussagen über Wirkstruktur und Bauprinzipien der Tragödie (zentrale Begriffe waren »Mimesis«, später als Nachahmung gedeutet, und »Katharsis«, verstanden als »Reinigung« von Affekten) und der »Ars poetica« des Horaz aus; sie wurde vom frz. Klassizismus in strenger Form ausgeprägt. G. E. Lessing mit seiner »Hamburgischen Dramaturgie« (2 Bde., 1767-69; von hier der Begriff Dramaturgie für die Poetik des D.), D. Diderot, L.-S. Mercier und der Sturm-und-Drang-Dramatiker J. M. R. Lenz wirkten im Sinn einer Überwindung der klassizist. Verengung. Die dt. Klassik (Schiller) suchte nach neuen Normen, die im 19. Jh. wieder infrage gestellt wurden (F. Grillparzer, F. Hebbel, O. Ludwig). In der späteren Entwicklung überwiegen persönl. Zielsetzungen einzelner Autoren (H. Ibsen, B. Brecht, F. Dürrenmatt u. a.) oder wiss. Analysen.
Das D. baut sich herkömmlich nach spätantikem Muster aus fünf, häufig auch aus drei Akten auf, die in Szenen oder Auftritte eingeteilt sind. In neuester Zeit (so B. Brechts ep. Theater) wird oft eine lockere Szenen- und Bilderfolge bevorzugt, andererseits aber auch die Form des Einakters. Das von G. Freytag (1863) für die »Technik des D.« aufgestellte pyramidenförmige Schema der »steigenden« und »fallenden« Handlung mit Exposition (Ausgangssituation), erregendem Moment (Konfliktauslösung), Höhepunkt (Peripetie), Katastrophe (Auflösung) ist stets nur bedingt anwendbar gewesen. Die klass. frz. D.-Theorie mit ihrer - bes. von N. Boileau-Despréaux (»L'art poétique«, 1674) - formulierten Forderung nach strengster Einhaltung der drei Einheiten Zeit (Ablauf in etwa 24 Stunden), Ort, Handlung konnte sich nur z. T. auf Aristoteles berufen; dieser forderte nur die Einheit der Handlung; die Einheit der Zeit und des Ortes stellte er empirisch im grch. D. fest.Geschichte: Die Ursprünge des europ. D. liegen in der grch. Antike (Aischylos, Sophokles, Euripides, Komödie: Aristophanes, Menander u. a.). Das röm. D. (Lese-D. von Seneca, Komödien von Plautus und Terenz) ist stark durch das grch. beeinflusst. Das geistl. D. des MA. entstand aus der Erweiterung der Liturgie, zumal an hohen Festtagen durch Wechselgesänge und Responsorien, was schließlich zu szen. Darstellung des in lat. Sprache Gesungenen führte. Um die Wende vom 15. zum 16. Jh. führte im europ. Humanismus die Beschäftigung mit der Antike zur allmähl. Entstehung des neuzeitl. Dramas. Seine Vorformen liegen im lat. Humanisten-D. der Renaissance. Beeinflusst von diesem wie vom Fastnachtsspiel, entwickelte sich in den religiösen Kämpfen der Reformationszeit das protest. und kath. Schul-D. (T. Naogeorgus, P. Rebhun). Ein »goldenes Zeitalter« des D. entstand in Italien, Spanien, England und Frankreich durch den Umbruch vom MA. zur Neuzeit, aus der Spannung von christl. Transzendenz und renaissancehafter Diesseitsbejahung. In Italien bildete sich die an die Antike anknüpfende Renaissancekomödie (L. Aretino, N. Machiavelli, P. Aretino) und -tragödie (G. G. Trissino). Dazu trat im späten 16. Jh. das Schäferspiel (T. Tasso). Das span. D. verband volkstümlich-nat. Elemente mit humanist. (Lope de Vega, P. Calderón de la Barca, Tirso de Molina). Während die geistl. Spiele (Autos sacramentales), bes. Calderóns, kath.-kirchl. Themen behandeln, ist das weltl. D. vom Widerstreit der beiden Hauptwerte Liebe und Ehre beherrscht. Auch die Entwicklung des elisabethan. Theaters in England wird zunächst stark durch volkstüml. Elemente bestimmt, die sich bei C. Marlowe und v. a. W. Shakespeare mit den formalen und inhaltl. Traditionen des europ. Humanismus verbinden. Im Unterschied zum span. und engl. D. hat sich die »haute tragédie« der frz. Klassik, die in P. Corneille und J. Racine gipfelt, von allen volkstüml. Überlieferungen getrennt und im Sinne strenger Zeit- und Raumeinheit (»Regeln«) eine Stilisierung vollzogen. Gleichzeitig erreichte das frz. Lustspiel seinen Höhepunkt in der Charakter- und Typenkomödie Molières, der Elemente der volkstüml. Stegreifkomödie Italiens (Commedia dell'Arte) aufnahm. Das dt. D. gelangte bis Lessing über Vorstadien nicht hinaus: im 16. und 17. Jh. die unter dem Einfluss der engl. Komödianten entwickelten Haupt- und Staatsaktionen sowie das Jesuiten-D., ferner die Tragödien von A. Gryphius und D. C. von Lohenstein.Die bürgerlich-realist. Wendung des D. wurde in der frz. Rokoko- und Aufklärungskomödie mit der Comédie larmoyante vorbereitet (P. C. de Chamblain de Marivaux, P. C. Nivelle de La Chaussée); Werke von D. Diderot und P. A. de Beaumarchais machten das bürgerl. Leben bühnenfähig. In Italien entstanden im 18. Jh. Komödien (C. Goldoni), Märchenspiele (C. Gozzi) und vorromant. Tragödien (V. Alfieri). In England begründete G. Lillo die Gatt. des bürgerl. Trauerspiels. In Dtl. schuf Lessing mit »Miss Sara Sampson« (1755) in Anlehnung an G. Lillo den Typus des dt. bürgerl. Trauerspiels, in der »Minna von Barnhelm« (1767) den Typus des realistisch-psycholog. Charakterlustspiels, in »Nathan der Weise« (1779) den Typus des klass. Ideen- und Weltanschauungsdramas. Der Sturm und Drang forderte die Verachtung aller Kunstgesetze (F. M. Klinger, H. L. Wagner), bes. J. M. R. Lenz nahm sowohl in der Szenentechnik wie im realistisch-psycholog. Stil und im gesellschaftskrit. Gehalt spätere Entwicklungen vorweg. Zurückgreifend auf Lessing, auf Racine und Corneille sowie auf die att. Tragödie, schufen Goethe und Schiller das klass. dt. Drama. Den Rahmen dieses aus einer Synthese des grch. und des Shakespearetheaters geformten Modells sprengte Goethe im »Faust« (Tl. I 1808, Tl. II hg. 1832). Die teils ironisch-witzigen, teils märchenhaft-fantast. Versuche der Romantik (L. Tieck, C. Brentano, V. Hugo, A. de Musset) gelangten in Dtl. nur zum spielerisch-geistreichen Experiment oder zum lyrisch-epischen Buchdrama. Schon bei H. von Kleist wirkte eine neue Selbst- und Welterfahrung. Die weitere Entwicklung des D. im 19. Jh. enthüllte die wachsende Bedrohung des Menschen, der immer stärker zum Objekt einer übermächtigen Wirklichkeit wird (G. Büchner, C. D. Grabbe; mehr traditionsgebunden: F. Hebbel, F. Grillparzer). Dem Zeitgeschmack entsprachen die sentimentalen Familien-D. A. W. Ifflands und A. Kotzebues und die spätromant. Schicksalstragödien (Z. Werner), während das Wiener Volksstück (F. Raimund, J. N. Nestroy), aufbauend auf einer sich vom Barock herleitenden Tradition, elementare Spielformen aufnahm. - An die Stelle des hohen D. trat in der europ. Lit. neben das frz. und angelsächs. Konversationsstück (A. Dumas Fils, V. Sardou, E. Scribe) v. a. das sozialkrit., die bürgerl. Moral und Gesellschaftsordnung infrage stellende Problemstück: in Russland bei N. W. Gogol, L. N. Tolstoi, A. N. Ostrowski, A. P. Tschechow und M. Gorki; in Norwegen bei H. Ibsen und B. Bjørnson; in England bei O. Wilde und G. B. Shaw; in Schweden bei J. A. Strindberg.Der Naturalismus machte das D. zur Kopie der streng deterministisch verstandenen Wirklichkeit. Doch gelangte das naturalist. Milieu-D. durch G. Hauptmann zu starker Wirkung. Vorbereitet durch Strindberg und F. Wedekind, entwickelte sich schon vor dem 1. Weltkrieg das expressionist. D. in seiner gesellschaftskrit. (C. Sternheim, G. Kaiser, E. Toller) und seiner mystisch-religiösen Richtung (F. Werfel, E. Barlach). Etwa um 1910 setzte eine internat. Bewegung ein, die einerseits die Fixierung des Theaters an literar. Texte und andererseits die Darstellung eines Stücks »natürl.« Welt auf der Bühne (»Illusionismus«) infrage stellte. Gefordert wurde eine »Retheatralisierung des Theaters« (v. a. in Russland: J. B. Wachtangow, A. J. Tairow, W. E. Mejerchold, W. W. Majakowski). In Dtl. verband sich die experimentell-antiillusionist. Bewegung mit linkspolit. Tendenzen (E. Piscator); das D. wurde zum Agitationsinstrument und Lehrstück (B. Brecht).Nach dem Zweiten Weltkrieg brachte, ausgehend von Frankreich, das absurde Theater (bes. E. Ionesco, der sich auf das Muster L. Pirandellos berief, und der Ire S. Beckett) die Alternative zum engagierten Theater (J.-P. Sartre). Neue Formen der sozialkrit. Komödie entwickelten die Schweizer M. Frisch und F. Dürrenmatt. In England folgte auf eine kurze Phase des »poetischen Theaters« (T. S. Eliot, C. Fry; vorher in Spanien F. García Lorca, in Frankreich J. Giraudoux) eine Rückkehr zum Realismus mit aggressiver Haltung gegen die bürgerl. Konventionen (J. Osborne, H. Pinter, A. Wesker). In Amerika, wo E. O'Neill einen symbolist. Realismus begründet hatte (A. Miller, T. Williams, während T. Wilders experimentell-poet. Theater eher in Europa beachtet wurde), durchbrach E. Albee, ebenso wie zur gleichen Zeit E. Bond in England, die Konventionen des D. hin zum Harten, Grausamen. Auf der Linie des krit. Volksstücks, die Ö. von Horváth und Marie-Louise Fleißer gewiesen hatten, bewegt sich das österr. und süddt. moderne Dialektstück (W. Bauer, F. X. Kroetz). Anregungen für ein satirisch-parabol. Theater gingen von poln. (W. Gombrowicz, S. Mrożek) und tschech. Autoren (P. Kohout, V. Havel) aus. Weitere Tendenzen: Dokumentartheater (R. Hochhuth, P. Weiss u. a.), sprachexperimentelles Theater (P. Handke).
Literatur:
R. Grimm, Dt. Dramentheorien, hg. v. 2 Bde. Wiesbaden 31980-81.
Einführung ins D., Beiträge v. N. Greiner u. a., 2 Bde. München 1982.
Meyer, Reinhart: Bibliographia dramatica et dramaticorum, auf zahlr. Bde. in mehreren Abteilungen ber. Tübingen 1986 ff.
Hensel, G.: Spielplan. Der Schauspielführer von der Antike bis zur Gegenwart, 2 Bde. Neuausg. München 1992.
Klotz, V.: Geschlossene u. offene Form im D. München 131992.
Bürgerlichkeit im Umbruch. Studien zum deutschsprachigen D. 1750-1800, hg. v. H. Koopmann. Tübingen 1993.
Hoefert, S.: Das D. des Naturalismus. Stuttgart u. a. 41993.
Asmuth, B.: Einführung in die Dramenanalyse. Stuttgart u. a. 41994.
D. u. Theater der europ. Avantgarde, hg. v. F. N. Mennemeier u. E. Fischer-Lichte. Tübingen u. a. 1994.
Platz-Waury, E.: D. u. Theater. Eine Einführung. Tübingen 41994.
Szondi, P.: Theorie des modernen D. 1880-1950. Frankfurt am Main 221996.
II Drama
['ȓrama], Hptst. des Verw.gebietes D. in O-Makedonien, Griechenland, 36 100 Ew.; orth. Bischofssitz; Zentrum eines Tabakanbaugebietes.
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