Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
chinesische Literatur
chinesische Literatur[ç-]. Die seit dem 1. Jt. v. Chr. existierende c. L. ist durch die ideograph. Schrift vorgeprägt, die ihre Isoliertheit gegenüber anderen Literaturen noch verstärkte. Die Unabhängigkeit der Schrift von der Lautentwicklung verlieh der Literatur aber auch eine ungewöhnl. Einheitlichkeit in Raum und Zeit. Sie konnte (und kann) nicht nur von allen Dialektgruppen gelesen werden, die sich mündlich nicht miteinander verständigen können, sondern weitgehend auch von Angehörigen fremder Nationen (Japan, Korea, Vietnam), die die chines. Schrift übernommen hatten. Die schriftsprachl. Literatur wurde eingeteilt in (konfuzianische) »Kanonische Schriften«, »Geschichtsschreibung«, »Fachschriftsteller« (darunter auch Werke zur Philosophie) und »Sammlungen« (darunter die Werke der »schönen Literatur«). Die Kanonischen Schriften bieten einen Querschnitt durch das Schrifttum des 7.-3. Jh. v. Chr.: 1) »Yijing« (I-ching; Buch der Wandlungen), ein Orakelbuch, das durch spätere Kommentare Grundlage unzähliger philosoph. und pseudonaturwiss. Lehren wurde; 2) »Shujing« (Shu-ching; Buch der Urkunden), eine Sammlung rituell-histor. Dokumente; 3) »Shijing« (Shih-ching; Buch der Lieder), eine Kompilation von Hof- und Volksliedern; 4) »Liji« (Li-chi; Buch der Sitte), Ritualtraktate; 5) »Chun-qiu« (Ch'un-ch'iu; Frühlings- und Herbstannalen), eine Konfuzius selbst zugeschriebene Chronik, die durch Auswahl und Wortgebung moral. Geschichtskritik geübt haben soll. Diese urspr. »Fünf Klassiker« wurden später auf bis zu 13 Werke gebracht, unter denen die »Vier Bücher« bedeutsam waren, die u. a. das »Lunyu« (Lun-yü; Gespräche des Konfuzius) und »Mengzi« (Meng-tzu; Lehren des [Philosophen] Mengzi) enthielten. Aus der sich verselbstständigenden Beschäftigung mit den »Kanonischen Schriften« erwuchs eine reiche philolog. Literatur, die bes. seit dem 17. Jh. auch in der Textkritik Hervorragendes leistete.Ebenfalls mit den »Kanonischen Schriften« verbunden war großenteils die philosoph. Literatur. Ihren Höhepunkt fand die philosoph. Literatur, die von der praktisch-wiss. terminologisch nie ganz getrennt war und daher auch Mathematik, Landwirtschaft, Kriegskunst, Medizin u. a. mit einschloss, im 5.-3. Jh. v. Chr. und im 11.-13. Jh. n. Chr. Besondere Vollendung erlangte in der wiss. Literatur der Essay. Die umfangreiche buddhist. Literatur hatte ihre Blütezeit im 4.-9. Jh.Von zentraler Bedeutung ist die histor. Literatur, die nicht aus Epen erwuchs, sondern seit dem 5. Jh. v. Chr. aus Anekdotensammlungen und Chroniken. Neben den offiziellen »Dynastiegeschichten« gibt es eine Fülle von privaten Geschichtsaufzeichnungen. In ihnen wurden großenteils auch jurist., geograph., wirtsch. u. a. Fragen abgehandelt. Der Zug zum Historischen ist auch im gesamten erzählenden Schrifttum spürbar, selbst noch in Märchen und Legenden. Viele der Hauptmotive - Helden- und Liebesabenteuer mit übernatürl. Einlagen - wanderten zw. dem Medium der Schrift- und Umgangssprache hin und her, wobei die Novelle und Kurzgeschichte v. a. in der Schriftsprache (z. B. im »Liaozhai zhiyi« [Liao chai chih-i] des Pu Songling [P'u Sung-Ling; * 1640, ✝ 1715]), der Roman in der Umgangssprache einen vollendeten Ausdruck fanden (z. B. »Shuihu zhuan« [Shui-hu-chuan], dt. »Die Räuber vom Liang Schan Moor«, 14./15. Jh.; »Jinpingmei« [Chin-p'ing-mei] = Pflaumenblüte in goldener Vase), 16. Jh.; »Hongloumeng« [Hong-lou-meng], dt. »Der Traum der Roten Kammer«, 18. Jh.). Der urspr. vorwiegend mündl. Vortrag der umgangssprachl. Romane und Novellen rückte sie auch inhaltlich in die Nähe des Dramas. Die moderne Erzählliteratur brachte neben beachtl. Romanen v. a. hervorragende Kurzgeschichten hervor (Lu Xun [Lu Hsün], * 1881, ✝ 1936).Das Gegengewicht zum stark histor. Element in der Prosa stellt die umfangreiche, sehr verzweigte lyr. Literatur dar, in der das Naturerlebnis eine wesentl. Rolle spielt. Die im 2. Jh. v. Chr. kompilierten »Chuci« (Ch'u-tz'u; Elegien von Chu) lieferten das Vorbild für eine relativ freie Prosadichtung. In der gleichen Zeit wurden auch volkstüml. Balladen und Romanzen gesammelt, die meist ein 5-Wort-Metrum einhielten. Wenig später entwickelte sich wahrscheinlich daraus das »regelmäßige Gedicht«, das seit dem 7. Jh. einem 7-Wort-Metrum folgte. Schon von den berühmtesten Dichtern (Li Bo [Li T'ai-po], Du Fu [Tu Fu], Wang Wei, Bo Juyi [Po Chü-i], 8. und 9. Jh.) verwendet, stellte es bis in die Gegenwart hinein die beliebteste Gedichtform dar. Im 10. Jh. trat hierzu das Kunstgedicht Ci (Tz'u), bei dem die Texte nach der komplizierten Metrik vorliegender (seither größtenteils verlorener) Melodien geschrieben wurden. In der Qing-Zeit wurden umfangreiche Bestandsaufnahmen des klass. Schrifttums vorgenommen, dabei aber auch die als häretisch bewerteten Schriften des Buddhismus und Daoismus sowie die umgangssprachl. Literatur ausgeschieden, die trotzdem eine Blüte erlebte (Romanliteratur). Die polit. Revolution 1911/12 zog die literar. nach sich. Angeführt von Hu Shi (Hu Shih, * 1891, ✝ 1962) und Lu Xun forderten die fortschrittl. Literaten den totalen Bruch mit der dogmat. literar. Tradition, insbesondere eine verständl. Umgangssprache (Baihua [Pai-hua]) statt der nur Gelehrten zugängl. klass. Literatursprache (Wenyan [Wen-yen]). Dies forderten u. a. auch Ba Jin (Pa Chin, * 1904), Lao She (* 1899, ✝ 1966) und v. a. der Historiker und Literat Guo Moruo (Kuo Mo-jo, * 1892, ✝ 1978), der wie Lu Xun europ. Lit. übersetzte. In den Gedichten und Liedern Mao Zedongs (Mao Tse-tung, * 1893, ✝ 1976) im klass. Stil fand eine Synthese von literar. Erbe und revolutionärem Gedankengut statt. Die zeitgenöss. Literatur stand im Geist der Reden in Yan'an (Mao Zedong, 1942) mit Richtlinien für eine sozialistisch-realist. Literatur. Nach der Gründung der VR China 1949 wurden die meisten prominenten Schriftsteller mit Schreibverbot belegt (v. a. während der Kulturrevolution (1966-69). Auf dem Gebiet des Dramas wurde während der Kulturrevolution die alte Pekingoper zu einer Kunstform mit revolutionärem und propagandist. Inhalt umgestaltet. Seit dem Sturz der »Viererbande« 1976 wurden fast alle verfemten Schriftsteller (z. T. postum) rehabilitiert, und es begann eine intensive Beschäftigung mit der eigenen klass. und mit der westl. Literatur. Die Niederschlagung der Proteste junger Intellektueller in Peking und anderen chines. Städten am 4. 6. 1989 führte einerseits zu einer Exilliteratur (durch die Flucht zahlreicher Schriftsteller), andererseits verbreitete sich im Land eine »Reportageliteratur«, die verdeckt Gesellschaftskritik äußerte und ihren Autoren oft Verfolgungen eintrug. Ferner ist eine deutliche Hinwendung zur reinen Unterhaltungsliteratur zu beobachten.
Literatur:
Feifel, E.: Geschichte der c. L. Darmstadt 41982.
Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, hg. v. K. von See u. a., Bd. 23: Ostasiat. Literaturen, hg. v. G. Debon. Wiesbaden 1984.
Moderne c. L., hg. v. W. Kubin. Frankfurt am Main 1985.
A selective guide to Chinese literature, 4 Bde. Leiden 1988-90.
Bauer, W.: Das Antlitz Chinas. Die autobiograph. Selbstdarstellung in der c. L. von ihren Anfängen bis heute. München u. a. 1990.
Schmidt-Glintzer, H.: Geschichte der c. L. Bern 1990.
Feifel, E.: Bibliographie zur Geschichte der c. L. Hildesheim 1992.
Modern chinese writers. Self-portrayals, hg. v. H. Martin. Armonk, N. Y., 1992.
Martin, H.: Chinabilder, Bde. 1 u. 2. Dortmund 1996.
Idema, W. u. Haft, L.: A guide to Chinese literature. A. d. Niederländ. Ann Arbor, Mich., 1997.
Holzman, D.: Chinese literature in transition from antiquity to the Middle Ages. Aldershot 1998.
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