Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Christentum
Chrịstentum[k-], Bez. für die Gesamtheit der Anhänger des auf Jesus Christus zurückgehenden »christl.« Glaubens sowie für diesen Glauben selbst.
Von den Anfängen des C.s an gibt es Konstanten: den Monotheismus, das Bekenntnis zu Jesus Christus, die Nachfolge Jesu und eine aus ihr resultierende Gemeinschaft (Gemeinde/Kirche), einige zeichenhafte Vollzüge (Sakramente; v. a. Taufe, Eucharistie, Buße), spezif. eth. Normen (z. B. Nächstenliebe), die Hoffnung auf eine ohne Vorbedingungen geschenkte Erlösung.
Seit seiner Entstehung begreift das C. Jesus als von Gott gesandt, schon in vorpaulin. Zeit als auf Erden erschienenen Gott (Phil. 2, 6-11) oder als Fleisch gewordenes »Wort« (Joh. 1, 1 ff.) und sich selbst somit als basierend auf göttl. Offenbarung und positivem Heilswillen Gottes (Offenbarungsreligion, »absolute Religion«). Entstehung und Ausbreitung:
Als sicher gilt heute, dass der histor. Jesus weder eine neue Religion noch eine universale Kirche gründen wollte. Vielmehr verstand er sich als Reformer Israels, auf dessen 12 Stämme er mit der Berufung von 12 Aposteln Anspruch erhob. Jesus war zwar in allem, was er tat und lehrte, jüdisch geprägt, aber er hat die aus der jüd. Tradition übernommenen Motive in seiner Predigt so verändert und zugespitzt, dass es sich dabei der Sache nach nicht mehr um Judentum handelte: Er verkündete - entsprechend der jüd. Apokalyptik und im Gefolge der Predigt Johannes des Täufers - die Königsherrschaft Gottes; diese aber war nach seinen Worten in ihm schon angebrochen. So war die Zukunftsoffenheit der jüd. Geschichtsdeutung aufgehoben, das Ende hatte schon begonnen. Jesus selbst verstand sich deswegen nicht als einen der gottgesandten Männer oder Propheten in einer endlosen Kette, vielmehr sollte er diese Reihe abschließen und in seiner Person das Ende herbeiführen. Dieser Anspruch, die »endzeitl.« Gestalt zu sein, äußerte sich in der Radikalität der Nachfolgeansprüche, in der Souveränität gegenüber Gesetz und Tempel, in dem besonderen Gottesverhältnis, in der Freiheit der Tradition gegenüber, in seiner Bereitschaft zum Tod.
Der geschichtl. Jesus hat, zwar ganz aus dem Judentum kommend, dieses aber derart auf »den Menschen« und »die Humanität« hin vertieft und zugleich seiner eigenen Gestalt für diese neue Praxis eine so unverzichtbare Rolle zugeschrieben, dass die auch ideolog. und soziale Trennung vom Judentum und die Ausbildung einer eigenständigen Religion wenige Jahre nach seinem Tod zwangsläufig erscheinen.Keimzelle des C. waren die Jerusalemer Urgemeinde, aber auch palästinische Christengruppen in Judäa und Galiläa. Bedingt durch das Ausweichen der Christen vor Verfolgungen durch die jüd. und röm. Behörden, kam es zu einer ersten Missionswelle und in deren Gefolge zur Taufe von Samaritanern, Diasporajuden, Proselyten und Heiden. Einen gewaltigen Aufschwung nahm die Ausbreitung des C. allerdings erst durch die gezielte Arbeit einiger Missionare (»Apostel«), unter denen Paulus die größte Bedeutung gewinnen konnte (Heidenmission). Begünstigt durch die Bedingungen des Röm. Reiches, drang das C. auch in Städte des Landesinnern und bis nach England vor und repräsentierte zur Zeit der »konstantin. Wende« (311/313) im Röm. Reich einen (geschätzten) Bevölkerungsanteil von etwa 15 %; während der Antike tritt uns das C. als Stadtreligion entgegen.
Die (zunehmend auch Vertreter der gesellschaftl. Oberschicht umfassende) christl. Bewegung wuchs so stark, dass Kaiser Konstantin I., d. Gr., in der christl. Minderheit die geistige und polit. Kraft der Zukunft erkennen konnte. Nach der »konstantin. Wende« nahm die Zahl der Christen rasch zu, bis Kaiser Theodosius I., d. Gr. 380/381 das C. zur Staatsreligion erklärte.
Während sich das Griechisch sprechende (christl.) oström. Kaisertum (Byzantinisches Reich) auch in den Wirren der Völkerwanderung behaupten und dabei ein Staatskirchentum (Cäsaropapismus) etablieren konnte - erst mit dem Vordringen des Islams (ab dem 7. Jh.) verschwand das C. in diesen Gebieten weitgehend -, wurde der lat. Westen des Röm. Reiches stärker von der Völkerwanderung in Mitleidenschaft gezogen; 476 geriet Rom endgültig unter german. Herrschaft. Die Germanenstämme haben nach der Eroberung christl. Gebiete weitgehend das C. angenommen, aber in seiner arian. Gestalt (Arianismus). Erst in der Taufe des fränk. Königs Chlodwig I. 498/499 in Reims zum kath. Glauben war eine für die Zukunft Europas wichtige Entscheidung gefallen; von jetzt an konnte sich die lat. Form des antiken C. zunehmend unter den german. Stämmen Zentraleuropas verbreiten (lateinische Kirche).Vorher aber hatte schon eine andere Entwicklung begonnen: Von ägypt. Mönchen war das C. nach Irland gebracht worden; hier sowie in Schottland und Wales bildete sich eine keltisch-grch. Mönchskirche (iroschottische Kirche), die aber von Gallien her auch lat. Einflüsse in sich aufnahm. Seit dem 6. Jh. entfaltete das iroschott. Mönchtum eine beeindruckende missionar. Tätigkeit in England und auf dem Festland (bis nach Oberitalien). So gab es bald in Europa zwei konkurrierende Formen des C.: eine lat.-bischöfl. und eine keltisch/griechisch-monastische. Die Entscheidung fiel zugunsten der ersten Variante, zum einen aufgrund der seit Chlodwig nach Rom orientierten Interessen der fränk. Herrscher, die schließlich im Jahre 800 zur Krönung Karls d. Gr. als Röm. Kaiser führten, zum anderen wegen einer zweiten Missionswelle im 8. Jh., die von angelsächs. Mönchen (Bonifatius) getragen war und die sich eng an Rom anschloss. Die Christianisierung erfasste schließlich auch den Norden und die östl. Teile Zentraleuropas.
Die islam. Expansion im 7./9. Jh. brachte das C. in Nordafrika und weiten Teilen Spaniens zum Verschwinden; erst nach jahrhundertelangen Kämpfen (Reconquista) wurde der Islam von der iber. Halbinsel verdrängt.
Der größte Teil der slaw. Völker wurde vom 9. bis 11. Jh. missioniert und lehnte sich an Byzanz und das grch. C. an.Mit Beginn der Neuzeit geriet erstmals die ganze Erde in den Blick Europas und des C., das nun in anderen Kontinenten Fuß fasste. Dieser Prozess ging einher mit negativen Begleiterscheinungen: Lange Zeit war die Mission Sache der Kolonialmächte (z. B. Patronatsmission der span. und portugies. Könige), in Amerika und Australien war die (völlige) Christianisierung mit der Dezimierung der einheim. Bevölkerung verbunden und auch in Afrika und Asien wurde das C. in seiner durch die europ. Kultur geprägten Form etabliert (Ritenstreit). Im Ergebnis dieser systemat. Mission gibt es in Schwarzafrika einige Länder mit christl. Bevölkerungsmehrheiten, in den meisten Staaten sehr dynam. Minoritäten. In Asien ist nur ein Land (Philippinen) mehrheitlich christlich, aber auch hier finden sich in beinahe allen Staaten kleine, aber aktive christl. Kirchen. Die Inselwelt Ozeaniens ist fast gänzlich christianisiert.Die Zahl der Christen weltweit bewegt sich heute (1999) auf 1,9 Mrd. zu Kirche an, rd. 20 % prot. Kirchen, rd. 12 % der orth. Kirche und den oriental. Nationalkirchen, rd. 4 % anglikan. Kirchen, die übrigen verteilen sich auf eine eine Vielzahl, oft pfingstlich geprägter unabhängiger Kirchen (v. a. in Afrika); rd. 60 % der Christen leben in der Dritten Welt die Pfingstkirchen den gegenwärtig am stärksten wachsenden Zweig des C. bilden.Theologie und Lehrentwicklung.Das C. bekannte sich von Anfang an zu Jesus Christus als der normierenden Instanz für Theorie und Praxis; deswegen musste es sich vom Judentum trennen und die »Freiheit vom Gesetz« verkünden, ohne die jüd. Religion und ihre Schriften zu verwerfen; diese wurden vielmehr als Vorgeschichte Jesu im Sinne einer Verheißung aufgefasst, die in Jesus Christus erfüllt war.
Das Christusbekenntnis zu sichern und unter neuen Verstehensbedingungen zu formulieren, war für das junge C. die zentrale theolog. Aufgabe. Hierbei war es mit zwei großen Kulturtraditionen konfrontiert, dem Judentum und der hellenist. Kultur des Röm. Reiches. Entsprechend dem Geschichtsdenken des Judentums haben die Judenchristen die Rolle Jesu heilsgeschichtlich umschrieben: Er war für sie der (endzeitl.) Messias (= Christus) oder Menschensohn; vielleicht haben sie ihn auch schon als »Sohn Gottes« bezeichnet, damit aber nicht eine zweite Natur, sondern seine geschichtl. Nähe zu Gott gemeint. Mit der Vermittlung des C. in die hellenist. Welt fand auch das hellenistische philosoph. Denken Eingang ins C. Für die Heidenchristen war Christus derjenige, der beiden Welten angehört, der Welt des Geistes, des Wissens, der Unsterblichkeit, Gottes, und zugleich der Welt der Menschen; er ist Mensch. So kann er als Gottmensch in sich zw. Endlichkeit und Unendlichkeit vermitteln: Die Zweinaturenlehre entstand als Folge der Aneignung Jesu im hellenist. Raum. Im Verlauf der ersten nachchristl. Jahrhunderte trat das Judenchristentum in der Kirche immer stärker zurück.
Wenn die Gottessohnschaft Jesu im Sinne einer zweiten göttl. Natur aufgefasst wurde, ergab sich damit auch ein Problem für den vom Judentum und Jesus ererbten Monotheismus. Die christolog. Auseinandersetzung machte zugleich eine Diskussion der Trinität notwendig.
Der lat. Westen war an diesen Auseinandersetzungen nur wenig beteiligt. Sobald sich in diesem Raum eine eigenständige Theologie herausbildete - in Nordafrika seit etwa 200, im übrigen Westen seit Mitte des 4. Jh. -, beschäftigte sie sich mit Fragen der christl. Praxis: Wie erlangt der Mensch das Heil, da er doch ganz von der Sünde geprägt ist? Was muss der Christ tun, wie muss die Kirche aussehen? So kam es in der ausgehenden Antike zur Ausbildung der Lehre von der Erbsünde und einer Gnaden-, Prädestinations- und Sakramentenlehre.
Die Annahme des Glaubens war von Anfang an mit einer Gemeindebildung verbunden. Ebenso aber war das Bewusstsein vorhanden, einer größeren Gemeinschaft, der Kirche, zuzugehören. Der gemeindeübergreifende Charakter des C.s schuf sich im Lauf der Zeit auch institutionellen Ausdruck; es bildete sich eine Organisation der Kirche in Analogie zur polit. Struktur heraus (bischöfl. Stadtgemeinden, Metropolitansitze, Patriarchate). Seit Ende des 4. Jh. erhoben die röm. Bischöfe einen formellen Primatsanspruch über die gesamte Kirche (Primat des Papstes). Dieser Anspruch wurde allerdings im östl. C. abgelehnt; im Westen konnte er sich erst allmählich während des Früh-MA. durchsetzen. - Eine wichtige Rolle kam seit dem 3. Jh. dem Mönchtum zu.
Das C. konnte sich - wenn auch in einer oft feindlich gestimmten Umwelt - bis zur Mitte des 3. Jh. ausbreiten. Erst seit dieser Zeit kam es zu systemat. Verfolgungen durch den Staat, die der Kirche gefährlich wurden (Christenverfolgungen). Diese Epoche fand mit Beginn der Herrschaft Konstantins I., d. Gr., ihren Abschluss.Mittelalter: Im MA. verlagerte sich das Zentrum christl. Aktivitäten auf das ländlich strukturierte europ. Festland. Theologie und theolog. Lehrbildung waren nicht mehr Sache der (großen) christl. Gemeinden, sondern der Schule (lat. schola): Die entstehende Schulwissenschaft (Scholastik) wurde an Kloster- und Kathedralschulen, seit dem Hoch-MA. an den Univ. gepflegt.
Die mittelalterl. Gesellschaft bildete das Feudalsystem aus, das mit dem Zusammenwachsen zu einer unversalen Kultur in einem universalen Kaisertum und Papsttum gipfelte. Welt, Mensch, Gesellschaft und ihre Institutionen wurden zunächst sakral gedeutet. Angestoßen durch Reformbewegungen innerhalb des Mönchtums (kluniazensische Reform), versuchte die Kirche, eine gewisse Unabhängigkeit von staatl. Gewalt zu erreichen (gregorianische Reform); im Zusammenhang des Investitutstreits wurde die Frage der Autonomie beider Bereiche erstmals grundsätzlich erörtert. Hiermit war der Grund gelegt für den spätmittelalterl. Zerfall der universalen polit. Kultur: Nationalstaaten verfolgten eigene Interessen, die Ideen der Volkssouveränität und der Freiheit der Politik von der Ethik kamen auf, die Wiss.en emanzipierten sich und die Theologie verlor nach und nach ihren bisherigen Primat im universitären Wiss.betrieb.Neuzeit: Die Neuzeit brachte den prinzipiellen Durchbruch der Emanzipation des Menschen und seines Intellekts von vorgegebenen Autoritäten und kirchl. Tradition. Vollends vollzogen wurden diese Ansätze erst in den Gelehrtenzirkeln der Aufklärung und - popularisiert - in Bürgertum und Arbeiterschaft der Moderne (seit dem 19. Jh.).
Die Reformation wollte für die Rechtfertigung des Einzelnen nur noch die Autorität Gottes und Jesu Christi anerkennen und somit den Christen von der Heilsnotwendigkeit der kirchl. Zwischeninstanzen, von Amt, Tradition und Heilsangeboten der Kirche befreien; hierbei setzten die einzelnen Reformatoren verschiedene Schwerpunkte. Im Gegenzug banden sich die Katholiken - ohne die Rechtfertigung durch Jesus Christus und seine Gnade aufzugeben - fester an die überlieferten kirchl. Gegebenheiten (vollzogen im Tridentinum 1545-63). Die Neuzeit begann für das C. also mit einem Verlust seiner kirchl. Einheit; von jetzt an ist es, neben dem Morgenländischen Schisma (die auf das Jahr 1054 datierte Trennung zw. der lateinisch abendländ. [kath.] Kirche und den vier ostkirchl. Patriarchaten [Konstantinopel, Alexandria, Antiochia, Jerusalem]), in eine Fülle von Konfessionen, Kirchen u. a. aufgesplittert.
Das C. in der Moderne ist mit einem radikalen Säkularisierungsprozess konfrontiert, der sich nach Anfängen im MA. in der Aufklärung verstärkte und schließlich seit dem 19. Jh. dominierend wurde. Die Orientierung des modernen Menschen auf Gott hin wird problematisch.
Die mit der Entstehung der modernen Industriegesellschaften aufgeworfene soziale Frage wurde von den Kirchen u. a. in Form der christl. Soziallehren aufgegriffen.Gegenwärtige Lage: In der Gegenwart setzt sich das C. v. a. mit drei Problemen auseinander. Zum einen geht es um eine Überwindung des Konfessionalismus (ökumenische Bewegung). Ein weiteres Problem ist die Auseinandersetzung mit dem in der Alten und Neuen Welt verbreiteten säkularisierten Denken. Das dritte Problem stellt sich durch die Tatsache, dass eine wachsende Mehrheit der Christen in der Dritten Welt lebt. Hier steht der Dialog mit den Weltreligionen an, ebenso eine Neubesinnung auf das Verhältnis zum Judentum.
▣ Literatur:
Bultmann, R.: Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen. Zürich u. a. 41976.
⃟ Maass, F.: Was ist C.? Tübingen 31982.
⃟ Troeltsch, E.: Die Absolutheit des C.s u. die Religionsgeschichte. Lizenzausg. Gütersloh 21985.
⃟ Das frühe C. bis zum Ende der Verfolgungen. Eine Dokumentation. Auswahl u. Kommentar v. R. Klein, Übers. der Texte v. P. Guyot, 2 Bde. Darmstadt 1993-94. Nachdr. in 1 Bd. ebd. 1997.
⃟ Küng, Hans: Projekt Weltethos. Neuausg. München u. a. 21993.
Von den Anfängen des C.s an gibt es Konstanten: den Monotheismus, das Bekenntnis zu Jesus Christus, die Nachfolge Jesu und eine aus ihr resultierende Gemeinschaft (Gemeinde/Kirche), einige zeichenhafte Vollzüge (Sakramente; v. a. Taufe, Eucharistie, Buße), spezif. eth. Normen (z. B. Nächstenliebe), die Hoffnung auf eine ohne Vorbedingungen geschenkte Erlösung.
Seit seiner Entstehung begreift das C. Jesus als von Gott gesandt, schon in vorpaulin. Zeit als auf Erden erschienenen Gott (Phil. 2, 6-11) oder als Fleisch gewordenes »Wort« (Joh. 1, 1 ff.) und sich selbst somit als basierend auf göttl. Offenbarung und positivem Heilswillen Gottes (Offenbarungsreligion, »absolute Religion«). Entstehung und Ausbreitung:
Als sicher gilt heute, dass der histor. Jesus weder eine neue Religion noch eine universale Kirche gründen wollte. Vielmehr verstand er sich als Reformer Israels, auf dessen 12 Stämme er mit der Berufung von 12 Aposteln Anspruch erhob. Jesus war zwar in allem, was er tat und lehrte, jüdisch geprägt, aber er hat die aus der jüd. Tradition übernommenen Motive in seiner Predigt so verändert und zugespitzt, dass es sich dabei der Sache nach nicht mehr um Judentum handelte: Er verkündete - entsprechend der jüd. Apokalyptik und im Gefolge der Predigt Johannes des Täufers - die Königsherrschaft Gottes; diese aber war nach seinen Worten in ihm schon angebrochen. So war die Zukunftsoffenheit der jüd. Geschichtsdeutung aufgehoben, das Ende hatte schon begonnen. Jesus selbst verstand sich deswegen nicht als einen der gottgesandten Männer oder Propheten in einer endlosen Kette, vielmehr sollte er diese Reihe abschließen und in seiner Person das Ende herbeiführen. Dieser Anspruch, die »endzeitl.« Gestalt zu sein, äußerte sich in der Radikalität der Nachfolgeansprüche, in der Souveränität gegenüber Gesetz und Tempel, in dem besonderen Gottesverhältnis, in der Freiheit der Tradition gegenüber, in seiner Bereitschaft zum Tod.
Der geschichtl. Jesus hat, zwar ganz aus dem Judentum kommend, dieses aber derart auf »den Menschen« und »die Humanität« hin vertieft und zugleich seiner eigenen Gestalt für diese neue Praxis eine so unverzichtbare Rolle zugeschrieben, dass die auch ideolog. und soziale Trennung vom Judentum und die Ausbildung einer eigenständigen Religion wenige Jahre nach seinem Tod zwangsläufig erscheinen.Keimzelle des C. waren die Jerusalemer Urgemeinde, aber auch palästinische Christengruppen in Judäa und Galiläa. Bedingt durch das Ausweichen der Christen vor Verfolgungen durch die jüd. und röm. Behörden, kam es zu einer ersten Missionswelle und in deren Gefolge zur Taufe von Samaritanern, Diasporajuden, Proselyten und Heiden. Einen gewaltigen Aufschwung nahm die Ausbreitung des C. allerdings erst durch die gezielte Arbeit einiger Missionare (»Apostel«), unter denen Paulus die größte Bedeutung gewinnen konnte (Heidenmission). Begünstigt durch die Bedingungen des Röm. Reiches, drang das C. auch in Städte des Landesinnern und bis nach England vor und repräsentierte zur Zeit der »konstantin. Wende« (311/313) im Röm. Reich einen (geschätzten) Bevölkerungsanteil von etwa 15 %; während der Antike tritt uns das C. als Stadtreligion entgegen.
Die (zunehmend auch Vertreter der gesellschaftl. Oberschicht umfassende) christl. Bewegung wuchs so stark, dass Kaiser Konstantin I., d. Gr., in der christl. Minderheit die geistige und polit. Kraft der Zukunft erkennen konnte. Nach der »konstantin. Wende« nahm die Zahl der Christen rasch zu, bis Kaiser Theodosius I., d. Gr. 380/381 das C. zur Staatsreligion erklärte.
Während sich das Griechisch sprechende (christl.) oström. Kaisertum (Byzantinisches Reich) auch in den Wirren der Völkerwanderung behaupten und dabei ein Staatskirchentum (Cäsaropapismus) etablieren konnte - erst mit dem Vordringen des Islams (ab dem 7. Jh.) verschwand das C. in diesen Gebieten weitgehend -, wurde der lat. Westen des Röm. Reiches stärker von der Völkerwanderung in Mitleidenschaft gezogen; 476 geriet Rom endgültig unter german. Herrschaft. Die Germanenstämme haben nach der Eroberung christl. Gebiete weitgehend das C. angenommen, aber in seiner arian. Gestalt (Arianismus). Erst in der Taufe des fränk. Königs Chlodwig I. 498/499 in Reims zum kath. Glauben war eine für die Zukunft Europas wichtige Entscheidung gefallen; von jetzt an konnte sich die lat. Form des antiken C. zunehmend unter den german. Stämmen Zentraleuropas verbreiten (lateinische Kirche).Vorher aber hatte schon eine andere Entwicklung begonnen: Von ägypt. Mönchen war das C. nach Irland gebracht worden; hier sowie in Schottland und Wales bildete sich eine keltisch-grch. Mönchskirche (iroschottische Kirche), die aber von Gallien her auch lat. Einflüsse in sich aufnahm. Seit dem 6. Jh. entfaltete das iroschott. Mönchtum eine beeindruckende missionar. Tätigkeit in England und auf dem Festland (bis nach Oberitalien). So gab es bald in Europa zwei konkurrierende Formen des C.: eine lat.-bischöfl. und eine keltisch/griechisch-monastische. Die Entscheidung fiel zugunsten der ersten Variante, zum einen aufgrund der seit Chlodwig nach Rom orientierten Interessen der fränk. Herrscher, die schließlich im Jahre 800 zur Krönung Karls d. Gr. als Röm. Kaiser führten, zum anderen wegen einer zweiten Missionswelle im 8. Jh., die von angelsächs. Mönchen (Bonifatius) getragen war und die sich eng an Rom anschloss. Die Christianisierung erfasste schließlich auch den Norden und die östl. Teile Zentraleuropas.
Die islam. Expansion im 7./9. Jh. brachte das C. in Nordafrika und weiten Teilen Spaniens zum Verschwinden; erst nach jahrhundertelangen Kämpfen (Reconquista) wurde der Islam von der iber. Halbinsel verdrängt.
Der größte Teil der slaw. Völker wurde vom 9. bis 11. Jh. missioniert und lehnte sich an Byzanz und das grch. C. an.Mit Beginn der Neuzeit geriet erstmals die ganze Erde in den Blick Europas und des C., das nun in anderen Kontinenten Fuß fasste. Dieser Prozess ging einher mit negativen Begleiterscheinungen: Lange Zeit war die Mission Sache der Kolonialmächte (z. B. Patronatsmission der span. und portugies. Könige), in Amerika und Australien war die (völlige) Christianisierung mit der Dezimierung der einheim. Bevölkerung verbunden und auch in Afrika und Asien wurde das C. in seiner durch die europ. Kultur geprägten Form etabliert (Ritenstreit). Im Ergebnis dieser systemat. Mission gibt es in Schwarzafrika einige Länder mit christl. Bevölkerungsmehrheiten, in den meisten Staaten sehr dynam. Minoritäten. In Asien ist nur ein Land (Philippinen) mehrheitlich christlich, aber auch hier finden sich in beinahe allen Staaten kleine, aber aktive christl. Kirchen. Die Inselwelt Ozeaniens ist fast gänzlich christianisiert.Die Zahl der Christen weltweit bewegt sich heute (1999) auf 1,9 Mrd. zu Kirche an, rd. 20 % prot. Kirchen, rd. 12 % der orth. Kirche und den oriental. Nationalkirchen, rd. 4 % anglikan. Kirchen, die übrigen verteilen sich auf eine eine Vielzahl, oft pfingstlich geprägter unabhängiger Kirchen (v. a. in Afrika); rd. 60 % der Christen leben in der Dritten Welt die Pfingstkirchen den gegenwärtig am stärksten wachsenden Zweig des C. bilden.Theologie und Lehrentwicklung.Das C. bekannte sich von Anfang an zu Jesus Christus als der normierenden Instanz für Theorie und Praxis; deswegen musste es sich vom Judentum trennen und die »Freiheit vom Gesetz« verkünden, ohne die jüd. Religion und ihre Schriften zu verwerfen; diese wurden vielmehr als Vorgeschichte Jesu im Sinne einer Verheißung aufgefasst, die in Jesus Christus erfüllt war.
Das Christusbekenntnis zu sichern und unter neuen Verstehensbedingungen zu formulieren, war für das junge C. die zentrale theolog. Aufgabe. Hierbei war es mit zwei großen Kulturtraditionen konfrontiert, dem Judentum und der hellenist. Kultur des Röm. Reiches. Entsprechend dem Geschichtsdenken des Judentums haben die Judenchristen die Rolle Jesu heilsgeschichtlich umschrieben: Er war für sie der (endzeitl.) Messias (= Christus) oder Menschensohn; vielleicht haben sie ihn auch schon als »Sohn Gottes« bezeichnet, damit aber nicht eine zweite Natur, sondern seine geschichtl. Nähe zu Gott gemeint. Mit der Vermittlung des C. in die hellenist. Welt fand auch das hellenistische philosoph. Denken Eingang ins C. Für die Heidenchristen war Christus derjenige, der beiden Welten angehört, der Welt des Geistes, des Wissens, der Unsterblichkeit, Gottes, und zugleich der Welt der Menschen; er ist Mensch. So kann er als Gottmensch in sich zw. Endlichkeit und Unendlichkeit vermitteln: Die Zweinaturenlehre entstand als Folge der Aneignung Jesu im hellenist. Raum. Im Verlauf der ersten nachchristl. Jahrhunderte trat das Judenchristentum in der Kirche immer stärker zurück.
Wenn die Gottessohnschaft Jesu im Sinne einer zweiten göttl. Natur aufgefasst wurde, ergab sich damit auch ein Problem für den vom Judentum und Jesus ererbten Monotheismus. Die christolog. Auseinandersetzung machte zugleich eine Diskussion der Trinität notwendig.
Der lat. Westen war an diesen Auseinandersetzungen nur wenig beteiligt. Sobald sich in diesem Raum eine eigenständige Theologie herausbildete - in Nordafrika seit etwa 200, im übrigen Westen seit Mitte des 4. Jh. -, beschäftigte sie sich mit Fragen der christl. Praxis: Wie erlangt der Mensch das Heil, da er doch ganz von der Sünde geprägt ist? Was muss der Christ tun, wie muss die Kirche aussehen? So kam es in der ausgehenden Antike zur Ausbildung der Lehre von der Erbsünde und einer Gnaden-, Prädestinations- und Sakramentenlehre.
Die Annahme des Glaubens war von Anfang an mit einer Gemeindebildung verbunden. Ebenso aber war das Bewusstsein vorhanden, einer größeren Gemeinschaft, der Kirche, zuzugehören. Der gemeindeübergreifende Charakter des C.s schuf sich im Lauf der Zeit auch institutionellen Ausdruck; es bildete sich eine Organisation der Kirche in Analogie zur polit. Struktur heraus (bischöfl. Stadtgemeinden, Metropolitansitze, Patriarchate). Seit Ende des 4. Jh. erhoben die röm. Bischöfe einen formellen Primatsanspruch über die gesamte Kirche (Primat des Papstes). Dieser Anspruch wurde allerdings im östl. C. abgelehnt; im Westen konnte er sich erst allmählich während des Früh-MA. durchsetzen. - Eine wichtige Rolle kam seit dem 3. Jh. dem Mönchtum zu.
Das C. konnte sich - wenn auch in einer oft feindlich gestimmten Umwelt - bis zur Mitte des 3. Jh. ausbreiten. Erst seit dieser Zeit kam es zu systemat. Verfolgungen durch den Staat, die der Kirche gefährlich wurden (Christenverfolgungen). Diese Epoche fand mit Beginn der Herrschaft Konstantins I., d. Gr., ihren Abschluss.Mittelalter: Im MA. verlagerte sich das Zentrum christl. Aktivitäten auf das ländlich strukturierte europ. Festland. Theologie und theolog. Lehrbildung waren nicht mehr Sache der (großen) christl. Gemeinden, sondern der Schule (lat. schola): Die entstehende Schulwissenschaft (Scholastik) wurde an Kloster- und Kathedralschulen, seit dem Hoch-MA. an den Univ. gepflegt.
Die mittelalterl. Gesellschaft bildete das Feudalsystem aus, das mit dem Zusammenwachsen zu einer unversalen Kultur in einem universalen Kaisertum und Papsttum gipfelte. Welt, Mensch, Gesellschaft und ihre Institutionen wurden zunächst sakral gedeutet. Angestoßen durch Reformbewegungen innerhalb des Mönchtums (kluniazensische Reform), versuchte die Kirche, eine gewisse Unabhängigkeit von staatl. Gewalt zu erreichen (gregorianische Reform); im Zusammenhang des Investitutstreits wurde die Frage der Autonomie beider Bereiche erstmals grundsätzlich erörtert. Hiermit war der Grund gelegt für den spätmittelalterl. Zerfall der universalen polit. Kultur: Nationalstaaten verfolgten eigene Interessen, die Ideen der Volkssouveränität und der Freiheit der Politik von der Ethik kamen auf, die Wiss.en emanzipierten sich und die Theologie verlor nach und nach ihren bisherigen Primat im universitären Wiss.betrieb.Neuzeit: Die Neuzeit brachte den prinzipiellen Durchbruch der Emanzipation des Menschen und seines Intellekts von vorgegebenen Autoritäten und kirchl. Tradition. Vollends vollzogen wurden diese Ansätze erst in den Gelehrtenzirkeln der Aufklärung und - popularisiert - in Bürgertum und Arbeiterschaft der Moderne (seit dem 19. Jh.).
Die Reformation wollte für die Rechtfertigung des Einzelnen nur noch die Autorität Gottes und Jesu Christi anerkennen und somit den Christen von der Heilsnotwendigkeit der kirchl. Zwischeninstanzen, von Amt, Tradition und Heilsangeboten der Kirche befreien; hierbei setzten die einzelnen Reformatoren verschiedene Schwerpunkte. Im Gegenzug banden sich die Katholiken - ohne die Rechtfertigung durch Jesus Christus und seine Gnade aufzugeben - fester an die überlieferten kirchl. Gegebenheiten (vollzogen im Tridentinum 1545-63). Die Neuzeit begann für das C. also mit einem Verlust seiner kirchl. Einheit; von jetzt an ist es, neben dem Morgenländischen Schisma (die auf das Jahr 1054 datierte Trennung zw. der lateinisch abendländ. [kath.] Kirche und den vier ostkirchl. Patriarchaten [Konstantinopel, Alexandria, Antiochia, Jerusalem]), in eine Fülle von Konfessionen, Kirchen u. a. aufgesplittert.
Das C. in der Moderne ist mit einem radikalen Säkularisierungsprozess konfrontiert, der sich nach Anfängen im MA. in der Aufklärung verstärkte und schließlich seit dem 19. Jh. dominierend wurde. Die Orientierung des modernen Menschen auf Gott hin wird problematisch.
Die mit der Entstehung der modernen Industriegesellschaften aufgeworfene soziale Frage wurde von den Kirchen u. a. in Form der christl. Soziallehren aufgegriffen.Gegenwärtige Lage: In der Gegenwart setzt sich das C. v. a. mit drei Problemen auseinander. Zum einen geht es um eine Überwindung des Konfessionalismus (ökumenische Bewegung). Ein weiteres Problem ist die Auseinandersetzung mit dem in der Alten und Neuen Welt verbreiteten säkularisierten Denken. Das dritte Problem stellt sich durch die Tatsache, dass eine wachsende Mehrheit der Christen in der Dritten Welt lebt. Hier steht der Dialog mit den Weltreligionen an, ebenso eine Neubesinnung auf das Verhältnis zum Judentum.
▣ Literatur:
Bultmann, R.: Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen. Zürich u. a. 41976.
⃟ Maass, F.: Was ist C.? Tübingen 31982.
⃟ Troeltsch, E.: Die Absolutheit des C.s u. die Religionsgeschichte. Lizenzausg. Gütersloh 21985.
⃟ Das frühe C. bis zum Ende der Verfolgungen. Eine Dokumentation. Auswahl u. Kommentar v. R. Klein, Übers. der Texte v. P. Guyot, 2 Bde. Darmstadt 1993-94. Nachdr. in 1 Bd. ebd. 1997.
⃟ Küng, Hans: Projekt Weltethos. Neuausg. München u. a. 21993.