Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Chemie
Chemie[ç-; aus grch. chēmeía, vgl. Alchimie], Naturwiss., die sich mit mit den chemischen Elementen, den Reaktionen der Elemente und ihrer Verbindungen, der Steuerung und Deutung dieser Prozesse und den Grunderscheinungen und Kräften der Natur beschäftigt, soweit sie Reaktionen, Prozesse usw. betreffen. Die chem. Stoffumwandlungen (chem. Reaktionen) sind Vorgänge, bei denen Atome infolge chemischer Bindungen in definierten Zahlenverhältnissen zu Atomverbänden (Moleküle, Kristalle) zusammentreten oder bei denen Atomverbände in Atome zerfallen oder zu anderen Atomverbänden umgelagert werden. Neben den chem. Reaktionen spielen Verfahren der Stofftrennung (z. B. Destillation, Extraktion, Filtration) in der C. eine große Rolle.Die allg. C. behandelt die allen Teilgebieten gemeinsamen Grundlagen, z. B. Aufbau der Atome, chem. Bindungen, Säure-Base-Theorien; sie gilt als im Wesentlichen abgeschlossen. Unter organ. C. versteht man heute die C. der Kohlenwasserstoffe und ihrer Derivate (ca. 4-6 Mio. Verbindungen). Typ. Forschungsgebiete der reinen organ. C. sind die Synthese und Strukturaufklärung von Naturstoffen und neuen Verbindungen sowie die Aufklärung von Reaktionsmechanismen und die Identifizierung der dabei auftretenden Zwischenstufen. Die anorgan. C. behandelt alle Stoffe, die nicht zu den organ. Verbindungen gehören (ca. 120 000 Verbindungen). Typ. Forschungsarbeiten beschäftigen sich mit Komplexverbindungen und deren Bedeutung für Katalyse und Biochemie sowie mit Festkörpern (Synthese, Strukturaufklärung) und deren Bedeutung als Leiterwerkstoffe, Katalysatoren, Molekularsiebe u. a. Die physikal. C. ist ein Grenzgebiet zw. C. und Physik, das die Elektrochemie einschließt. Die Biochemie behandelt chem. Probleme aus Biologie und Medizin. Die Unterscheidung zwischen der reinen und der angewandten oder techn. C. scheint heute nicht mehr sinnvoll. - Eine Gliederung ist auch nach der Aufgabenstellung möglich. Aufgaben der analyt. C. (Analytik) sind der Nachweis und die quantitative Bestimmung von chem. Elementen und Verbindungen. Die präparative oder synthet. C. beschäftigt sich mit der künstl. Herstellung chem. Stoffe. Die Lösung chem. Probleme mithilfe der Quantenmechanik (z. B. Berechnung der Bindungsverhältnisse in Molekülen) strebt die theoret. C. an. Geschichte: Die C. entstand aus der Alchimie etwa seit dem 17. Jh. Doch schon Ägypter und Babylonier besaßen chemisch-techn. Wissen, das in Ägypten im 2.-3. Jh. n. Chr. seine naturphilosoph. Deutung und Ausgestaltung erfuhr. Daneben wurden Fragen der Mischung von Elementen in den natürl. Stoffen und das Problem der »minima naturalia« (Aristoteles) behandelt, die jedoch keine chem. Erkenntnisse im heutigen Sinne erbrachten. - Die lebhafte Pflege der Alchimie durch die arab. Wiss. und im mittelalterl. Abendland führte zur Entdeckung neuer Stoffe und zu neuen chem. Geräten und Arbeitsmethoden. Eine Erweiterung des Wissens brachte die Praxis der Feuerwerkerei und des Bergbaus.Der Aufschwung, den die C. durch das revolutionäre Wirken des Paracelsus im 16. Jh. nahm, führte im 17. Jh. zur Errichtung der ersten Professur für C. (Marburg 1609) und zur Planung eines ersten chem. Laboratoriums (A. Libavius). Erst mit dem »Skept. Chemiker« von R. Boyle (1661) setzte sich das empir. und rationale Denken in der C. durch. Im 18. Jh. war die C. durch die Phlogistontheorie beherrscht. Erste bed. Versuche führten zu einer einheitl. Deutung chem. Vorgänge und brachten der Forschung neuen Auftrieb. Unter den zahlr. folgenden Entdeckungen (H. Cavendish, A. S. Marggraf, J. Black) war die wichtigste die des Sauerstoffs durch C. W. Scheele (1771) und J. Priestley (1774). - Mit A. L. de Lavoisier beginnt die eigtl. moderne quantitative C. Neue Methoden der Elementaranalyse wurden entwickelt, neue Elemente entdeckt und theoret. Vorstellungen vertieft (J. Dalton, A. Avogadro, J. L. Proust, J. Richter).Bes. markante Punkte der Entwicklung sind im 19. Jh. u. a. die Nutzung der galvan. Kräfte (H. Davy, M. Faraday), die Harnstoffsynthese (F. Wöhler, 1828), die Herstellung der ersten Anilinfarben (C.-L. von Reichenbach, F. F. Runge, O. Unverdorben, W. H. Perkin) und die Begründung der Agrikultur-C. (J. von Liebig, 1840). Im Periodensystem der Elemente (L. Meyer, D. I. Mendelejew, 1868-71) gelang es, die chem. Grundstoffe zu ordnen. Fortschritte zur Klärung der chem. Bindung brachten die Theorien von J. von Berzelius, J. von Liebig und C. Gerhardt. Innere Ordnung erfuhr die organ. C. u. a. durch A. Kekulé. Die theoret. Deutung chem. Vorgänge durch die physikal. C. machte bed. Fortschritte durch das Massenwirkungsgesetz (C. Guldberg und P. Waage, 1867) die Spektralanalyse (R. Kirchhoff und R. Bunsen, 1859) und die Osmose (W. Pfeffer, 1877). Neue Arbeitsgebiete erschlossen die Elektro-C. (S. Arrhenius, 1887) und die Kolloid-C. (T. Graham, 1854, W. Ostwald). - Bemerkenswert ist auch der Aufschwung, den in der 2. Hälfte des 19. Jh. die großtechn. Herstellung synthet. Produkte nahm (Ammoniaksynthese, Kohlehydrierung, Kunststoffindustrie). Nach den klass. Atommodellen (N. Bohr, 1913) brachte ab 1926 die Einführung der Quantenmechanik in die C. (W. Heitler und F. London) ein neues Verständnis von Atombau und chem. Bindung. Das Gesetz von der Erhaltung der Orbitalsymmetrie (R. B. Woodward, R. Hoffmann, 1965) gab der organ. C. neue Impulse.
▣ Literatur:
Dickerson, R. E. u. Geis, I.: C. - eine lebendige u. anschaul. Einführung. A. d. Engl. Neuausg. Weinheim 1990.
⃟ Holleman, A. F.: Lb. der anorgan. Chemie, fortgef. v. E. Wiberg, bearb. v. N. Wiberg. Berlin u. a. 1011995.
⃟ Brock, W. H.: Viewegs Geschichte der C. A. d. Engl. Braunschweig 1997.
⃟ Christen, H. R.: Grundlagen der allgemeinen u. anorgan. C. Frankfurt am Main 1997.
⃟ Beyer, H.: Lb. der organ. C., bearb. v. W. Walter. Stuttgart 231998.
▣ Literatur:
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