Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Charakterologie
Charakterologie[k-] die (Charakterkunde), Teilgebiet der Psychologie, das sich mit der Entwicklung, dem Aufbau und der Funktion des menschl. Charakters beschäftigt. Die Anfänge der C. gehen bis in die Antike zurück (z. B. die von Galen überlieferte Lehre der vier Temperamente). Die Grundlegung der C. von L. Klages (1910) basierte noch auf ausdruckspsycholog. Forschungen. In den 20er-Jahren versuchte sich die Psychologie mit der Typologie an den individuellen Charakter anzunähern. Die Konstitutionstypologien von E. Kretschmer (1921) und W. Sheldon (1940) ordneten Körperbau- und Temperamentstypen einander zu. Sheldon z. B. sah eine enge Verwandtschaft zw. den drei phys. Typen des Endomorphen (weich, rundlich), des Mesomorphen (muskulös, hart) und des Ektomorphen (mager, dünnhäutig) sowie den drei psych. Typen des Viszerotonikers (gutmütig, gesellig, extrovertiert), des Somatotonikers (angriffslustig, extrovertiert), des Zerebrotonikers (überempfindlich, introvertiert, nervös). C. G. Jung unterschied in seinen »Psycholog. Typen« (1921) nach innen oder nach außen gerichtete Bewusstseinseinstellungen (Charaktere), die Introvertierten und Extravertierten. An Freuds Charakterlehre und an der Existenzphilosophie orientiert, entwickelt E. Fromm seine Systematik der Charaktere: Den entfremdeten (u. a. autoritären) Charakterorientierungen setzt er die produktive Charakterorientierung entgegen. Erich Rudolf Jaensch (* 1883, ✝ 1940) entwickelte aus der Untersuchung verschiedener Formen des Wahrnehmungsverhaltens seine Integrationstypologie (nach außen und innen integrierte Typen und Projektionstypen). In den 30er-Jahren wurden bes. der Aufbau des Charakters und das Verhältnis von Anlage- und Umweltfaktoren bei der Formung des Charakters untersucht, v. a. durch Kurt Gottschaldt (* 1902), Gerhard Pfahler (* 1897, ✝ 1976) und R. Heiß. U. a. von der Psychoanalyse beeinflusst sind versch. Varianten der Schichtenlehre: E. Rothacker hob die hierarch. Funktionsbereiche der Es- und Personschicht, P. Lersch den »endothymen Grund« (Lebensgefühl, Selbstgefühl, gerichtete Gefühle) vom »personellen Oberbau« (Strebungen, Wille, Denk- und Urteilsfähigkeit) ab. A. Wellek entwarf eine an F. Krueger orientierte polare Charakterlehre, bei der sich versch. Charakterbereiche um einen »Charakterkern« (Gemüt, Gewissen) gruppieren.Die vorwiegend phänomenologisch-verstehende C. hat heute kaum mehr Einfluss. Ihre Forschungsziele wurden weitgehend von der aus dem angloamerikan. Bereich stammenden übergreifenden Persönlichkeitsforschung übernommen, die stärker versucht, die sozialen Bezüge der Persönlichkeit zu erfassen und sich vorwiegend empir. Methoden bedient.
Literatur:
Rothacker, E.: Die Schichten der Persönlichkeit. Bonn 91988.
Jaspers, K.: Psychologie der Weltanschauungen. Neuausg. München u. a. 21994.
Jung, C. G.: Psycholog. Typen. Neuausg. Solothurn 1995.
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