Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Bürgertum
Bürgertum,Gesellschaftsschicht, die die bürgerl. Gesellschaft hervorbrachte und die soziale Ordnung der europ. Staaten bes. ins 19. Jh. prägte. Bereits im MA. war das B. die führende polit. Kraft der städt. Gesellschaft. Von der Zeit des Absolutismus an entwickelten sich die Prinzipien der bürgerl. Welt- und Lebensauffassung zur Grundlage der Gesellschafts- und Staatsordnung. Schon im 19. Jh. umfasste das B. höchst unterschiedl. soziale Gruppen: das Groß-B., die Intelligenz und das Klein-B.; seit der industriellen Revolution weitgehend dem Mittelstand zugeordnet. Heute entspricht die Mittelschicht einem großen Teil des B.; seine Abgrenzung von anderen sozialen Schichten ist schwierig. Der »bürgerl. Lebensstil« (Wohnung, Kleidung, Umgangsformen, Familienleben), Standesethos, Bildungsstreben und Geisteshaltung haben trotz mannigfacher Kritik und eingreifender Umwandlungen von Besitzstruktur, Zivilisation und Kulturansprüchen im modernen Leben weiterhin Bestand und wirken als Lebensnorm und Ziel sozialen Aufstiegs fort.
Geschichte: Das B. entstand, gestützt auf Sklavenwirtschaft, zuerst in der antiken griech. Stadt. Im Röm. Reich dehnte sich die Stadt- zur Reichsbürgerschaft (Civis Romanus) aus. Im Früh-MA. bedeutete »burgus« eine nicht bäuerl. Siedlung mit Markt in Anlehnung an einen befestigten Platz. Kern dieser eigtl. neuen Wurzeln des Städtewesens waren Kaufleutegenossenschaften (Gilden). Unter ihrer Führung erkämpfte sich das europ. B. vom 11. bis 13. Jh. die kommunale Selbstverwaltung. In vielen Städten erwuchs im Spät-MA. eine eigenständige bürgerl. Kultur. Im Absolutismus entwickelte sich das B. zum Erwerbsstand und zum Träger der großen neuzeitl. Emanzipationsbewegung der Aufklärung. Der wachsende Wohlstand ermöglichte die Auflehnung des B. gegen die Vorrechte des Adels in der Frz. Revolution, die das klass. Zeitalter des B. einleitete. Der Begriff des B. wurde vom Stadt- auf das Staatsbürgertum (citoyen) ausgeweitet. Im 19. Jh. scheiterte das B. als Träger von »Besitz und Bildung« oft mit seinen verfassungspolit. Ansprüchen (z. B. 1848/49), schuf aber auf dem Wege vielfältiger Unternehmerinitiativen die Grundlagen der europ. Industrialisierung. Die von K. Marx erwartete Proletarisierung des Klein-B. durch das Groß-B. (Bourgeoisie) trat nicht ein. Das B. bestimmte trotz aller strukturellen Veränderungen im Übergang zum demokrat. Reg.system (zuerst in W-Europa) die gesellschaftl. Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert.
Literatur:
Fehrenbach, E.: Adel u. B. im dt. Vormärz. München 1994.
B. im 19. Jh. Deutschland im europ. Vergleich, hg. v. J. Kocka, 3 Bde. Göttingen 1995.
Sternberger, D.: »Ich wünschte ein Bürger zu sein«. Neun Versuche über den Staat. Frankfurt am Main 1995.
Dülmen, R. van: Die Gesellschaft der Aufklärer. Zur bürgerl. Emanzipation u. aufklärerischen Kultur in Deutschland. Neuausg. Frankfurt am Main u. a. 1996.
Linke, A.: Sprachkultur u. B. Zur Mentalitätsgeschichte des 19. Jh.s. Stuttgart u. a. 1996.
Staat u. B. im 18. u. frühen 19. Jh. Studien zu Frankreich, Deutschland u. Österreich, hg. v. H. Reinalter u. K. Gerlach. Frankfurt am Main u. a. 1996.
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