Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Bulgarien
Bulgari|en Fläche: 110 912 km2
Einwohner: (1997) 8,43 Mio.
Hauptstadt: Sofia
Verwaltungsgliederung: 9 Regionen
Amtssprache: Bulgarisch
Nationalfeiertag: 3. 3.
Währung: 1 Lew (Lw) = 100 Stotinki (St)
Zeitzone: MEZ + 1 Std.
(amtlich bulgar. Republika Bălgarija), Staat in Südosteuropa, umfasst einen Teil der östl. Balkanhalbinsel südlich der Donau, grenzt im N an Rumänien, im O an das Schwarze Meer, im SO an die Türkei, im S an Griechenland, im W an Makedonien und Serbien.
Staat und Recht: Nach der Verf. vom 12. 7. 1991 ist B. eine parlamentar. Republik mit Mehrparteiensystem. Staatsoberhaupt und Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist der Präs. (für fünf Jahre direkt gewählt). Er verfügt über ein aufschiebendes Vetorecht gegenüber vom Parlament angenommenen Gesetzen. Die Exekutive liegt bei der Reg. unter Vorsitz des MinPräs., die dem Parlament verantwortlich ist. Oberstes Legislativorgan ist die Volksversammlung (240 Abg., für vier Jahre gewählt). Einflussreichste Parteien und Bewegungen sind die aus 16 Parteien bestehende Union der Demokrat. Kräfte (UDK; seit 1991 in drei Fraktionen gespalten), die Bulgar. Sozialist. Partei (BSP; 1990 durch Umbenennung der Bulgar. Kommunist. Partei entstanden) und die Bewegung für Rechte und Freiheiten (der türk. und muslim. Bev.; DPS). Ein ernst zu nehmender Faktor im Prozess der demokrat. Umgestaltung ist die 1990 gegr. unabhängige Gewerkschaft Podkrepa.
Landesnatur: B. wird von W nach O vom Balkan (höchste Erhebung: Botew, 2 376 m ü. M.) durchzogen, der nach N allmählich als Tafelland mit Vorbalkan und Donauhügelland zur Donau und Dobrudscha abfällt, nach S steil zur Maritzaebene. Im SW und S erhebt sich die Thrak. Masse, die sich in mehrere Gebirge gliedert: Rila- (höchste Erhebung: Mussala, 2 925 m ü. M.), Pirin- und Rhodopegebirge. Die Küste im O ist steil und nur durch wenige Flussmündungsbuchten gegliedert. Hauptflüsse sind Donau, Maritza, Struma und Isker. - B. liegt im Übergangsbereich vom Mittelmeerklima (im S) zum osteurop. Kontinentalklima (im N); die Sommer sind heiß und trocken, die Winter kalt oder kühlregnerisch. Ein milderes Klima herrscht an der Schwarzmeerküste.
Bevölkerung: Sie besteht aus Bulgaren (85,8 %), daneben Türken (9,7 %), Roma (3,4 %) und 1,1 % Angehörige sonstiger Minderheiten (Makedonier, Rumänen, Armenier u. a.). - Größte Städte sind Sofia, Plowdiw, Warna, Burgas, Russe, Stara Sagora und Plewen; die Mehrheit der Bev. (70 %) lebt in Städten. - Allg. Schulpflicht besteht vom 6. bis 16. Lebensjahr; Univ. gibt es in Sofia (gegr. 1888), Weliko Tarnowo (gegr. 1971) und Plowdiw (gegr. 1972). - Die Mehrzahl der Bev. sind orth. Christen (70 % gehören zur bulgarisch-orth. Kirche), die Übrigen sind v. a. Muslime (etwa 13 %).
Wirtschaft, Verkehr: Nach dem Scheitern der sozialist. Planwirtschaft durchlebt B. eine schwere wirtsch. Krise mit starker Rezession; ein Umstrukturierungsprozess ist im Gange. Hauptzweige sind Ind. und Landwirtschaft; eine Rolle spielt auch der Tourismus (bes. Thermalbäder und Seebäder an der Schwarzmeerküste). Eine geringere Bedeutung hat der Bergbau (Braunkohle, Eisen-, Blei-, Zink-, Kupfer-, Silbererze); Erdöl und Erdgas werden im N und an der Schwarzmeerküste gefördert. Die Energieversorgung erfolgt durch Wärme- und Wasserkraftwerke. Wichtigste Ind.zweige sind Maschinenbau und Metallverarbeitung, ferner elektron./elektrotechn., chem. und Textilind.; stärker ausgebaut werden Nahrungs- und Genussmittelind. Eine Rolle spielen auch Glas- und Keramikind. sowie die Holzverarbeitung (Waldbestand auf 35 % der Landesfläche). Die Landwirtschaft hat immer noch eine große Bedeutung; 6,16 Mio. ha werden landwirtschaftlich genutzt, v. a. durch Ackerbau. Groß ist der Anteil an Sonderkulturen, u. a. Sonnenblumen, Baumwolle, Tomaten, Paprika, Reis, Wein, Tabak, Lavendel sowie Rosen (Gewinnung von Rosenöl) im Tal bei Kasanlak. Viehzucht wird v. a. im Gebirge betrieben. - Exportiert werden v. a. Agrarerzeugnisse, Nichteisenmetalle, Leder- und Textilwaren. - B. hat ein gut ausgebautes Verkehrsnetz: Die Streckenlänge der Eisenbahnen beträgt (1996) 4 293 km (2 655 km elektrifiziert), das Straßennetz ist 37 300 km lang, davon sind 277 km Autobahnen; die Binnenschifffahrt beschränkt sich auf die Donau; wichtigste Seehäfen sind Warna und Burgas; internat. Flughäfen bestehen in Sofia, Plowdiw, Warna und Burgas.
Geschichte: Die Thraker als erstes historisch fassbares Volk auf dem Gebiet von B. wurden z. T. von den Illyrern verdrängt, im 5. Jh. v. Chr. in das Makedon. Reich einbezogen; im 2. Jh. unter röm. Herrschaft. 681 n. Chr. musste das Byzantin. Reich die Gründung des 1. Bulgar. Reiches unter Khan Asparuch (Isperich) anerkennen (Annahme des orth. Christentums 864 unter Boris I. und Einführung der kyrill. Schrift). Nach 927 zerfiel das Reich; B. wurde Byzanz einverleibt (1014). Das 2. Bulgar. Reich entstand nach 1185; es wurde zeitweise führende Balkanmacht (Hauptstadt: Tarnowo). 1330 geriet B. unter serb. Einfluss; es löste sich in Teilreiche auf und wurde 1393 Teil des Osman. Reiches.
Blutig niedergeschlagene Aufstände bewaffneter bulgar. Freischärler führten zum Russisch-Türk. Krieg von 1877/78, der mit dem Frieden von San Stefano und dem Berliner Kongress (1878) die türk. Fremdherrschaft beendete; es entstand ein dem Sultan tributpflichtiges Fürstentum B.; Süd-B. verblieb als autonome Provinz Ostrumelien beim Osman. Reich. Dem 1887 zum Fürsten gewählten Ferdinand von Sachsen-Coburg und Gotha gelang es 1908, die formelle Unabhängigkeit B.s (als Königreich) durchzusetzen und sich zum Zaren krönen zu lassen. Unter russ. Einfluss schloss sich B. im Frühjahr 1912 mit Serbien, Griechenland und Montenegro zum Balkanbund zusammen. Im 2. Balkankrieg (1913) verlor B. große Teile der im 1. Balkankrieg (1912/13) gewonnenen Territorien, zusätzlich die südl. Dobrudscha an Rumänien. Im Ersten Weltkrieg schloss sich B. 1915 den Mittelmächten an und besetzte die von ihm beanspruchten Gebiete (v. a. die südl. Dobrudscha), die ihm 1919 (Frieden von Neuilly-sur-Seine) jedoch wieder genommen wurden. Die agrarreformer. Reg. Stamboliski (Aufhebung des Großgrundbesitzes) wurde 1923 durch einen Offiziersputsch gestürzt. Nach einem Militärputsch 1934 kam es zur Auflösung der polit. Parteien. Seit 1935 regierte Boris III. autoritär durch persönlich Beauftragte. 1940 (2. Wiener Schiedsspruch) erwirkte B. die Rückgabe der südl. Dobrudscha von Rumänien; 1941 schloss sich B. dem Dreimächtepakt an und wurde von dt. Truppen besetzt. Im Sept. 1944 marschierte die Rote Armee in B. ein, das nach einem Putsch der Vaterländ. Front am 28. 10. in den Krieg gegen Deutschland eintrat. In den Wahlen von 1945 erhielt die Vaterländ. Front, in der die Kommunisten die Oberhand gewonnen hatten, 88,2 % der Stimmen. 1946 wurde die »Volksrep. B.« ausgerufen.1948 erfolgte die Vereinigung der Bulgar. KP mit der Bulgar. Sozialdemokrat. Partei. Nach der Regierung K. Georgiew (1944-46), unter der eine Bodenreform durchgeführt wurde, leiteten G. Dimitrow (1946-49), W. Kolarow (1949-50) und W. Tscherwenkow (1950-56) die Regierung. Letzterer wurde als Vertreter des Personenkults (u. a. Schauprozess und Hinrichtung T. Kostows) im Zuge der Entstalinisierung von A. Jugow (1956-62) abgelöst, der aus ähnl. Gründen seine Ämter an T. Schiwkow (1962) verlor. B. arbeitete eng mit der Sowjetunion zusammen. In den 1970er-Jahren verbesserte B. zwar seine Beziehungen zu Jugoslawien, in der makedon. Frage gab es jedoch weiterhin tief greifende Meinungsverschiedenheiten. Wegen der Behandlung der türk. Minderheit (Bulgarotürken; etwa 1 Mio.) kam es zum Zerwürfnis mit der Türkei. 1981 wurden in sog. »Bulgarisierungskampagnen« den bulgar. Türken bulgar. Namen aufgezwungen; diese Zwangsbulgarisierung löste ab Mai 1989 schwere Unruhen aus, Hunderttausende Bulgarotürken flohen in die Türkei.Im Zuge der revolutionären Veränderungen in Osteuropa trat im Nov. 1989 der Vors. des Staatsrats und der Bulgar. Kommunist. Partei (BKP), T. Schiwkow, zurück. Sein Nachfolger, P. Mladenow, leitete eine Demokratisierung ein. Im Jan. 1990 verzichtete die BKP auf ihr Führungsmonopol und ermöglichte damit nach der Verfassungsänderung die Bildung von Parteien. Im April 1990 verabschiedete das Parlament ein Wahl- und Parteiengesetz. Die Wahlen im Juni 1990 gewann die aus der BKP hervorgegangene BSP unter Vorsitz des bisherigen Reg.chefs A. Lukanow. Nach dem Rücktritt von P. Mladenow wurde am 1. 8. 1990 der Vertreter der oppositionellen UDK, S. Schelew, Staatspräs. (Jan. 1992 in Direktwahl bestätigt). Im Nov. 1990 (nach Generalstreik und landesweiten Straßendemonstrationen) trat MinPräs. Lukanow zurück; im Dez. 1990 kam es zur Bildung einer Koalitionsreg. von UDK und BSP unter dem parteilosen D. Popow. Nach dem Sieg in den Parlamentswahlen vom Okt. 1991 übernahm die UDK unter ihrem Vors. P. Dimitrow die Bildung der Regierung, die die Reformpolitik v. a. in der Wirtschaft trotz sozialer Härten entschieden fortsetzte, jedoch Ende Okt. 1992 aufgrund eines parlamentar. Misstrauensvotums zurücktreten musste. Im Frühjahr/Sommer 1992 kam es zu einer neuen Massenauswanderung von Bulgarotürken. Die folgenden Regierungen unter den MinPräs. L. Berow (Dez. 1992 bis Sept. 1994) und Renata Indschona (Sept. 1994 bis Jan. 1995) konnten die mit den gesellschaftl. Veränderungen einhergehenden gesellschaftl. Ziele (bes. die Privatisierung von Produktionsmitteln) sowie die wirtsch. und sozialen Probleme (Inflation, Arbeitslosigkeit) nicht lösen. Bei vorgezogenen Wahlen im Dez. 1994 gewannen die Sozialisten die absolute Mehrheit und stellten mit ihrem Vors. S. Widenow seit Jan. 1995 den MinPräs. Bei den Präsidentschaftswahlen im Okt. 1996 wählte die Bev. P. Stojanow (UDK) zum Nachfolger des bisherigen Amtsinhabers Schelew. Die wirtsch. und soziale Lage des Landes spitzte sich im Winter 1996/97 dramatisch zu, nachdem Hungersnöte ausgebrochen waren und es in deren Folge zu inneren Unruhen gekommen war (Erstürmung des Parlaments in Sofia im Febr. 1997). Aus vorgezogenen Parlamentswahlen (April 1997) gingen die bürgerl.-liberalen »Vereinigten Demokrat. Kräfte« (ODS) als Sieger hervor, MinPräs. wurde I. Kostow.Mit der Auflösung des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und des Warschauer Paktes 1991 erlosch auch formal die Mitgliedschaft B.s in diesen Organisationen. Im Hinblick auf eine neue außenpolit. Orientierung suchte B. die alten Bindungen v. a. an Russland zu wahren (Abschluss von Handels- und Freundschaftsverträgen, 1992), neue regionale Beziehungen anzuknüpfen (diplomat. Anerkennung der Rep. Makedonien, Abkommen mit der Türkei, 1992) und die wirtsch. und polit. Beziehungen zu den Demokratien des Westens auf eine neue Grundlage zu stellen (Assoziationsvertrag mit der EG, 1993; Unterzeichnung des NATO-Programms »Partnerschaft für den Frieden«, 1994).
Literatur:
Chr. Christow. Seiten aus der bulgar. Gesch. Ein Beitrag über die islamisierten Bulgaren u. den Prozeß des wiederauflebenden Nationalbewußtseins. Redaktion:Sofia 1989.
Gjuzelev, V.: B. zwischen Orient u. Okzident. Die Grundlagen seiner geistigen Kultur vom 13. bis zum 15. Jh. A. d. Bulgar. Wien u. a. 1993.
Wege zur Privatisierung in B., hg. v. H. Roggemann u. E. Konstatinov. Berlin u. a. 1994.
B. vom Ende des Parteikommunismus zu den Anfängen der Regierung Widenow (1989-1995), zsgest. u. bearb. v. M. Coenen. St. Augustin 1995.
Engelbrecht, E. u. R.: B.-Handbuch. Bielefeld 1995.
Kostadinova, N.: B. München 1995.
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