Meyers Großes Taschenlexikon in 25 Bänden
Belgien
Bẹlgien Fläche: 30 519 km2
Einwohner: (1997) 10,19 Mio.
Hauptstadt: Brüssel
Verwaltungsgliederung: 10 Provinzen und die Region Brüssel
Amtssprachen: Französisch, Niederländisch und Deutsch
Nationalfeiertag: 21. 7.
Währung: 1 Belg. Franc (bfr) = 100 Centimes (c)
Zeitzone: MEZ
(amtl. frz. Royaume de Belgique, niederländ. Koninkrijk België, dt. Königreich B.), konstitutionelle Monarchie in W-Europa, grenzt im NW an die Nordsee, im N an die Niederlande, im O an Deutschland, im SO an Luxemburg, im S und W an Frankreich.
Staat und Recht: Nach der Verf. vom 7. 2. 1831 (mehrfach geändert) ist B. eine konstitutionelle Monarchie, erblich im Hause Sachsen-Coburg (seit Juni 1991 auch weibl. Thronfolge möglich). Staatsoberhaupt ist der König. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, ernennt die Mitgl. des Kabinetts und hat formal absolutes Vetorecht. Die Reg. unter Vorsitz des Premiermin. ist dem Zweikammerparlament, bestehend aus Senat (181 Mitgl.) und Abgeordnetenhaus (212 Abg.), jeweils auf vier Jahre gewählt, verantwortlich. Das Parteiensystem ist neben den polit. Gegensätzen vom Sprachkonflikt zw. Flamen und Wallonen geprägt. Die urspr. fläm. und wallon. Flügel der großen Parteien wurden zu selbstständigen Parteien: Bei den Christdemokraten die Christl. Volkspartei (CVP) und die Christlich-Soziale Partei (PSC), bei den Sozialisten die fläm. Sozialist. Partei (SP) und die frankophone Sozialist. Partei (PS), bei den Liberalen die Partei für Freiheit und Fortschritt (PVV) und die Partei für die Reformen und die Freiheit Walloniens (PRLW). Daneben gewinnen zunehmend rechtsextreme Parteien wie Vlaams Blok und Nat. Front an Bedeutung. Seit dem Föderalisierungs-Ges. von 1980 ist B. ein Bundesstaat; er ist gegliedert in drei Regionen (Flandern, Wallonien, Brüssel), drei Gemeinschaften (die flämisch-, die frz.- und die deutschsprachige) sowie vier Sprachgebiete (das niederländ., das frz., das dt. und das zweisprachige Brüsseler Gebiet). Die Gemeinschaften und Regionen verfügen über eigene legislative und exekutive Körperschaften.
Landesnatur: Drei Großlandschaften prägen B.: Hinter der rd. 65 km langen Nordseeküste erstreckt sich das flandr. Tiefland (Nieder-B.); hier folgt landeinwärts einem bis 30 m hohen Dünenzug ein schmaler Marschensaum und die von Sanden oder Löss bedeckte Geest, ein welliges bis hügeliges Gelände. In Mittel-B. schließen sich die von der Schelde und ihren Nebenflüssen entwässerten Lösslehmplatten an (Brabant, Haspengau, Hennegau). Das Gebiet südlich von Sambre und Maas (Hoch-B.) wird von den Ardennen (höchste Erhebung: Botrange mit 694 m) und ihrem Vorland eingenommen. Steile Schichtstufen leiten am S-Rand der Ardennen zum Pariser Becken über. Das Klima ist ozeanisch: wintermild, sommerkühl und feucht; im NO (Kempenland) machen sich kontinentale Züge bemerkbar.
Bevölkerung: Sie lebt zu rd. 58 % im fläm. (Niederländisch sprechenden) Norden, zu rd. 33 % im wallon. (Frz. sprechenden) Süden. Die Sprachgrenze verläuft knapp südlich der Städtelinie Kortrijk-Ronse-Halle-Brüssel-Löwen-Tongern. Auf die dt.sprachige Bev., die im Gebiet von Eupen und Sankt Vith wohnt, entfällt ein Anteil von 0,7 % der Gesamtbevölkerung. Die Region Brüssel mit rd. 10 % der Ew. ist eine zweisprachige Insel im niederländ. Sprachgebiet. Die Bev.dichte ist in den Ardennen dünn, im Maastal und in Flandern hoch. Rd. 90 % der Bev. sind Katholiken, 50 000 Protestanten und 35 000 Juden. - Allg. Schulpflicht besteht vom 6. bis 16. Lebensjahr. Schulen werden von den Gemeinden und bes. der kath. Kirche unter Staatsaufsicht unterhalten. Es besteht freie Wahl zw. drei gleichrangigen Hochschultypen: sechs Staats-Univ., acht konfessionellen kath. Univ. und vier »laizist.« Freien Univ. mit staatl. Beteiligung. Diplome werden allerdings nur im selben Sprachgebiet bzw. bei gleichsprachigen Institutionen (z. B. Brüssel) anerkannt.
Wirtschaft, Verkehr: Wichtigster Wirtschaftszweig ist die verarbeitende, stark exportorientierte Ind., die bes. in den dicht bevölkerten fläm. Landesteilen im N konzentriert ist: Eisen- und Stahlind., Metall verarbeitende, feinmechan., opt., elektrotechn. Ind., Maschinen- und Fahrzeugbau, Glas-, Textil-, chem., petrochem., pharmazeut., Baustoff-, Papier-, Schuh-, Nahrungsmittel- und Genussmittelind., Diamantschleifereien. Einziger bedeutsamer Rohstoff ist Kohle. Sie war die Grundlage der wallon. Ind.gebiete, die sich von Lüttich über Charleroi bis zur frz. Grenze hinziehen. Seit Mitte der 1970er-Jahre wurde die wallon. Wirtschaft durch die Schließung von Steinkohlebergwerken sehr geschwächt und verlor gegenüber der aufstrebenden Wirtschaft Flanderns (v. a. Raum Antwerpen) an Bedeutung. - Die in ihren Hektarerträgen hoch entwickelte Landwirtschaft deckt rd. 60 % des Nahrungsmittelbedarfs des Landes, beschäftigt aber weniger als 3 % der Erwerbstätigen und erbringt rd. 2 % des Bruttoinlandsprodukts. Angebaut werden Getreide (v. a. Weizen und Braugerste), Kartoffeln, Futter- und Zuckerrüben, Flachs und Gemüse, außerdem bestehen Obstkulturen sowie Rinder- und Schweinezucht. - Hauptausfuhrgüter sind Eisen- und Stahlwaren, Maschinen, Textilien, chem. Erzeugnisse, Nahrungs- und Genussmittel, wichtige Einfuhrgüter sind Maschinen, Transportmittel, chem. Erzeugnisse, industrielle Rohstoffe, Erdöl und Erdölprodukte. - Haupthandelspartner sind die Niederlande, Deutschland, Frankreich, Großbritannien und die USA. B. gehört zu den Benelux-Ländern. - Das Verkehrsnetz ist eines der dichtesten der Erde (1995: 3 396 km Eisenbahnstrecken, 1 665 km Autobahnen, 12 737 km Staatsstraßen, 1 569 km Binnenwasserwege). Größter Seehafen ist Antwerpen; weitere bestehen in Zeebrugge (Seebrügge), Ostende und Gent. Internat. Flughäfen haben Brüssel, Antwerpen, Lüttich, Charleroi, Ostende. Nat. Fluggesellschaft: SABENA.
Geschichte: Der Name B. geht zurück auf die Bez. der röm. Provinz (Gallia) Belgica, in der die keltisch-german. Belgen siedelten (57-51 v. Chr. von Cäsar unterworfen). Zur Zeit der Völkerwanderung drangen fränk. Gruppen (v. a. salische Franken) in den N ein. Seit dem 5. Jh. Teil des Fränk. Reichs, fielen die Gebiete des heutigen B. (bis auf Flandern) 880/925 an das Ostfränk. Reich, ab 1384 nach und nach an das Herzogtum Burgund und mit diesem 1477 an die Habsburger (1556 an deren span. Linie). Nachdem die nördl. Niederlande 1648 ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, verblieb der südl. Teil, das spätere B., bei Spanien und kam nach dem Span. Erbfolgekrieg (1701-13/14) an die österr. Habsburger. Nach kurzzeitiger Unabhängigkeitserklärung der »Vereinigten Belg. Staaten« (1790) wurde das Gebiet 1794 von Frankreich besetzt. Der Wiener Kongress bildete 1815 aus den nördl. und südl. Niederlanden das Königreich der Vereinigten Niederlande. Der tiefe Gegensatz der beiden Landesteile führte 1830 in Brüssel zur »Septemberrevolution« (Unabhängigkeitserklärung B.s am 4. 10. 1830); 1831 wurde Prinz Leopold von Sachsen-Coburg zum König der Belgier gewählt. Die Londoner Konferenz der europ. Großmächte legte am 6. 10. 1831 die Trennung B.s und der Niederlande und die Neutralität B.s fest. Im Londoner Vertrag vom 19. 4. 1839 erkannten auch die Niederlande die Unabhängigkeit B.s an. König Leopold I. (1831-65) gewann trotz der parlamentar. Regierungsform starken Einfluss. Der ab Mitte des 19. Jh. aufbrechende Gegensatz zw. Wallonen und Flamen (sog. Sprachenstreit) entwickelte sich zunehmend zu einem innenpolit. Grundproblem. Die Flämische Bewegung widersetzte sich der Vorherrschaft der frz. Sprache und Kultur und erreichte die Anerkennung des Flämischen als zweite Schul-, Amts- und Gerichtssprache (Gesetze von 1873, 1878 und 1888). Der 1881-85 von Leopold II. (1865-1909) als fakt. Privatbesitz erworbene Kongostaat wurde 1908 vom belg. Staat als Kolonie übernommen.Im Ersten Weltkrieg wurde B. unter Bruch seiner Neutralität mit Ausnahme eines kleinen Teils von Flandern 1914-18 von Dtl. besetzt (Verw. durch dt. Generalgouverneure). Mit dem Vertrag von Versailles erhielt B. die preuß. Kreise Eupen, Malmedy und St. Vith und das Mandat des Völkerbundes über die ehem. dt.-ostafrikan. Gebiete Ruanda und Urundi; seine Neutralität wurde aufgehoben. B. schloss sich danach eng an Frankreich an (1919 Verteidigungsbündnis). Nach Einführung des allg. Wahlrechts verloren 1919 die Klerikalen ihre bisherige Parlamentsmehrheit; sie regierten fortan mit den Liberalen, zeitweise auch mit den Sozialisten. 1922 wurde die belgisch-luxemburg. Währungs- und Wirtschaftsunion abgeschlossen, der flämisch-wallon. Gegensatz durch Sprachengesetz gemildert (1932-38). Auf den tödlich verunglückten Albert I. (1909-34) folgte Leopold III., der 1936 das Bündnis mit Frankreich löste. Im Zweiten Weltkrieg wurde B. erneut von dt. Truppen besetzt (1940-44). Die faschist. Rexbewegung unter L. Degrelle arbeitete eng mit der dt. Militärverw. zusammen. Während sich die Reg. unter H. Pierlot ins Exil nach London begab, blieb Leopold III. als Kriegsgefangener in Belgien; er musste 1951 endgültig zugunsten seines Sohnes Baudouin I. abdanken. Nach dem Zweiten Weltkrieg schloss B. eine Zoll- und Währungsunion mit Luxemburg und den Niederlanden, trat 1948 dem Brüsseler Vertrag und 1949 der NATO bei; es war Gründungsmitgl. der Montanunion, der EWG und von EURATOM. 1960 entließ B. seine Kolonie Belgisch-Kongo in die Unabhängigkeit (heute Demokrat. Rep. Kongo), 1962 folgten Ruanda (als Rwanda) und Urundi (als Burundi). Seit Beginn der 60er-Jahre stand das innenpolit. Leben ganz im Zeichen des Sprachenstreits; er dominierte die Probleme der Reg.-Bildung und verknüpfte sich oft mit ökonom. und sozialen Fragen. Vor diesem Hintergrund konnten die sprachlich orientierten Parteien, v. a. die fläm. »Volksunie« (gegr. 1954) und das wallon. »Rassemblement Wallon« (gegr. 1968; mit dem »Rassemblement Populaire Wallon« und der »Front Indépendantiste Wallon« 1985 zur Parti Wallon zusammengeschlossen), eine wachsende Bedeutung erlangen. Es kam darüber hinaus zur Trennung der großen Parteien in selbstständige fläm. und wallon. Organisationen. Von der gesetzl. Festlegung der Sprachgrenze zw. dem Niederländischen und Französischen (1962) über die Regionalisierung (1970) und Föderalisierung (1980) führte der Umbau des urspr. unitarischen belg. Staates bis zur endgültigen Umwandlung in einen Bundesstaat durch die Verf.-Reformen von 1988 und 1993. Nach 1945 wurde B. von wechselnden Koalitionskabinetten regiert, deren MinPräs. meist die Christdemokraten (Christliche Volkspartei) stellten: u. a. G. Eyskens (1949-50, 1958-61, 1968-72), Th. Lefèvre (1961-65), L. Tindemans (1974-78), W. Martens (1979-92 [mit Unterbrechung 1981]), J.-L. Dehaene (seit 1992). Die Unzufriedenheit der Bev. mit der christlich-sozialist. Reg.-Koalition (seit 1988) ließ bei den Wahlen seit 1991 den rechtsextremen Vlaams Blok (gegr. 1979) erstarken, aber auch die Grünen wurden zu einer wichtigen polit. Kraft; dennoch konnten die Christdemokraten und die Sozialisten bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Mai 1995 wieder die absolute Mehrheit erringen und setzten ihre Reg.-Koalition unter MinPräs. Dehaene fort.
Nach dem Tode König Baudouins am 31. 7. 1993 bestieg sein jüngerer Bruder als Albert II. den Thron.In den 1990er-Jahren wurde B. immer wieder von innenpolit. Krisen erschüttert, so von der bis in höchste polit. Kreise reichenden Bestechungsaffäre des italien. Agusta-Konzerns (»Agusta-Affäre«, daraufhin 1994/95 Amtsniederlegung mehrerer sozialist. Min. und 1995 Rücktritt des belg. NATO-Generalsekretärs W. Claes, der im Dez. 1998 wegen Korruption verurteilt wurde), außerdem von mehreren Justiz- und Polizeiskandalen (u. a. »Dutrouxaffäre« 1996-98), die heftige Bev.-Proteste (»Weißer Marsch« im Okt. 1996), mehrere Ministerrücktritte (1998) und die Vereinbarung einer Reform des Polizei- und Justizapparates nach sich zogen.
Literatur:
Cossart, A. von: B., Königreich. Eine Landesgeschichte in 12 Epochen. Berlin 1985.
Erbe, M.: B., Niederlande, Luxemburg. Gesch. des niederländ. Raumes. Stuttgart u. a. 1993.
B., Luxemburg. Fotografien M. Thomas, Text M. Neumann-Adrian. München 1996.
Hoffmann, E.: Grundzüge des belg. Handels-, Gesellschafts- u. Wirtschaftsrechts. München u. a. 1996.
Mörsdorf, R.: Das belg. Bundesstaatsmodell im Vergleich zum dt. Bundesstaat des Grundgesetzes. Frankfurt am Main u. a. 1996.
Weidemann, S.: Flandern. Antwerpen, Brügge, Gent. Reiseführer mit Insider-Tips. Ostfildern 31996.
Benelux-Ploetz, bearb. v. C. Wirz u. U. Laule. Freiburg im Breisgau 1997.
Les partis politiques en Belgique, hg. v. P. Delwit u. a. Brüssel 21997.
Busekist, A. von: La Belgique. Politiques des langues et construction de l`État de 1780 à nos jours. Paris 1998.
Nationalism in Belgium. Shifting identities, 1780-1995, hg. v. K. Deprez u. a. Basingstoke 1998.
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